Schritte der Heilung

Claude AnShin Thomas über die Pilgerwanderung durch Deutschland.

Manchmal erinnere ich mich kaum noch an Vietnam. Manchmal bin ich so weit entfernt von der Realität meines Einsatzes dort, dass jeder Gedanke an Vietnam surrealistisch erscheint. Und dann kommen die  Mahnzeichen, manche subtil, andere nicht so subtil.

Die extreme Reaktion auf Erschrecken, das aufs äußerste gestörte Schlafverhalten, das Loch in meinem Magen und die blinde Wut, wenn ich Verrat oder die Vorstellung von Verrat erfahre. Die scheinbare Sinnlosigkeit eines konventionellen Lebens und die daraus folgende Frage: „Und was mache ich jetzt?“
Im Oktober 99 habe ich eine weitere Pilgerwanderung beendet, dieses Mal ging es durch Deutschland. Das Thema dieser Wanderung war der Besuch möglichst vieler Stätten des Leidens aus dem 2. Weltkrieg, um  Zeugnis abzulegen über die anhaltenden Auswirkungen dieses Krieges in Europa und der ganzen Welt.
Sechs Menschen sind die ganze Strecke der Pilgerwanderung gelaufen, etwa 1.000 - 1.200 km, und noch ungefähr 25 - 30 Menschen sind ein Stück dieses Retreats mit uns gelaufen. An den Retreats und Zeremonien, die wir an den unterschiedlichen Stätten von Terror, Missbrauch, Erniedrigung, Folter und Mord  abhielten, nahmen insgesamt etwa 200 Menschen teil.

Die Erfahrungen, die ganze Tiefe dieser Pilgerschaft sind mir so nah, dass ich es schwierig finde, sie vollkommen zu erfassen oder zu verarbeiten. Was ich jedoch weiß ist, dass Orte wie Auschwitz, Theresienstadt, Ravensbrück und Hadamar, usw. nur das Endergebnis eines Prozesses waren, der lange vor der Einführung dieser Lager begann, und dass dieser Prozess, der schließlich zur Erschaffung von Auschwitz, Buchenwald etc. führte, sich weiter fortpflanzt in unseren gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen, hier und in anderen Ländern überall auf der Welt, Ländern, mit denen ich vertraut bin. Ich habe beobachtet, dass der Prozess, der zu diesen Greueltaten, zu  diesem Terror führt, schleichend und allgegenwärtig ist und seine Samen in der Natur, der Beschaffenheit dessen, was wir unsere Zivilisation nennen, verwurzelt sind.
Mir wurde auch die Tatsache zunehmend bewusst, dass die Politik der NSDAP nicht ohne Komplizenschaft der anderen Länder und Kulturen Europas (und der Welt) durchführbar gewesen war, und nicht ohne intensive kollektive Verdrängung in Deutschland und im Bewusstsein der ganzen Welt begonnnen und vollendet werden konnte, denn die Planung und Einführung der Politik, die dieses System von Missbrauch, Ausbeutung, Folter und Terror erschuf, vollzog sich nicht im Geheimen. All dies spielte sich offen ab: auf der Weltbühne.

Auch wurde mir immer bewusster, wie gefährlich die Krankheit der selbstgerechten Entscheidungsfindung ist, dass dieser Prozess des Entscheidungstreffens aus der Projektion unseres eigenen Leidens auf äußere Ursachen (Menschen, Orte und Dinge) entspringt. Diese Art von projektionsgeprägten Entscheidungen ist gefährlich, wo immer sie getroffen werden, und ehe wir nicht rigoros dafür eintreten, uns das gesamte Zusammenspiel der Ereignisse in allen Einzelheiten anzuschauen, das zur Tötung von mehr als 60.000.000 Menschen in dieser Periode der Weltgeschichte zwischen 1929 und 1945 geführt hat, wird sich dieser Kreislauf  ständig wiederholen, wie wir es in der stalinistischen Sowjetunion, der chinesischen Kulturrevolution unter Mao oder Pol Pots Khmer in Kambodscha beobachten konnten. Auch die Forschritte der letzen 55 Jahre in Technologie und Medizin lassen die Folgeerscheinungen immer schneller anwachsen.

In den USA kann ich die Fortsetzung dieses Prozesses in der Durchführung der Todesstrafe sehen. Wie schnell können Gesetze erlassen werden, die das Netz derer vergrößern, die sich für die Vernichtung qualifizieren (was die Todesstrafe letztendlich ist).

