Zeugnis ablegen!
Ein Interview mit Tetsugen Bernhard Glassman Roshi

Franz-Johannes Litsch: Roshi, Sie sind in jüngster Zeit in Deutschland bekannt geworden als besonders ungewöhnlicher Zenlehrer. Un-gewöhnlich, weil Ihre Praxis nicht darin besteht, in Meditationszentren traditionelle Zen-Kurse zu geben, sondern weil Sie mit Ihren Schülern auf die Straße gehen, um dort als Obdachlose zu leben. Darüber hinaus haben Sie in dem Stadtteil von Yonkers (New York), in dem Sie leben, ein ganzes Netz von Sozialeinrichtungen aufgebaut. Einige Leute bei uns sagen nun, dass soziales Engagement nicht Zen-Buddhismus sei, dass Zen nur Zazen (Sitzmeditation) sei. Was ist Ihre Meinung dazu?

Glassman Roshi: "Zen-Buddhismus ist nur Zazen" - das macht mich neugierig. Wer sagt so etwas? Kennen Sie irgendwelche Zen-Buddhisten, die nur Zazen praktizieren?

FJL: Natürlich nicht, sie tun auch andere Dinge, die zum Leben gehören.

Glassman Roshi: Und ist ihr Leben Zen - oder nicht? Leben sie Zen nur, wenn sie Zazen praktizieren? Ich habe so etwas von keinem meiner Lehrer gehört. Ich habe statt dessen gehört, dass Zen das ganze Leben umfasst - Zen ist Leben. Das habe ich von jedem Lehrer zu allen Zeiten gehört. Die Frage hinter einer solchen Aussage, die jemand macht, ist eigent-lich: welcher Teil meines Handelns ist nicht Bestandteil meines Lebens - meines Zens?

Schauen wir uns die Geschichte des Zen an. Wir können sie an verschiedenen Orten begin-nen lassen. In meiner Tradition ist es üblich, sie mit dem Leben des Buddha Sakyamuni begin-nen zu lassen, aber andere mögen den Beginn der Geschichte des Zen in China sehen, wieder andere in Japan, oder auch in Deutschland. Von jedem Ort aus könnte eine neue Definition des Zen entstehen. Der Gründer des Zen-Ordens, dem ich angehöre, war einer der berühmtesten Zenlehrer in Japan: Dogen Zenji. Er hatte Vor-behalte gegen den Gebrauch des Begriffes "Zen". Er sagte, dass es keine Aufteilung in verschiedene Zen-Schulen geben sollte. Es e-xistiert allein "Butsudo". "Butsudo" ist ein ja-panischer Begriff. "Butsu" bedeutet "Buddha", "Do" bedeutet "der Weg". Damit wollte er sa-gen, dass es nur einen Weg des Erwachens gibt, nur das erleuchtete Leben. Und in unserer Tradition - übermittelt durch Dogen Zenji - sagen wir, dass Sakyamuni Buddha, als er die Erleuchtung erlangte, sagte: "Wie wunderbar! Wie wunderbar! Alles, so wie es ist, ist der erleuchtete Weg!"

Aber unsere oft verzerrten Ansichten, unsere Bindungen an dieses oder jenes stehen dieser Erkenntnis im Wege und lassen uns an ihr zweifeln. So werden wir zu verschiedenen Zeiten immer Leute sagen hören, dass dieses die richtige und jenes die falsche Sache sei. Aber Buddha Sakyamuni sagte: Alles, so wie es ist, ist der Pfad der Erleuchtung - alle Aspekte des Lebens. Basierend auf dieser Aussage sagt Dogen Zenji: "Alles, so wie es ist, ist Buddha-Natur". Es ist keine Frage von: dieses oder jenes. Wir haben berühmte Koans wie dieses: "Hat ein Hund Buddha-Natur?" Dies ist eigentlich nicht die entscheidende Frage, die der Mönch da stellt: Hat ein Hund Buddha-Natur oder hat eine Person, eine soziale Aktion oder ein Geschäft Buddha-Natur? Der Mönch soll vielmehr lernen zu sehen, dass alles, so wie es ist, Buddha-Natur ist. Durch Fragen wie diese versucht er von seinem Lehrer eindeutige Aussagen zu erzwingen: Hat dieses oder jenes... Aber es ist keine Frage von "was hat es" oder "was tut es" oder von "was ist Zen", "was ist nicht Zen". Das sind unbedeutende Fragen.

