Gechichten aus dem Vajrayana-Buddhismus

Eine Leiche zum Frühstück
erzählt von Horst Gunkel

(c) Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2015-02-01


Hinweis: Geschichten aus dem Vajrayana haben eine verborgene Botschaft, die sich nicht durch den Wortlaut erschließt. Sie dürfen also nicht wörtlich genommen werden.


Kana, die zentrale Person dieser Geschichte, ist euch vielleicht schon von der Erzählung Wein, Weib und Gesang her bekannt. Dort war er der Saufkumpan von Virupa. Kana, das heißt „der Schwarze“, wurde schon sehr jung ordiniert. Er war ein eifriger Meditierer und praktiziere, indem er die Gottheit Hevajra visualisierte.

Kana praktizierte diese Visualisierung der Meditationsgottheit jetzt seit zwölf Jahren, und er hatte dabei große Ereichungen. Eines Tages, während er meditierte, ereignete sich ein Erdbeben: „Ha!“ sagte er zu sich selbst, „das war ich, das habe ich geschaffen, gerade muss ich zu etwas ganz Besonderem durchgebrochen sein!“ Kana war überglücklich.

Sogleich erscheint ihm eine dakini, ein himmlisches Wesen – es muss sich dabei um eine spezielle Notfall-Rettungs-dakini für besondere Fälle gehandelt haben. Sie ermahnt ihn: "Kana, flippe jetzt nicht aus, sondern meditiere weiter. Das ist in der Tat ein grundlegendes Zeichen. Es wäre Unsinn durch Stolz und Dünkel alles zu verderben: meditiere weiter."

Kana meditiert weiter. Eines späteren Tages sieht Kana einen Stein. Er setzt seinen Fuß auf den Stein. Als er ihn wegnimmt, sieht er seinen eingegrabenen Fußabdruck in dem Stein. Er ist von sich selbst beeindruckt: „Wow, ich habe etwas erreicht, ich sehe die illusionäre Natur der Dinge. Eben komme ich in höhere Sphären.“

Sofort erscheint wieder die finale Rettungsdakini und ermahnt ihn: „Kana, lass dich nicht von deinem Weg abbringen, meditiere! Meditiere, alles andere ist egal.“

Der so Ermahnte ist folgsam und meditiert weiter. Doch eines Tages geschieht etzwas noch Wunderbareres. Er bemerkt, wie er sich in der Meditation in die Luft erhebt. „Wow! Super! Ich hab´s das ist die Sphäre der Leerheit, ich habe sie erreicht!!!“

Sofort erscheint mit strengem Blick wieder die oben erwähnte dakini. Diesmal zeigt sie nur auf das Meditationskissen. Reumütig kehrt Kana zurück und meditiert weiter.

Doch dann bemerkt er, wie das absolut Unwahrscheinliche, das Unglaubkiche, geschieht: Er erhebt sich in seiner Meditation ins Weltall. Es ist ein wunderschöner Ort. Im All erscheinen kleine Sofas, die zum Verweilen einladen, außerdem kleine Trommeln, die wie von Geisterhand zu spielen anfangen, sie scheinen seine erhabene Meditation mit einer Art Trommelwirbel zu begleiten. „Jetzt hab´ ich´s aber! Ich hab´s erreicht! Leerheit! Weisheit!“ freut sich kana.

Zur damaligen Zeit war Kana schon recht bekannt, und er hatte eine Reihe von Jüngern um sich versammelt. Mit diesen, so entschied er, könne er jetzt Großes erreichen. „Wir werden nach Lanka gehen und die Barbaren zum Dharma bekehren!“

Also begab er sich mit seinen Schülern nach Südindien an die Küste, denn sie wollten zur Insel Lanka. Kana hatte vor, seine Schüler zu beeindrucken, indem er über´s Meer wandelt, wie dies große Gurus mitunter tun. Gesagt, getan. Wie er so vor den staunenden Augen der Menschen über´s Wasser geht, steigt in ihm der Gedanke auf: „Was bin ich doch für ein Super-Guru! Ich gehe über´s Wasser! Das konnte nicht einmal mein Guru Jalandala. Ich habe etwas ganz Besonderes erreicht.“ Und wie er das gerade so denkt, da versinkt er.

