Ich – Priester einer satanischen Macht
Zugegebenermaßen
klingt der Titel dieses Vortrages schon ziemlich stark. Aber ich muss
zugeben: ich habe wirklich Wirtschaftswissenschaften studiert.
Tatsächlich ist die Wirtschaftswissenschaft und hier insbesondere die
Betriebswirtschaftslehre (BWL) in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu
so etwas wie einer „Macht des Bösen“ geworden.
Das
war sie nicht immer. „Ökonomie“ ist die Lehre vom Haushalten. Mit
seinen Ressourcen klug hauszuhalten, ist natürlich etwas sehr
Vernünftiges. Seine Mittel so einzuteilen, dass sie den größtmöglichen
Nutzen stiften, das war ursprünglich der Gedanken des
Wirtschaftens.
Noch
in den Studienunterlagen meines Vaters aus den späten vierziger Jahren
des 20. Jahrhunderts findet sich der „Nutzen“ als der zentraler Begriff
der Wirtschaft. Ein Vierteljahrhundert später, als ich studierte, war
er nicht mehr der zentrale Begriff, aber dieser Terminus spielte nach
wie vor eine Rolle. In den heutigen Schullehrbüchern suche ich den
Begriff leider vergebens.
Dass
ich mit Schullehrbüchern in Wirtschaftslehre zu tun habe, liegt daran,
dass ich Handelslehrer war, also an beruflichen Schulzentren Wirtschaft
unterrichtete. In meinen Fachoberschulklassen gab es zuletzt
sechs Lehrgänge, darunter nur einen einzigen zur Volkswirtschaftslehre,
alle anderen zur BWL. Der Lehrgang 1 – wohl laut Ministerium der
Wichtigste – lautet: Marketing, also: wie kann ich den Leuten das
andrehen, was sie weder brauchen noch wollen. Der Lehrgang 6 steht
vermutlich an letzter Stelle, damit er wegen der Abschlussprüfung nur
noch kurz behandelt werden kann, es ist der zur Volkswirtschaft, zum
Verständnis, wie Wirtschaft Nutzen für eine große Gemeinschaft stiftet.
Natürlich
bemühte ich mich – so gut es in diesem Rahmen geht – den Schülern eine
kritische Distanz zum Zeitgeist, zur Gierwirtschaft, zu vermitteln. Ich
selbst war 2001 bereits seit vielen Jahren auf einer Teilzeitstelle,
ich arbeitete montags bis mittwochs, dann hatte ich genug verdient, um
den Rest der Woche davon leben zu können, den Dharma praktizieren und
ihn auch weitergeben zu können.
Ich
bin Buddhist: jeden Morgen vor der Meditation zitiere ich die fünf
ethischen Vorsätze, deren dritter in der positiven Formulierung lautet:
„Mit Stille, Schlichtheit und Genügsamkeit läutere ich mich.“ Und
natürlich bemühe ich mich diesen Satz nicht nur zu rezitieren, sondern
auch einigermaßen glaubhaft umzusetzen, im Denken, Reden und
Handeln.
Ich
habe mir eingebildet, mich aus dieser Fixierung auf Geld einigermaßen
befreit zu haben. Habe ich gedacht. Bis mich zwei Träume eines anderen
belehrten. Der erste Traum war erschreckend, der zweite verstörend. Im
Traum wurde mir ein Spiegel vorgehalten. Ich möchte dies hier
berichten.
Vor einigen Jahren hat Dhammaloka, ein sehr erfahrenes Mitglied des
Buddhistischen Triratna-Ordens, in Essen ein Seminar abgehalten, in dem
es um unser Verhältnis zum Geld geht. Das, so dachte ich mir, klingt
interessant. Ich hoffte Anregungen zu bekommen, die ich vielleicht im
Schulunterricht umsetzen könnte. Dass ich selbst mein Verhältnis zum
Geld geklärt hatte, dass es für mich nur mehr noch eine marginale Rolle
spielte, schien mir klar. Seit etwa zehn Jahren war ich Buddhist,
arbeitete nur noch auf Teilzeit, hatte mein Auto und mein Haus an die
Mutter meiner Kinder überschrieben, lebte bescheiden in meiner kleinen
Mansardenwohnung, die aus dem Sperrmüll möbliert war, ich brauchte
nicht viel.