Die Frage ist: Wie können wir erkennen, dass alles, so wie es ist, Buddha-Natur, der er-leuchtete Pfad ist? Der einzige Weg, dies zu erkennen, führt durch das Erwachen, durch das Erkennen der Einheit allen Lebens. Wenn wir nun über die Einheit und gegenseitige Verbun-denheit aller Aspekte des Lebens reden und gleichzeitig sagen, dass einzelne Teile davon nicht dazugehören - wie kann das sein? Logischerweise - Sie in Deutschland denken ja sehr logisch - macht es keinen Sinn. Wenn also jemand zu mir sagt: was Sie tun ist kein Zen, so ist meine Antwort darauf: dann tun Sie es doch bitte nicht! Machen Sie Ihren eigenen Zen. Wenn jemand sagt: ich mag die Suppe nicht, die Sie da essen... so sage ich: bitte, nehmen Sie sich eine andere Suppe! Es gibt so viele verschiedene Arten von Suppe, von Nahrung.

Im Moment ist Folgendes wichtig für mich: In den ersten Jahren, nachdem der Buddhismus in den Westen kam, gab es viele Leute, die dachten, dass nur bestimmte Aspekte, wie z.B. tibetische, vietnamesische, japanische oder in-dische Rituale die wahre Essenz des Buddhis-mus seien. Und viele Leute haben sich sehr zö-gerlich, fast entschuldigend verhalten. Aber die Zeit für Entschuldigungen ist vorbei. Der Buddhismus hat sich mittlerweile auch im Westen fest etabliert und es gibt heute genug Lehrerinnen und Lehrer, die wissen, dass Buddhismus alle Aspekte des Lebens umfaßt. Deshalb ist es nicht mehr so wichtig, sich in Diskussionen zu begeben mit denjenigen, die nur einzelne Teile des Ganzen anerkennen wol-len. Lassen wir sie ihre Teile für sich praktizie-ren, wenn sie das wollen.

FJL: Welche Bedeutung hat das Zazen für Ihre Praxis?

Glassman Roshi: Für mich persönlich hat es die gleiche Bedeutung wie Atmen oder Es-sen - es ist eine tägliche Praxis für mich. Ich habe viele wundervolle Menschen getroffen, die kein Zazen praktizieren. Wer kann schon vollkommen die Einheit des Lebens verstehen. Deshalb sage ich auch nicht, dass die Praxis des Zazen absolut notwendig ist. Für mich gehört es zu meiner persönlichen Praxis dazu. Ich ha-be es nun seit dreißig Jahren praktiziert, aber es ist nicht mein Interesse, ein Retreat-Lehrer zu sein. Es gibt mittlerweile viele dafür ausgebil-dete Menschen. Wenn Sie mit mir Zen prakti-zieren wollen, so sollten Sie sich auf eine tägli-che Praxis des Zazen einstellen, aber ich kann Sie noch andere Dinge lehren, die normaler-weise nicht gelehrt werden. Wir praktizieren täglich Zazen, wir machen monatliche Zen-Sesshins und jährliche Retreats, und ich denke, all dies ist notwendig. Aber ich möchte, dass man diese Übungen als einen Teil des Lebens ansieht. So wie Atmen und Essen, es ist etwas, das man ganz natürlich tut. Ich bin im Kontakt mit Praktizierenden anderer Traditionen wie z.B. dem Islam und dem Sufismus. Dort gibt es eine Übung (Sikr), die eine große Ähnlichkeit mit dem Zazen hat. Es gibt viele Möglichkeiten zu praktizieren.

FJL: Soweit ich weiß, praktizieren Sie nicht nur Soto-Zen, sondern ebenso Rinzai-Zen und die Koan-Praxis. Welche Bedeutung hat für Sie das Arbeiten mit Koans?

Glassman Roshi: Ich bin ein Soto-Lehrer, kein Rinzai-Lehrer, und als solcher habe ich auch all die Jahre praktiziert. Mein Lehrer war auch ein Soto-Meister. Ich habe aber auch unter einem anderen Meister studiert, einem Laien-meister des Rinzai-Zen, der einer der Lehrer meines Meisters war. Mein Lehrer, der Soto-Meister, hatte auch die Koan-Praxis studiert. Er selbst hatte drei Meister: einen, der ihm die So-to-Lehren übertrug, und zwei andere, mit denen er zwei verschiedene Arten von Koan-Systemen praktizierte. Ich kann mich sehr glücklich schätzen, dass ich an seiner Seite mit diesen drei Meistern praktizieren durfte und diese zwei verschiedenen Koan-Systeme stu-dieren konnte.