Auf der Pilgerwanderung besuchten wir die Stätten von Synagogen, die am 9. und 10. November 1933 zerstört wurden und hielten dort unsere Zeremonien ab, wir besuchten jüdische Friedhöfe, die noch unversehrt waren, und hielten Zeremonien ab, wir besuchten ehemalige Kriegsgefangenenlager und hielten unsere Zeremonien an Massengräbern ab, wir besuchten psychiatrische Kliniken, die als Euthanasieanstalten gebraucht wurden und hielten unsere Zeremonien in den Gaskammern und Tötungsräumen ab, wir besuchten frühere Gestapo-Hauptquartiere und hielten Zeremonien ab, wir besuchten  Orte  ehemaliger jüdischer Schulen und hielten Zeremonien ab, wir besuchten die Sammelstellen für Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Sinti und Roma und politische Gefangene und hielten Zeremonien ab. Wir verweilten in Kirchen, die durch die Entscheidungsträger ihrer Institutionen gemeinsame Sache mit der NSDAP gemacht hatten und bei Unterdrückung weggeschaut hatten, und hielten unsere Zeremonien ab. Wir bezogen Menschen aller gesellschaftlicher Ebenen mit ein und luden sie ein, mit uns zu sprechen, ihre Geschichten zu erzählen, so dass wir zuhören und lernen konnten. Wir besuchten jüdische Gemeinden im Wiederaufbau. Wir sprachen mit Skinheads (Neonazis). Wir bezogen alle, die dazu bereit waren, mit ein, hörten ihren Geschichten zu und gingen darauf ein, wenn es gewünscht wurde, nicht aus einer Position des Urteilens oder der Selbstgerechtigkeit heraus, sondern weil wir wirklich verstehen wollten. Denn was ich und andere, die an dieser Pilgerwanderung teilnahmen, gelernt haben ist, dass niemand von uns wirklich wissen kann, was sie getan hätten oder tun würden, wenn sie vor die Wahl gestellt würden, im Angesicht der Realität des Nationalsozialismus. Keiner von uns weiß, was wir getan oder wie wir gehandelt hätten, wären wir Gefangene in den Lagern gewesen.

Womit ich immer und immer wieder konfrontiert wurde, war die Komplexität, die allen Ebenen einer Gesellschaft zugrunde liegt, die solche Schrecken einsetzt und ausführt, und wie subtil all diese Schrecken beginnen.

Mithin stellt sich folgende Frage: "Welche angemessene Reaktion auf diese Ereignisse ergibt sich für unser tägliches Leben?" Dazu kann ich nur sagen, dass die angemessene Reaktion immer Null-Toleranz ist. Null-Toleranz gegenüber Rassismus, Diskriminierung, selbstgerechten Entscheidungen oder Machtmissbrauch, egal auf welcher Ebene oder in welchem Grad sie uns begegnen. Die nächste Frage für mich ist die nach den nötigen geschickten Mitteln, um diese Position zu kräftigen und aufrecht zu halten. Wie ich schon sagte, wurde mir auf dieser Pilgerschaft die Tatsache zunehmend bewusst, dass die Politik der NSDAP nicht ohne Komplizenschaft der Länder und Gesellschaften Europas (und der Welt) möglich war und nicht ohne intensive kollektive Verdrängung  in Deutschland und im Bewusstsein der Welt begonnen und vollendet werden konnte, denn die Planung und Einführung dieses Systems vollzog sich nicht im Geheimen. All dies spielte sich offen ab, auf der Weltbühne!

Dass diese Bewegung in ihren Anfängen weder ernst genommen noch angefochten wurde, ist folgenschwer. Und ich kann mir nur vorstellen, dass dieser Terror und Schrecken von anderen Ländern in Europa und der Welt deshalb  nicht angefochten wurde, weil die Regierungen dieser Länder dann einzeln oder kollektiv hätten bekannt geben müssen, wie sie selbst ähnliche Aktionen starten, unterstützen und sich daran beteiligen. Denn Politik, die aus einer Position der Überlegenheit geführt wird, egal in welchem Ausmaß, wird immer ausbeuterisch, missbrauchend und gefährlich sein.

Und dann die dringendste Frage: Wo sind die Samen in meinem Leben, und wo existieren diese Samen in meiner unmittelbaren Umgebung und was kann ich tun, statt wegzuhören und wegzuschauen?

Übersetzung: Gisela Tan,  Koblenz


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