Brief der Religionen
an die Religionen in Deutschland

Erstmals sind 1998 führende Vertreter und Repräsentanten aus Religionsgemeinschaften in Deutschland auf Einladung der Weltkonferenz der Religionen für den Frieden (World Conference on Religion and Peace / WCRP) in Mainz zu einem "Runden Tisch"  zusammengekommen.



Es ist an der Zeit, aufeinander zuzugehen. Die Religionsgemeinschaften fühlen sich mitverantwortlich für das gesellschaftliche Zusammenleben und sind sich der Bedeutung der Religionen für das öffentliche Leben bewusst. Religion ist nicht nur Privatsache. Die Frage der religiösen Unterweisung an den öffentli-chen Schulen wird in vielen Ländern der Bundesrepublik gestellt. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet – zumal in seinen grundlegenden ersten Artikeln – zu einem konstruktiven Zusammenwirken, nicht nur zu einer äußerlichen Toleranz. Wir können die Fragen nach einem solchen Zusammenwirken aus solchen Gründen, vor allem aber aus unserem je eigenen Selbstverständnis heraus, nicht länger hinausschieben.
Wir wenden uns mit diesem Brief zunächst an die eigenen Religionsgemeinschaften, ihre führenden Persönlichkeiten, ihre Gemeinden und Gruppen. Wir wissen, dass es nicht mehr ausreicht, lediglich nebeneinander her zu leben. Immer noch belasten uns Feindbilder, Vorurteile und Missverständnisse, die sich in der Gesamtgesellschaft auswirken. Wir erfahren immer stärker, dass die Fragen, die uns unbedingt angehen, nicht mehr gestellt werden. Wem gegenüber fühlen sich die Menschen dann aber wirklich verantwortlich? Uns eint der Bezug auf eine letzte, unbedingte Wirklichkeit, die Juden, Christen, Muslime, Bahá’i und Menschen in anderen Religionen Gott nennen und die uns in die Verantwortung stellt.

Es gibt in Teilen unserer Bevölkerung Ängste:

Zum einen vor möglicher kultureller Überfremdung durch Menschen, die aus anderen Ländern und unterschiedlichen Religionen stammen.

Umgekehrt gibt es in Minderheitengruppen Ängste, von der Mehrheitsgesellschaft und den in ihr dominierenden Kräften abgelehnt und abgewertet zu werden.

Es gibt die Angst, die eigenen Wertetraditionen in einer pluralistischen, zur Beliebigkeit nei-genden Gesellschaft nicht mehr verwirklichen zu können.

Schließlich gibt es die Angst vor fundamenta-listischer Bedrohung der Freiheit.

Wir stehen gemeinsam vor einer Fülle von Fragen, auf die wir antworten müssen:

Wie können wir uns mit unseren religiösen Anliegen und unseren ethischen Wertmaßstäben in einer Gesellschaft Gehör verschaffen, die weitgehend diesseitig-säkularisiert orientiert und von ökonomischen Gesetzen geprägt ist?

Wie können wir in einer pluralen Gesellschaft Heranwachsenden Orientierung geben in den Sinnfragen des Lebens und sie zu verantwortlichem Handeln ermutigen? Wie können wir Menschen begegnen, die nicht glauben wollen oder können, zumal solchen, die den Religionen resigniert gegenüberstehen und daher skeptisch und agnostisch ihren Lebensweg zu gehen suchen?

Wie können wir uns als Religionsgemeinschaften den Anforderungen der wachsenden Globa-lisierung – den Fragen nach Gerechtigkeit, Frieden und dem weltweiten Schutz der Le-bensgrundlagen – stellen und das Zusammenle-ben im "globalen Dorf" mitgestalten?

Wie können wir rassistischem, fremdenfeindlichem, intolerantem Gedankengut entgegentreten, und wie ist mit Gruppen umzugehen, die solches verbreiten?

Wir stehen somit vor gemeinsamen Aufgaben:

Wir kennen uns immer noch zu wenig. Wir müssen aufeinander zugehen und uns besser kennenlernen, im praktischen Leben wie in unseren religiösen Lehren.

