Unterm Rosenapfelbaum
erzählt von Horst Gunkel
(c) Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2015-02-01


 
Prinz Siddharta war zu einem intelligenten und ernsthaften Kind von neun Jahren herangewachsen. Seit einiger Zeit besuchte er die Schule. Natürlich dürfen wir uns keine Schule in der heutigen Form darunter vorstellen, es gab vielmehr Hauslehrer, die in den Palast kamen und Siddharta und andere Prinzen der Sakya-Dynastie sowie einige weitere Kinder von hohen Hofbeamten unterrichteten. Die Lehrer waren sehr beeindruckt von der raschen  Auffassungsgabe und dem scharfen Verstand des jungen Siddharta. Der zweitbeste Schüler der kleinen Lerngemeinschaft war übrigens Siddhartas Vetter Devadatta. Die wichtigsten Fächer waren Literatur, Sport, insbesondere Kampfsport, Musik und Sozialkunde. In letzterem Fach wurde neben dem gesellschaftlichen Aufbau, was besonders die Pflichten der einzelnen Kasten anging, auch Rechtskunde vermittelt. Hierzu besuchten der Lehrer und seine Schüler Gerichtsverhandlungen, die mitunter von Siddhartas Vater Suddhodana geleitet wurden, der als Staatsoberhaupt von Sakya auch oberster Gerichtsherr war. So wurde an aktuellen Fällen das Rechtssystem erlernt.

An dem Tag, an dem unsere Geschichte spielt, war ein Feiertag in Sakya, es war der „Tag des Pflügens“. Gewissermaßen wurde die neue Vegetationsperiode durch das Ziehen einer feierliche erste Pflugfurche begangen, und dies Pflugfurche sollte natürlich der Raja, der Herrscher von Sakya, eben Suddhodana, ziehen, wie es des Landes so der Brauch war.

Siddharta wurde dem feierlichen Tag entsprechend gekleidet, so trug er eine Brokatjacke über seiner blütenweißen Robe und goldgewirkte Sandalen. Die Hauptstadt Kapillavatthu war festlich herausgeputzt, die Häuser an den wichtigsten Straßen waren frisch geweißt und mit Blumengirlanden geschmückt, überall wehten bunte Fahnen im Wind und die Stadt war erfüllt von den Klängen zahlreicher Musikanten. Die leckersten Speisen und erlesene Getränke wurden auf Tischen an der Straße angeboten, die festlichsten Gabentische waren jedoch die Altare mit den Opferspeisen für die Götter, denn eine lange Prozession bewegte sich durch die Hauptstraße, angeführt von Brahmanen in ihren rituellen Gewändern. Das alles war jedoch in den Augen der Kinder eigentlich nur Auftakt für das große Fest auf einer Wiese vor der Stadt, das stattfinden würde, sobald der offizielle Teil der Feierlichkeiten beendet war. Dort würden Wettbewerbe und Kampfspiele stattfinden, außerdem sollten dort Tanzgruppen, Gaukler und Akrobaten auftreten.

Doch zunächst gab es den offiziellen Teil, der durch die Prozession eingeleitet wurde. Diese war noch recht kurzweilig, denn man kam durch die Stadt und sah all die besonders herausgeputzten Menschen und Häuser und die festlichen Altäre. Doch dann, draußen auf dem Feld, wo Suddhodana schließlich das Anpflügen leiten sollte, wurde es Siddharta und den anderen Kindern zunehmend langweilig, denn die lithurgischen Gesänge der Brahmanen wollten und wollten einfach kein Ende nehmen – und dazu kam die drückende Hitze: hier auf dem Feld gab es kein schattiges Plätzchen und die Sonne stand jetzt ganz hoch, so dass Siddharta der Schweiß auf der Stirn stand. Er beschloss, sich etwas von der Feier abzusetzen. In der Nähe kannte er eine Stelle, an der ein Rosenapfelbaum blühte, hier konnte man vom Schatten aus das feierliche Anpflügen verfolgen. Er setzte sich mit verschränkten Beinen unter den Baum und beobachtete achtsam den Ablauf des Festaktes. Hier genoss Siddharta die angenehme Kühle des Schattens und ein leichter Wind ließ seinen Schweiß trocknen.

„Hier bist du! Ich habe schon überall nach dir gesucht! Dein Vater vermisst dich,“ das war die Stimme von Mahaprajapati Gotami, einer Nebenfrau Suddhodanas, die Siddharta nach dem Tode seiner leiblichen Mutter, welche nur wenige Tage nach seiner Geburt gestorben war, gesäugt und aufgezogen hatte.