Und
dann kam das Seminar. Es war nicht einmal das, was wir im Seminar
machten. Es war vielmehr das, was sich in meinem Kopf abspielte, oder
besser in meinem Unbewussten. Und das kam im Traum hoch. Ich lag des
nachts auf einer Matte im Keller der buddhistischen Zentrums (ich war
ja so genügsam!) – und dann geschah es. In meinem Traum. Es gab da
diesen Sack. Und darin regte sich etwas und wollte heraus. Natürlich
assoziiert man dabei, „die Katze aus dem Sack lassen“, also das bislang
Verborgene sichtbar werden lassen. Aber es war keine Katze. Es war ein
Zombie.
Nun
mag es Leute geben, die von Zombies träumen, weil sie sich mit
entsprechenden Filmen auseinandersetzen, sie sich reinziehen. Ich habe
niemals einen solchen Film gesehen, auch kein entsprechendes Buch
gelesen, mir ist nur der Begriff „Zombie“ für einen „Untoten“, einen
„zum Leben erweckten Toten“ bekannt. Und da war dieser Zombie, er lief
mir nach, er war wieder aus dem Sack gelassen. Und dieser Sack sah
ziemlich genau so aus wie die Geldsäcke, die ich als Kind in Comix von
Dagobert Ducks Geldspeicher gesehen hatte. Und es war nicht irgendein
Untoter. Er sah genau aus wie Wim Duisenberg, der damalige Präsident
der Europäischen Zentralbank, auch als Mr. Euro bekannt.
Es
war der schrecklichste Traum, den ich seit Jahrzehnten hatte, weniger
wegen des Inhalts als vielmehr wegen der Tatsache, dass der Geist des
Geldes, des Monetären, dieser Gierwirtschaft, offensichtlich nicht, wie
ich geglaubt hatte, tot war, sondern wie ein Zombie sein Unwesen trieb
- in mir. Und es ist immer erschreckend, wenn wir in den Spiegel
schauen und unser wahres Antlitz erkennen.
Nun,
das war der erste Traum. Der zweite war noch viel verwunderlicher. Es
war im Spätsommer 2001, ich kam gerade von der Schule, und an diesem
Tag war ich aus unerfindlichen Gründen plötzlich wahnsinnig müde. Wie
in Trance ging ich in meine kleine Dachwohnung, zog die alte Matratze,
die mir als Bett diente, hinter dem Bücherregal hervor und fiel vor
Müdigkeit erschöpft darauf. Was mich plötzlich so auslaugte, war mir
nicht klar, aber irgendetwas zog Kraft von mir ab. Und wieder träumte
ich.
Ich
war in einer großen, mir fremden Stadt. Ich hatte keine Ahnung wo, aber
es musste irgendwo im westlichen Ausland sein, es war keine der unseren
fremde Kultur.
Und ich wusste nur eines: ich musste zurück, denn sie war in Gefahr.
Sie war doch mein Lebensinhalt! Und jetzt war dieses Chaos in der
Stadt. Überall Polizei und Feuerwehrautos und Krankenwagen, eine
riesige Hektik. Und irgendwo, dort vorne, so wusste ich, war sie, meine
Kirche. Fast alle Menschen kamen mir entgegen, ich musste aber doch in
die andere Richtung. Zum Glück ließen mich die Leute einigermaßen
durch, sie versuchten mir, einem Schwerbehinderten, auszuweichen.
Selbst die Polizisten, die dieses rot-weiße (oder gelb-schwarze?)
