Bomben statt beten
von Wolfgang Uchatius

Im indischen Exil wächst der Widerstand gegen den Dalai-Lama. Junge Tibeter wollen den bewaffneten Kampf.
Yassir Arafat sagt, er sei gegen den Kurs des Dalai-Lama. Weil er für Tibet sei. Und im übrigen unterscheide sich seine Meinung nicht von der Nelson Mandelas. Der habe auch nichts gegen Gewehre gehabt. Yassir Arafat lebt in Nordindien, er stammt aus Tibet und heißt eigentlich Lhasang Tsering. Er ist Herausgeber der tibetischen Exilzeitung "Mang-Tso", was auf tibetisch Demokratie heißt. Und weil er heißblütig ist wie der Führer der Palästinensischen Befreiungsorganisation, hat ihm irgend jemand den Namen Arafat verpaßt. "Wie lange sollen wir denn noch unsere Wange hinhalten?" fragt er.

Früher war Lhasang Tsering ein Außenseiter, heute unterscheidet sich seine Ansicht nicht mehr von der vieler anderer Exiltibeter. Offen wie Lhasang oder hinter vorgehaltener Hand tun sie etwas, das jahrelang undenkbar war: Sie kritisieren Seine Heiligkeit, den Dalai-Lama.

Der Dalai-Lama, das geistliche und weltliche Oberhaupt der Tibeter, hat viel erreicht und nichts. Seit 45 Jahren halten die Chinesen Tibet besetzt. Als Ende der fünfziger Jahre die ersten chinesischen Soldaten in Tibet einmarschierten, prallten zwei Weltsichten aufeinander: der Glaube an die Produktionsverhältnisse gegen den an die Lehren Buddhas.

Maos Volksbefreiungsarmee stand vor dem Problem, dass es in Tibet ziemlich viele Men-schen gibt, die sich nicht befreien lassen wollten. Die Tibeter zahlten für ihre Widerspenstigkeit einen hohen Preis: Mindestens eine Million Menschen wurde getötet. Dem Dalai-Lama kommt deswegen kein Wort des Hasses über die Lippen. Er predigt Vergebung und Liebe, auch und gerade gegenüber den Chinesen.

Seine Milde hat ihm den Friedensnobelpreis und bei Menschen auf der ganzen Welt Bewunderung eingebracht. Unter seiner Führung ist es den 130.000 Tibetern, die aus ihrer Heimat geflohen sind, gelungen, in Indien und Nepal die wahrscheinlich bestorganisierte Flüchtlingsgemeinde der Welt aufzubauen. Sie haben eine Regierung, ein Parlament, erstklas-sige Schulen und einen Wohlstand, der für indische und nepalesische Verhältnisse hoch ist. In Tibet jedoch hat sich wenig geändert. Jeden Tag leiden in den Gefängnissen Menschen unter der Folter.

Seit Jahrzehnten bietet der Dalai-Lama den Chinesen Verhandlungen an, weil das der fried-lichste Weg wäre, für sein Volk die Freiheit zurückzugewinnen. Seit Jahrzehnten lehnen die Chinesen diese ab. Der Dalai-Lama reist um die Welt und bittet Regierungen darum, Peking unter Druck zu setzen. Bis heute hat sich kein Land gefunden, das bereit ist, es sich mit China zu verderben und Tibet als unabhängigen Staat anzuerkennen. Die Politik des Dalai-Lama ist gescheitert.

"Was wir jetzt brauchen, ist aktiver Widerstand", sagt Lhasang Tsering. Er ist vielleicht der auffälligste Angehörige einer neuen Generation von Tibetern. Sie sind im Exil aufgewachsen und haben eine Erziehung genossen, die ihnen westliches Gedankengut nahebrachte. Die Liebe zur Heimat der Eltern haben sie den-noch nicht verloren. Jeder Bericht über Festnahmen und Folter in Tibet, jeder Hinweis auf Landsleute, die auf der Flucht umgekommen oder verletzt wurden, ist für sie ein Stich ins Herz. Und er steigert ihre Wut.