Die Rolle eines Zen-Meisters ist es, "Upaya" zu entwickeln - Wege, Menschen zu hel-fen, die Einheit allen Lebens zu erkennen und sie zu aktualisieren. Die Soto-Tradition neigt dazu, besonders die Aktualisierung zu betonen, sie möchte Wege finden, um uns das Verständnis der Einheit allen Lebens in aktualisierter Form nahezubringen. Die Rinzai-Tradition neigt dazu, das Erkennen dieser Einheit in den Vordergrund zu stellen. Aber wenn man sich einen einzelnen Meister anschaut, dann bemerkt man, dass verschiedene Meister wiederum Verschiedenes betonen. Jeder Meister un-terscheidet sich in seiner Form der Lehre von den anderen. Ich selbst genieße die Koan-Praxis, jedoch vor allem Koans, die ihre Wurzel im täglichen Leben haben. Wir haben sie aufgezeichnet und anschließend unseren Schülerinnen und Schülern gegeben, damit sie daran arbeiten. An einem Koan zu arbeiten bedeutet, jeden Aspekt dieses Koans zu leben. Das kann zum Beispiel folgende Frage sein: "Wie können Sie die Gewalt auf der anderen Straßenseite stoppen?" Das ist ein Koan. In diesem Koan müssen Sie in jede Person hineinschlüpfen, die an der Gewaltsituation beteiligt ist. Durch diese Übung können Sie verstehenlernen, wie die Gewalt beendet werden kann. Was ich hier jetzt versuche, ist eine neue Art des Lehrens, die eigentlich eine alte Methode ist: ich setze Men-schen einer unmittelbaren Lebenserfahrung aus.

Sie sind mit mir in Auschwitz gewesen, und als Sie dort waren, konnten Sie die Seelen, die Energien der Menschen fühlen, die an dieser Stelle gelitten haben, und dadurch wurde die Frage der Schuld und des Leidens zu einer un-mittelbaren Erfahrung für Sie. Dadurch konnte sich in Ihnen selbst eine Antwort entwickeln auf die Frage: was mache ich mit dieser Erfahrung? Ich hätte Ihnen das Thema Auschwitz auch als Koan geben können, und Sie hätten dann daran gearbeitet - aber dagewesen zu sein, ist viel direkter. Ebenso, wenn ich Men-schen mit auf Straßenretreats nehme - direkt.

Ich biete jetzt auch Koan-Schulung an, aber diejenigen, die dazu bereit sind, führe ich in die direkte Lebenserfahrung. Das ist eine Kombi-nation von Soto- und Rinzai-Stil. Außerdem baue ich gerade ein Soto-Kloster auf, um eine Atmosphäre zu schaffen, die den Prozeß des Erwachens unterstützt. Ich versuche das in Gemeinschaft mit anderen. Wie kann man die Gesellschaft und eine Gemeinschaft so verändern, dass daraus eine Umgebung entsteht, die ein Erwachen fördert? Ist das möglich? Ich denke ja. Genau das versuche ich.

FJL: Aus meiner Rinzai-Praxis kenne ich den Satz: "Zeige mir den Buddha" oder: "Manifestiere den Buddha hier und jetzt". Kann man "Bearing Witness" (Zeugnis geben) in diesem Sinne verstehen?

Glassman Roshi: Ja! Sie kennen das Wort "Shikantaza" - wörtlich übersetzt bedeutet es nichts anderes als "sitzen". Weil es ein sehr wichtiges Wort in der Soto-Tradition ist, sagen viele Leute, dass Zen lediglich Zazen - Sitzme-ditation - sei. Dies wurde fast zu einem Mar-kenzeichen vieler Personen der Soto-Schule. Es wird auf Dogen Zenji zurückgeführt, er sprach viel über Zazen. Er benutzte das Wort "sitzen" gar nicht so oft, wie manche Menschen von ihm sagen, aber Shikantaza ist eigentlich ein sehr spezielles, betontes Sitzen - mehr als nur Zazen. Wenn sie Dogen Zenji lesen, werden sie sehen, dass er alles als Zazen bezeichnet: die Berge, die Flüsse, bunte Kuchen. Vor ein paar Jahren stellte ich fest, dass das, was ich da auf den Straßen tat, nichts anderes ist, als Zeugnis zu geben, und ich fühlte, dass das die eigentliche Übersetzung für das Wort "Shikantaza" ist: Zeugnis geben. Zeugnis geben von der Ganzheit des Lebens. Wenn Ihr Zazen wirklich Zazen ist, dann geben Sie damit Zeugnis von der Ganzheit des Lebens. Dadurch entsteht Heilung.
Das ist für mich momentan die Bedeutung von "Zeugnis geben", aber darüber hinaus kann es auch Koan-Studium bedeuten. Wenn Sie in Ihren Koan-Studien tatsächlich zu jedem As-pekt des Koans werden, dann geben Sie Zeug-nis vom gesamten Koan. Wenn Sie nur einen Teil davon wahrnehmen, so ist dies nicht "Zeugnis ablegen", welches für mich bedeutet, Zeugnis vom Ganzen, von allen Teilen zu geben, die Teilung zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben. Dies findet sich auch in der chinesischen Definition von Zazen. Wenn ich "Zeugnis gebe", so ist das für mich Zazen.



Zurück zur Meditation am Obermarkt

Zurück zur Übersicht  BuddhaNetz-Info