Gechichten aus dem Vajrayana-Buddhismus

Meditation für Könige
erzählt von Horst Gunkel
(c) Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2004-02-09



 
Einst lebte ein Raja, ein indischer Fürst, glücklich in seinem kleinen Fürstentum. Er hatte alles, was man sich wünschte: kostbares Geschmeide, zahlreiche Frauen, viele Dienerinnen und Diener, erlesene Kleidung, jeden erdenklichen Luxus. Alle Menschen im Fürstentum waren ihm untertan und bemühten sich, ihr Leben zur Zufriedenheit des Rajas zu organisieren. Dieser war rundherum zufrieden und glücklich.

Der Raja saß vor seinem Palast und genoss das schöne Wetter, die liebliche Musik seiner Musikantinnen und die Tänze seiner Tänzerinnen, als ein Yogi mit glitzernden Augen und in grober Kleidung den Hof betrat, er hielt eine Bettelschale in der Hand, die aus einer Schädeldecke bestand. Da der Raja ein gütiger Mann war, ließ er dem Yogi gute Speisen in seine etwas skurrile Bettelschale legen.

Der Yogi hatte eine eigentümlich Art sich zu bedanken. Er sprach den Raja an: „Raja und Fürstentum sind leere Worte. Auch du wirst sterben, wie wir alle. Alles andere ist bedeutungslos, es gibt nur Leben und Sterben. Selbst wenn du der Herrscher der ganzen Welt wärest, am Ende lauert der Tod auf dich. Alles andere ist Illusion und vergänglich. Du solltest gescheiter meditieren.“

Der Raja war ziemlich schockiert. Immerhin hatte er den Bettler gerade fürstlich bewirtet. Aber da er ein offenes Herz hatte, warf er den Yogi nicht kurzerhand hinaus, sondern ging auf seine Anregung ein: „Weißt du, ich kann mir schlecht vorstellen, wie ich in Lumpen bekleidet bettelnd durch das Land ziehe. Ich mag gute Dinge. Ich liebe das Leben im Luxus. Meinst du, auch in meinem Umfeld sei Meditieren möglich.“

Der Yogi neigte den Kopf abwägend erst zur einen, dann zur anderen Seite: „Es wäre definitiv besser, du würdest so leben wie ich.“

„Das kann ich nicht“, erwiderte der König, „in Lumpen gekleidet durch die Straßen ziehen, als Haustiere statt Pferde und Elefanten dann Flöhe und Läuse zu haben und Resteessen aus Schädeln zu löffeln, das würde mich krank machen.“

„Aber Raja, dein Leben führt in das Leiden, während ich in unermesslichem Glück lebe. Ich, ein armer bettelnder Yogi, fühle mich wie ein großer König, obgleich ich nichts besitze. - Aber ich kenne auch einige spezielle Anweisungen, geheime Lehren, die, wenn ich sie dir offenbare, dich dazu führen, sofort praktizieren zu können, du musst nicht einmal deine Rajawürde ablegen.“

„Das ist gut, ehrwürdiger Yogi, ich gelobe, täglich gemäß deinen Anweisungen zu praktizieren,“ freute sich der Raja, dem schon lange insgeheim davor bange war, dass dieses glückliche Leben so nicht allzeit währen könne.

„Nun, Raja, dann will ich dir den Diamantweg lehren. Siehst du den großen Diamanten in deinem Armband. Er ist klar, funkelnd und lupenrein. Er reflektiert alles Licht, das auf ihn fällt. Konzentriere dich auf diesen Diamanten. Erfreue dich daran. Dieses Juwel zeigt dir die Natur deines Geistes, deine Achtsamkeit, dein Herz. Dein wahres Glück ist die reine Natur des Geistes. Dein Geist ist rein wie dieses Kleinod. Meditiere über die Schönheit, die Reinheit, die Herrlichkeit des Geistes. Aber wenn du diesen Geist in dir suchst, wirst du ihn nicht finden, denn der Geist selbst ist leer und substanzlos.“

Der Raja war sehr angetan von den Worten des Yogis und insbesondere von dem Meditationsobjekt, das dieser für ihn ausgesucht hatte, denn dieser Diamant war sein Lieblingsjuwel. Das war auch der Grund, warum er ihn sich in ein Armband fassen ließ. Freudig zog sich der Raja zurück in seine Schatzkammer, um diese Meditation zu üben.

Nur noch selten kam der Raja in seine Gärten, kaum noch mussten die Musikantinnen für ihn aufspielen, selten bat er die Tänzerinnen zu sich und auch die Schlafgemächer seiner Frauen suchte er nur noch ganz vereinzelt einmal auf. Die meisten Staatsgeschäfte übertrug er seinem Kanzler, um mehr Zeit für die Meditation des Diamantweges zu haben. So ging das sechs Monate lang.

Die Höflinge machten sich Sorgen ob des neuen Lebenswandels ihres Herrschers und als eines Tages die Tür zur Schatzkammer nicht ganz geschlossen war, lugten sie durch diesen Spalt um zu sehen, was ihr Raja denn tat. Zu ihrer großen Verwunderung erstrahlte ein helles Licht in der fensterlosen Kammer. Auf einem goldenen Stuhl saß ihr Raja umgeben von zahlreichen Lichtwesen, wunderschönen Göttinnen, eine perfekter als die andere. Jetzt war ihnen klar, warum der König seine Musikantinnen, Tänzerinnen und Gespielinnen vernachlässigte.

Als der Raja am Abend für einen kleinen Imbiss die Schatzkammer verließ, fragten sie ihn, was das denn alles zu bedeuten habe und ob er denn vorhabe, der Göttinnen wegen auf seine Rajawürde zu verzichten. Der Raja aber antwortete: „Realisierung des Geistes ist wahres Königtum und das daraus erwachsende Glück ist das wirkliche Königreich. Nimmer will ich von diesem Königtum, nimmer von diesem Königreich lassen.“


Das Wunderbare: Jede und jeder kann praktizieren, es ist nicht nötig, erst in großes Leiden zu versinken. Durch Meditation eröffnet sich uns die Illusion der Natur der Dinge. Wir blicken hinter die vordergründige Realität und entdecken so die Schönheit und das Mitgefühl in allen Dingen.

Alles ist möglich! Jede und jeder kann die Freiheit teilen. Er oder sie muss nur bereit sein, tatsächlich zu praktizieren.




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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.