Schach auf Leben und Tod
Aus: SANGHARAKSHITA: Sehen, wie die Dinge sind, ISBN 3-929447-02-9


Ein junger Mann in Japan war einst ein großer Verschwender. Als er sein ganzes Geld verprasst und sich ausgiebig vergnügt hatte, ergriff ihn tiefer Ekel - alles widerte ihn an, er selbst eingeschlossen. In dieser Stimmung sah er nur noch eine Möglichkeit: in ein Zen-Kloster einzutreten und Mönch zu werden. Das schien ihm der letzte Ausweg zu sein. Nicht, dass er wirklich Mönch werden wollte. Nein, ihm blieb einfach nichts anderes übrig. Also machte er sich auf den Weg zu einem Zen-Kloster.

Vermutlich kniete er die üblichen drei Tage lang draußen vor der Tür im Schnee, wie es Bewerber dort bekanntlich tun müssen. Endlich fand sich der Abt bereit, ihn zu empfangen. Dieser Abt war ein grimmiger alter Mann. Er hörte sich an, was der junge Mann zu sagen hatte und sprach selbst nicht viel. Als jener ihm alles erzählt hatte, sagte er: „Hmm, nun ja ... gibt es irgend etwas, das du gut kannst?" Der junge Mann dachte nach und antwortete schließlich: „Ja, ich kann so leidlich Schach spielen." Darauf rief der Abt seinen Gehilfen und beauftragte ihn, einen gewissen Mönch zu rufen.

Der Mönch kam. Ein alter Mann, und schon seit vielen Jahren Mönch. Der Abt sprach zu seinem Gehilfen: „Hole mein Schwert!" Das Schwert wurde hereingebracht und vor den Abt gelegt. Nun wandte sich der Abt an den jungen Mann und den alten Mönch: „Ihr beiden spielt jetzt Schach. Den Verlierer werde ich mit diesem Schwert enthaupten!" Sie blickten ihn an und sahen, daß es ihm ernst war. Also tat der junge Mann seinen ersten Zug. Der alte Mönch - auch kein schlechter Spieler - tat seinen. Der junge Mann zog wieder. Der Alte zog. Nach einer Weile spürte der junge Mann den Schweiß seinen Rücken hinabrinnen und auf seine Fersen tröpfeln. Er konzentrierte sich noch mehr, steckte sein ganzes Können in das Spiel. Es gelang ihm, den Angriff des alten Mönchs zurückzuschlagen. Erleichtert atmete er auf: „Ah, das Spiel läuft nicht schlecht", dachte er bei sich. Doch gerade da - er war nun seines Sieges sicher - schaute er auf und blickte in das Gesicht des Mönchs. Wie bereits erwähnt: Der war alt und schon seit vielen Jahren Mönch - vielleicht seit zwanzig, dreißig oder auch vierzig Jahren. Er hatte viel gelitten und sich schwere Kasteiungen auferlegt. Und er hatte sehr viel meditiert. Sein Gesicht war schmal, zerfurcht und asketisch.

Da dachte der junge Mann plötzlich: „Ich bin ein Taugenichts gewesen! Mein Leben nutzt doch niemandem etwas. Dieser Mönch aber hat ein wertvolles Leben geführt, und jetzt muss er sterben ..." Eine große Woge des Erbarmens durchströmte ihn. Der alte Mönch tat ihm unendlich leid, wie er da saß und aus Gehorsam zum Abt ein Spiel spielte, das er verlieren würde und sein Leben dazu. Das Herz des jungen Mannes floss über vor Mitgefühl, und er dachte: „Das darf ich nicht zulassen." Also tat er absichtlich einen falschen Zug. Der Mönch tat seinen Zug. Wieder machte der junge Mann einen Fehler, und bald wurde klar, dass er verlieren würde und seine Position nicht zurückgewinnen konnte. Da warf der Abt plötzlich das Spielfeld um und sagte: „Niemand hat gewonnen, niemand hat verloren." Zum jungen Mann sprach er; „Du hast heute zwei Dinge gelernt: Konzentration und Erbarmen. Und weil du Erbarmen gelernt hast, ... bist du angenommen!"


Zwar hatte der junge Mann ein unwürdiges, verschwenderisches Leben geführt, weil er aber mitfühlen konnte, gab es Hoffnung für ihn. Ja, er war sogar bereit, eher das eigene Leben hinzugeben als den Mönch das seine opfern zu lassen - so großes Erbarmen lag im tiefsten Herzen dieses anscheinend so wertlosen Menschen. Das alles erkannte der Abt. Er dachte: „Aus dem wird einmal ein Bodhisattva werden", und er handelte entsprechend.
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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.