„Es ist ja soooo langweilig!“, beschwerte sich Siddharta, „warum müssen diese heiligen alten Männer so ewig lange singen.“

„Aber Siddharta, das sind doch die heiligen Gesänge der Veden, uralte Schriften, die einst der Schöpfer des Himmels und der Erde, der große Brahma, den Brahmanen gegeben hat.“

„Und warum singt Vater nicht mit. Er ist doch der Raja. Es wäre doch nur gerecht, wenn er das alles leiten würde, die Gesänge und so.“

„Das geht doch nicht, Siddharta. Der große Brahma hat diese Veden nur den Brahmanen gegeben. Natürlich ist dein Vater viel mächtiger als sie, er ist ja schließlich der Raja. Aber jeder hat die Pflichten seiner Kaste zu tun. Die Brahmanen allein dürfen die heiligen Rituale durchführen, aber niemals kann ein Brahmane Raja werden. Nur wer aus der Kriegerkaste ist, so wie dein Vater und du, nur der kann Raja werden, oder Beamter.“

„Bitte, Mutter, sag meinem Vater ich möchte hier bleiben. Hier kann ich alles genau so gut sehen und hier ist es viel schöner. Ich komme nachher wieder zu euch, wenn das Anpflügen vorbei ist und der Jahrmarkt beginnt, ja?“

Mahaprajapati Gotami lächelte. >Er ist ja so süß, wie er da mit untergeschlagenen Beinen unter dem Baum sitzt<, dachte sie und sie sprach: „Ist ja gut, mein Kleiner, ich werde deinem Vater Bescheid sage. Bis später.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und ging zurück.

Und Siddharta saß ruhig wie ein Buddha mit untergeschlagenen Beinen unter dem Rosenapfelbaum und betrachtete die Zeremonie. Endlich waren die langweiligen Brahmanen fertig. Suddhodana ging zu einem Pflug, der am Beginn des allerfruchtbarsten Feldes für ihn bereitgehalten wurde. Die Pflugschar glänzte in der Sonne und vor dem Pflug gespannt war ein stolzes, prächtig geschmücktes Ross, kein Ackergaul und auch kein Wasserbüffel wie vor den meisten der anderen Pflüge, die etwas abseits abgestellt waren Dann zog Suddhodana die erste Ackerfurche des neuen Jahres unter dem lauten Jubel des Volkes.

Als der Raja am anderen Ende des Feldes angekommen war, gab er mit der Hand ein Zeichen und alle Bauern gingen nun zu ihren Pflügen, damit ein jeder eine Furche auf dem königlichen Acker zog und so an dem Ritual des Anpflügens teilnehmen konnte. Auf diese Art übertrug sich der Segen, den die Brahmanen von der Erdgöttin, dem Sonnengott, der Mondgöttin sowie den Göttern für Wind und Regen erhalten hatte, und auch die Beschwörungen der finsteren Mächte, die durch Hagel, Sturm und Blitzschlag die Ernte zerstören könnten, auf ihren Pflug und damit auch auf ihre Felder. Jeder war jetzt geschäftig, entweder mit Pflügen oder damit die Wasserbüffel beim Pflügen anzufeuern. Die allgemeine Erregung übertrug sich auch auf Siddharta, der zum Feld rannte, um das Anpflügen jetzt aus nächster Nähe zu beobachten.

Und wie genau sah Siddharta, was da geschah! Aber es war nicht die freudige Stimmung der Volksmenge, die sich seiner bemächtigte, vielmehr sah Siddharta, wie die Dinge wirklich sind. Er sah den Bauern, der da pflügte. Er sah ihn wirklich! Er war ein alter Mann, und die Tätigkeit des Pflügens strengte ihn sichtlich an, dies um so mehr, als er ein etwas verkürztes linkes Bein hatte. Siddharta konnte in seinem Gesicht lesen, wie ihn jeder Schritt anstrengte. Er sah die angespannten Muskeln des Mannes, der sich bemühte, den Pflug gerade in der Furche zu halten, was offensichtlich sehr schwierig war, und er sah den Schweiß auf der Stirn des Mannes, der diese Arbeit hier in der gleißenden Hitze ausführen musste.

Aber Siddharta sah noch mehr. Er sah auch die Peitsche in der anderen Hand des Mannes. Und er sah wie diese Peitsche auf den Rücken des Wasserbüffels hernieder knallte. Er konnte die Peitsche förmlich auf seinem eigenen Rücken spüren und großes Mitgefühl mit dem Wasserbüffel überkam ihm. Der Büffel schien zu weinen, aber das sah nur so aus, denn an seinen feuchten Augen waren Hunderte von Fliegen, die den Büffel belästigten.