"Ihr im Westen denkt, wir Tibeter seien duldsam und friedlich, aber wir sind Menschen wie ihr, und irgendwann ist es genug." Sonam, der das sagt, ist 23 Jahre alt und studiert Sozialwissenschaften an der Universität von Neu-Delhi. Wie die meisten jungen Tibeter gehört Sonam dem "Tibetan Youth Congress" an, der größten Organisation der Exilgemeinde. Es sind vor allem Mitglieder dieses Verbandes, die den gewalttätigen Widerstand gegen die chinesischen Besatzer nicht mehr ausschließen. Ei-ner ihrer Vorsitzenden sagt, man müsse Tibet für die Chinesen zur Hölle machen: "Eine Bombe in einer Diskothek von Lhasa oder in Bierfässer gekipptes Gift können da viel bewirken."

Noch ist es nicht soweit. Denn die Tibeter in Tibet unternehmen kaum etwas ohne den Aufruf Seiner Heiligkeit des Dalai-Lamas. Und auch für viele Exiltibeter ist sein Wort - bei aller Kritik - noch immer oberstes Gebot.
Das wurde zum Beispiel vor knapp einem Jahr deutlich, als rund 500 junge Exiltibeter für den 10. März eine Demonstration geplant hatten. Sie wollten von Delhi nach Tibets Haupt-stadt Lhasa ziehen und sich dabei auch von chinesischen Soldaten nicht aufhalten lassen. Wenige Wochen vor dem Beginn des Marsches überredete der Dalai-Lama die Organisatoren, statt nach Lhasa nach Dharamsala zu gehen, einem kleinen Ort in Nordindien, in dem die Exilregierung ihren Sitz hat. Aus dem vielleicht blutigen Marsch wurde ein leiser Gang, von dem niemand in der Welt Notiz nahm. "Sobald sich in Tibet auch nur ein Tibeter dem Marsch angeschlossen hätte, hätten die Chinesen ge-schossen", sagt der Dalai-Lama heute, "und wie viele Menschen wären gestorben - hundert, tausend, zweitausend? Das konnte ich nicht zulassen."

Der Dalai-Lama wartet auf den Tod des chinesischen Führers Deng Xiao-ping und hofft, dass China danach freier wird. Seinem Ziel, Leid zu verhindern, ordnet er alles unter. Inzwischen aber gibt es im Exil immer mehr Tibeter, denen es lieber leiden wollen, als untätig zu bleiben.

Einer von ihnen ist Samdhong Rinpoche, der Sprecher des Exilparlaments und Leiter ei-ner Hochschule für buddhistische Studien. "Ob ich jetzt sterbe oder in 15 Jahren", sagt er, "ist für mich gleich, aber ich möchte nicht zusehen, wie mein Land stirbt."

Wie der Dalai-Lama fühlt sich auch Samdhong Rinpoche dem Prinzip der Gewaltlosigkeit verpflichtet. Seine Vision ist es, in Tibet einen großen gewaltfreien Aufstand nach dem Vorbild Mahatma Gandhis zu entfachen. Er hat bereits mehrere Dutzend Exiltibeter gefunden, die entschlossen sind, in ihre Heimat zurückzu-gehen und einen Aufstand zu organisieren. En-de dieses Jahres wolle man den Kampf begin-nen, sagt Samdhong Rinpoche.

Inzwischen hat der Dalai-Lama aus der wachsenden Kritik eine Konsequenz gezogen. Er will unter den Tibetern ein Referendum über den zukünftigen Kurs abhalten lassen. Wenn es der Wille der Tibeter sei, einen gewaltfreien Aufstand zu beginnen, hat der Dalai-Lama angekündigt, so werde er sich daran beteiligen. Sollten sie jedoch zur Gewalt greifen und den Weg gehen wollen, den einst auch Yassir Ara-fat und Nelson Mandela gegangen sind, dann, so der Dalai-Lama, werde er die Konsequenz ziehen - und als Oberhaupt der Tibeter zurücktreten.

aus: DS - Das Sonntagsblatt - Nr. 7


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