Der Dialog der Religionen steht bei uns immer noch am Anfang und ist bisher keine Sache der breiten Bevölkerung. Vieles verbindet uns. Doch soll das, was uns verbindet, nicht zu der Auffassung führen, am Ende seien doch alle Religionen gleich.

Der Dialog ist ein Lernprozess, in den wir alle hineingehen müssen mit dem Willen, vonein-ander und miteinander zu lernen. Wer im Dia-log steht, weiß, dass niemand herauskommt, ohne gelernt zu haben und bereichert zu sein.

Der Dialog zeigt auch, wo wir aus unserem eigenen Glauben und unserer eigenen Überzeugung heraus gemeinsam handeln und dabei die Gemeinschaft mit allen Menschen guten Willens suchen können, seien sie religiös oder nicht.

An vielen Orten und zwischen einigen Religi-onsgemeinschaften gibt es Bemühungen, die Verständigung und die Kooperation zu üben. Freilich sind solche Bemühungen noch sehr vereinzelt und prägen nicht das gesamtgesell-schaftliche Bewusstsein.

Daher rufen wir mit diesem Brief dazu auf:

Gehen wir aufeinander zu!

Besuchen wir uns in unseren Gottesdienst-, Gebets- und Meditationsräumen! Dort können wir erkennen, was unseren Glauben und unser Leben prägt. Wo wir uns persönlich kennenlernen und beieinander zu Gast sind, entsteht Vertrauen, werden Gespräche möglich, hören wir einander zu - ohne Angst, übervorteilt oder in die Enge getrieben zu werden.

Üben wir den Dialog!

Wer in den Dialog eintritt, muss sich mit sei-nem Glauben und seiner Überzeugung in das Gespräch einbringen. Streitfragen dürfen nicht einfach ausgeklammert werden. Wo sie behandelt werden, muss es im Respekt voreinander und in der ehrlichen Bemühung um die Suche nach Wahrheit geschehen. Die Verpflichtung zu gegenseitiger Wertschätzung und zur liebevollen Zuwendung gerade zum Fremden und Anderen ist in den Religionen verankert, so dass sie falschen Vorurteilen und der Gering-schätzung des Fremden und Anderen entgegenwirken müssen.

Nur im Dialog läßt sich entdecken, wo wir in Grundauffassungen miteinander übereinstim-men und verbunden sind.

Suchen wir die Zusammenarbeit!

In allen Religionen gibt es vom Glauben her die Verpflichtung zur Achtung vor allem Lebendigen, zur Überwindung zerstörerischer Gewalt, zur Suche nach dem Frieden, zur Solidarität mit Schwachen und Leidenden, zum Einsatz für eine gerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, zum Schutz der Familie, zur verantwortlichen Partnerschaft von Mann und Frau, zum Ausbau des Erziehungs- und Bildungswesens.
Es ist eine Fülle von Aufgaben, die die gemeinsame Arbeit der Religionen erfordern. Wir bitten unsere Religionsgemeinschaften, diesen Brief wo immer möglich und besonders auf lokaler Ebene zur Kenntnis zu nehmen, zu diskutieren und nach Wegen der Umsetzung zu suchen. In diesem Sinne soll der Brief zu Dia-log und gemeinsamem Handeln vor Ort ermutigen. Gerade, wenn Menschen verschiedenen Glaubens gemeinsam auftreten, ist das ein ermutigendes Zeichen der Hoffnung. Wo immer das bereits geschieht, erleben wir positive und erfreuliche Reaktionen.

Wir möchten also die bestehenden Initiativen ermutigen, auf ihrem Wege fortzufahren und zugleich zu neuen Initiativen aufrufen. Die am Mainzer "Runden Tisch" versammelten Vertreter der Führungskreise verschiedener Religionsgemeinschaften unterstützen diese Bemü-hungen nachdrücklich und setzen sich auch selbst in diesem Sinne ein.

Reichen wir uns die Hände und öffnen die Herzen füreinander, auf dass in das neue Jahrtausend hinein die Welt gerechter und friedvoller werde!

Mainz, 17. Dezember 1998
 




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