Und dann sah Siddharta den Pflug. Er sah, wie er die Erde durchschnitt und er sah, wie Regenwürmer und Engerlinge von diesem Pflug zerteilt wurden, wie sich diese kleinen Wesen krümmten und wanden vor Schmerz.

Und er sah die Vögel, die dem Pflug folgten, die sich mit lautem Schrei auf die nach oben gekommenen Würmer stürzten und die gierig alle kleinen Insekten verschlangen, die mit der offenen Scholle nach oben gekommen waren und die jetzt um ihr Leben liefen – die meisten vergebens.

Und dann sah er einen Raubvogel dar hinabstieß und einen dieser Vögel, der gerade an einem großen Regenwurm zog, in die Fänge nahm und auf einen Baum flog um den noch lebenden kleinen Vogel zu rupfen.

Langsam drehte Siddharta um. Tränen liefen jetzt über seine Wangen. Er kehrte zu seinem Rosenapfelbaum zurück und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen darunter. Er senkte die Augenlider. Im Hintergrund hörte er die lärmenden, tanzenden und singenden Menschen. Dann versenkte er sich ganz in sich selbst. Bilder stiegen vor seinem geistigen Auge auf: Schweiß auf der Stirn eines Bauern, angespannte Muskeln, eine Peitsche, ein weinender von Fliegen belästigter Büffel, zerteilte Würmer, fliehende Käfer, zuschnappende Vögel, ein sich in den Klauen eines großen Vogels vor Schmerzen windender kleiner Vogel, aus dessen Mund noch ein Regenwurm herausragte.



Suddhodana war beunruhigt, als Siddharta nicht zu den Festlichkeiten erschien, und da Mahaprajapati Gotami ihm gesagt hatte, sie hätte ihn zuletzt unter dem kleinen Rosenapfelbaum sitzen sehen, ging er dorthin. Als er seinen Sohn sah, fand er ihn wunderschön. Wie eine Statue saß er da mit seinen untergeschlagenen Beinen im Meditationssitz unter einem Baum, sein Gesicht hatte einen nachdenklichen aber ruhigen Ausdruck. Siddharta, dieser gerade einmal neunjährige Knabe, gab ein Bild ab, das von erhabener Schönheit und seltener Würde war.

Suddhodana bekam Angst. Er erinnerte sich an die Prophezeiung des Asita kurz nach Siddhartas Geburt: entweder würde aus diesem ein großer weltlicher Herrscher werden - oder ein Heiliger, dessen Namen die Menschen noch in Tausend Jahren mit Ehrfurcht aussprechen würden. Suddhodana sah, wie würdevoll sein Sohn dasaß. Aber er hatte den Eindruck, diese Würde sei nicht die eines Königs, sondern die eines Erleuchteten.

„Siddharta“, sagte der Vater mit bedrückter Stimme.

Der Knabe öffnete langsam die Augen. „Es hat ihnen nichts geholfen Vater. Den Vögeln, den Würmern, den Bauern, den Wasserbüffeln hat das ganze Gesinge der brahmanischen Priester nicht geholfen. Sie alle mussten leiden. Weißt du nichts, was gegen all das Leid hilft?“

„Nein, Siddhartas, ich weiß das auch nicht, keiner weiß das. Aber vielleicht sollten wir jetzt erst einmal zu den Gauklern und dem Zauberer gehen.“

„Vater, ich möchte eines Tages wissen, was all den Wesen hilft. Und dann möchte ich ihnen helfen. Mögen doch alle Wesen glücklich sein!“

Suddhodana biss sich auf die Lippen. >Es ist wohl das Beste, wenn ich ihn in Zukunft im Palast lasse. Er soll nur junge, fröhliche Menschen um sich haben, damit er nicht mehr so ins Grübeln kommt und sich womöglich eines Tages diesen Sramaneras, diesen religiösen Suchern anschließt, die nicht an die Kraft der Veden und der brahmanischen Rituale glauben.< So reifte in Suddhodana ein Entschluss heran, der Siddhartas Leben für nahezu zwei Jahrzehnte entscheidend beeinflussen sollte.

Aber für Siddharta hatte dieser Tag noch eine weitere, noch viel tiefere Bedeutung. Mehr als ein Viertel Jahrhundert später erinnerte sich der Asket Gotama, wie er einst als Kind unter einem Rosenapfelbaum gesessen und in tiefer Meditation gewesen war. Der Tag an dem sich der Wanderer Gotama an dieses Erlebnis unter dem Rosenapfelbaum erinnerte, war der Tag an dem er sich unter einen anderen Baum setzte, in Bodh Gaya, unter den Bodhibaum. Unter diesem anderen Baum sollte er dann die Lösung finden, das Ende allen Leidens. Aber das ist, wie ihr wisst, eine ganz andere Geschichte.




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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.