Flatterband über die Straße zogen, um irgend etwas abzusperren, ließen
mich passieren, einer rief noch etwas, aber ich hörte nicht darauf, ich
verstand es auch nicht, es war in einer anderen Sprache. Ich lief so
rasch ich konnte - ich, ein kleiner verwachsener Mann mit meinem
humpelnden Gang und immer nach unten gedrückt von der Last meines
großen Buckels. Ich drängte vorwärts, musste mich doch darum kümmern,
musste doch zu meiner Kathedrale!
Es
waren viel Läden in der Straße, die meisten hatten wie in Frankreich
Markisen zum Schutz vor der Sonne, und ich fühlte mich auch von diesen
Markisen etwas geschützt vor den brennenden Papieren, die da
herabfielen und vor den herabprasselnden Steinen. Ich musste doch
vorwärts, um die Glocken zu läuten! Immer verzweifelter rannte ich,
musste doch rasch zu meiner Kathedrale. Jetzt fielen schon nicht mehr
nur Papierfetzen und Steine herab, sondern auch Menschen klatschten von
oben auf die Straße, manche brennend. Einer versuchte mich
zurückzurufen: „Du kannst da nicht hin, Quasimodo, es ist zu spät…“,
doch ich rannte weiter – bis ich klatschnass geschwitzt erwachte.
Ich
fühlte mich total benommen. Ich stand auf, konnte mich kaum auf den
Beinen halten. Wieso war ich, Horst Gunkel, der Glöckner von Notre Dame
gewesen? Wie betäubt verließ ich die Wohnung, ging die Treppe hinab.
Eine Wohnung tiefer trat mein Sohn aus der Tür: „Hast Du es schon
gehört?“
„Wieso, was?“ frug ich.
„Es ist Krieg!“ stieß mein Sohn hervor. Ich war noch immer total benommen.
„Wieso Krieg, was meinst Du. In Israel oder wo?“ versuchte ich das Nächstliegende, das Plausibelste zu unterstellen.
„Nein:
Richtig Krieg. Amerika wird angegriffen, in Washington, in New York,
das Pentagon ist schon zerstört, das World Trade Center liegt in Schutt
und Asche.“ Ich schob ihn beiseite, ging in seine Wohnung zum
Fernseher: „Wer greift Amerika an?“
„Das weiß man nicht.“
Und
da sah ich die Bilder: das World Trade Center, ein Turm brannte, in den
anderen klatschte gerade ein Flugzeug. Aber was mich in diesem Moment
viel mehr erschütterte, war die Silhouette diese Bauwerkes, zwei große
Türme auf einer Insel oben nicht spitz, sondern flach, wie
abgeschnitten: die Silhouette von Notre Dame.
Da
stand es, das Symbol des Kapitals: das World Trade Center, riesig groß
wie der Turm zu Babel, aber mit einer Silhouette wie die Kathedrale von
Notre Dame. Und ich bin sein buckliger Glöckner.
Ein
Glöckner ist einer, der die Leute zum Gottesdienst ruft, zum
Götzendienst für unser Wirtschaftssystem, für die Gierwirtschaft.
Ich
wusste absolut nicht was ich schockierender finden sollte, den Angriff
aufs World Trade Center, oder den auf mein Selbstverständnis als
buckliger Glöckner von Notre Dame, dem Diener einer satanischen
Wirtschaft, vermutlich letzteren.
Nachtrag am 16.04.2019:
Ich
muss sagen, dass mich der gestrige Brand der Kathedrale von Notre Dame
doch ziemlich erschüttert hat, denn dadurch erhält der Traum noch eine
besondere Note, fast so als hätte er erst heute stattgefunden, also
nachdem ich sowohl von den Angriffen aufs World-Trade-Center als auch
vom Brand in der Kathedrale von Notre Dame gehört habe und hätte dies
zum Anlass genommen, diese Szenen im Traum zu verknüpfen. Tatsächlich
aber wusste ich damals weder von dem einen noch vom anderen Ereignis.
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