Jalandala, Kanas Guru, erscheint in den Lüften über Kana, der sich inzwischen mühsam schwimmend über Wasser hält: „Ja, was gibt’s denn hier? – Was machst du denn da völlig bekleidet im Meer?“

„Entschuldige, Jalandala. Eigentlich wollte ich nach Lanka, die Barbaren konvertieren. Aber dann dachte ich, ich wäre größer als du, da bin ich eingesunken.“

„Aber Kana! Auf diese Art wirst du nichts Gutes erreichen. Du kannst vielleicht über die Leerheit meditieren, aber im Reich der Non-Dualität bis du noch nicht angekommen. Ich habe allerdings einen Tipp für dich. Ich nenne dir jetzt den Namen einer Stadt. Gehe dorthin und suche einen Weber auf, der ein geheimer Yogi ist. Von ihm kannst du lernen, was du brauchst.“

Dann nannte Jalandala Kana den Namen der Stadt. Dieser macht sich zusammen mit seinen Schülern auf den Weg. In Kana steigt bereits unterwegs wieder Dünkel auf. Er hat Zeichen von Realisierung, er glaubt sich in höheren Gefilden, er dünkt sich, besser zu sein als die anderen. Schließlich erreichen sie die Stadt. Es gibt dort zahlreiche Weber. Kana sucht sie alle auf und sieht ihnen bei der Arbeit zu. Aber nur bei einem Weber sieht er, wie der auf dem Webstuhl eingeschossene Faden wie von magischer Hand geführt zurückkehrt. Das muss der geheime Yogi sein.

Kana fasst sich ein Herz: „Kannst du mir verraten, wie ich die höchste Weisheit realisieren kann?“

„Versprichst du unbedingten Gehorsam. Wirst du tun, was immer ich von dir verlange, ohne nach Sinn und Zweck zu fragen?“

„Ich gelobe es!“

Der Weber begibt sich mit Kana zu einem Leichenfeld, einem jener idyllischen Plätze, wo die armen Bevölkerungsschichten, die sich das Holz für die rituelle Verbrennung nicht leisten können, ihre Leichen deponieren, auf dass diese dort verwesen oder von wilden Tieren gefressen werden.

Kana und der Weber scheinen Glück zu haben: es liegt gerade eine frische Leiche da.

„Iss davon!“ ordnet der Weber-Yogi an.

Kana zieht zwar ein Gesicht, doch dann holt er sein Taschenmesser hervor und schneidet ein kleines Stück Fleisch von der Leiche ab, um es zu verspeisen.

Der Weber schüttelt den Kopf: „Doch nicht so, Kana!“ Dann verwandelt er sich augenblicklich in einen gierigen Wolf, der sich hungrig auf die Leiche stürzt, sie zerreißt und verschlingt. Anschließend verwandelt er sich wieder zurück in den Weber und sagt: „Du kannst nur richtig von einer Leiche fressen, wenn du dich so transformieren kannst.“

Kana schaut unschlüssig, das kann er nicht. „Gut sagt der Weber, dann zu einer etwas leichteren Übung. Du siehst, der Wolf, der die Leiche fraß, hat hier hingeschissen. Drei schöne Haufen. Iss einen davon!"

„Um Himmels Willen, Meister, das kann ich nicht, das ist unmöglich, ich kann doch keine Wolfsscheiße fressen!“ Der Weber bückt, sich, hebt einen der Kothaufen auf und verspeist ihn genüsslich. Sofort erscheinen einige Götter und rufen aus: „Köstlich! Etwas ausgesprochen Köstliches, niemals gab es so etwas Gutes“, und nehmen die beiden anderen Haufen Wolfskot, um sie genüsslich zu verspeisen – Götterspeise!

„Ach weißt du, Kana, du musst noch viel lernen, um die Nondualität zu realisieren. Meinst du, du kannst wenigstens ganz normale Menschennahrung zu dir nehmen?“

„Das sicher, Meister.“

Also begibt sich der Meister auf den Basar und kauft etwas Nahrung und auch etwas zu trinken. Allerdings gibt er nur wenige Rupien dafür aus, und er erhält nur sehr wenig. „Das macht nichts“, denkt sich Kana, „mir ist bei Gedanken an Nahrung aus Leichen und aus Scheiße eh´ der Appetit vergangen."

„Wirst du diese Nahrung aufessen können, Kana?“

„Das sicher, Meister, das ist kein Problem.“

„Ach“, sagt der Weber, „wo wir schon mal Nahrung haben, sollten wir alle anderen zu einem Festessen einladen. Geh und gib es bekannt.“

Das ist Kana nun wirklich peinlich. Er muss durch die Stadt gehen und zahlreiche Menschen, darunter seine Jünger und alle Freunde und Bekannten des Webers einladen, obwohl er weiß, dass nur eine ganz winzige Menge Nahrung vorhanden ist.

Schließlich versammeln sich alle und der Weber tischt auf einem riesigen Bankett das winzige bisschen Nahrung auf. Dann beginnt er eine Segnungszeremonie, während der die Nahrung wächst und sich vermehrt, bis das ganze Bankett übervoll mit den erlesenste Speisen ist. Dann beginnt das Festessen. Die Gäste sind begeistert. Jeder holt sich so oft nach, wie er will. Und das Wunderbarste: Die Nahrung wird und wird nicht weniger.

„Esst, esst alles auf!“ ruft der Weber und geht mit gutem Beispiel voran. Die Gäste hauen rein, was das Zeug hält. Das Festessen dauert Tage um Tage, und immer wieder feuert der Weber sie an mehr zu essen. Kana hat das Gefühl zu platzen.

Nach einer Woche schließlich bricht Kana mit seinen Schülern auf. Er verabschiedet sich vom Weber: „Es tut mir leid, ich kann nicht mehr. Ich habe genug. Wir gehen.“

Kopfschüttelnd wendet sich der Weber an Kana: "Ach Kinder, ihr seid mir schöne Yogis! Was erreicht ihr, wenn ihr jetzt weggeht? Sofas im Himmel und kleine Trommeln! Meditiert und realisiert die Natur der Realität."

Kana und seine Leute gehen. Der Weber aber wird von einem seiner Freund gefragt, ob diese denn keinen Hunger hätten, dass sie schon gehen.

„Dieser“, sagt er Weber, „hat trotz großer Meditationsübungen seine Erfahrungen nicht in das Alltagsleben integrieren können. Wem das nicht gelingt, der scheitert. Ich habe ihn immer wieder an die Grenzen der Nondualität geführt. Aber er ist bislang unfähig, sie außerhalb der Meditation zu überschreiten.“



Anmerkung:
Vielleicht geht es uns ähnlich. Wir üben in der Meditation Achtsamkeit, wir üben die metta bhavana, die Meditation liebender Güte gegenüber allen Wesen. Wir fühlen uns wirklich toll, wenn uns das in der Meditation gelingt.

Das ist sicher ein guter Anfang. Aber entscheidend ist, nicht nur im Geist zu handeln, sondern auch im Reden und im realen Handeln. Nur allzu oft werden wir dann erkennen, wie weit wir von der Realisierung entfernt sind, wie wenig es uns gelingt, die Erfahrungen unserer Meditationsübungen in das Alltagsleben zu übertragen und so die Grenzen der Nondualität zu überschreiten.



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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.