Ein Märchen von Horst Gunkel (April 2004)
Vor langer, langer Zeit, als die Welt noch nicht aus Computern und Telefonen bestand, sondern aus Burgen und Märchen, lebte in einem namenlosen Land eine wunderschöne Prinzessin namens Amanda.
Als das Mädchen zu einer jungen Frau herangewachsen war, kam ein Edelmann daher, um sie zu freien. Amanda war überglücklich darüber, denn in der dunklem, kalten, grauen Burg ihres Vaters gefiel es ihr nicht mehr. So fiel sie dem jungen Edelmann um den Hals und beide küssten sich inniglich. Kaum war die erste Aufwallung des Küssens vorbei, und sie hatte ihm ihre Liebe gestanden, stellte der Edelmann jedoch eine Bedingung, die vor der Hochzeit zu erfüllen sei: man müsse sich sieben Jahre prüfen, bevor eine Ehe eingegangen werde. Da jedoch Amanda ein besonders liebes Mädchen war, willigte sie artig ein, denn sie kannte das alte Sprichwort, das da lautet: „Darum prüfe, wer sich ewig bindet.“
Die erste Zeit, die der junge Edelmann und die schöne Prinzessin Amanda miteinander verbrachten, war sehr schön, und sie liebte ihn sehr. Doch von Jahr zu Jahr bemerkte Amanda, das ihr Edelmann keineswegs nur Augen für sie hatte. Während sie die Abende in der grauen Burg ihres Vaters verbrachte und auf die Besuche ihres Liebsten wartete, amüsierte er sich auf frohen Festen mit anderen Jungfrauen. Amanda aber wurde immer trauriger. Und während sie im Burghof mit ihren Hunden spielte und diesen ihr Leid klagte, rannen bittere Tränen über ihre schönen Wangen.
Da begab es sich, dass ein Magier, ein alter Zauberer aus einem fernen Königreich, vorbeiritt. Er sah die Tränen im Antlitz der schönen Prinzessin und sie dauerte ihn.
„Welch´ Kummer bedrückt dich, schönes Kind?“ fragte er Amanda, und sie erzählte ihm von ihrem Kummer.
„Du arme, kleine Prinzessin, komm mit mir, ich zeige dir die Schönheit der Welt!“
Zunächst war sich Amanda höchst unschlüssig, befand sie sich doch in der Prüfungsphase mit ihrem Edelmann, aber schließlich willigte sie ein.
Süß schmeckte der Honig dieser neuen Liebe und Amanda erlebte ihre bis dahin schönste Zeit. So war es kein Wunder, dass sie sich ganz von dem jungen Edelmann trennte und in den Armen des Magiers aus dem fernen Land endlich das Glück fand, das sie so lange vermisst hatte.
Doch leider ist alles Glück vergänglich, und der alte Zauberer musste zurück in sein fernes Königreich.
„Aber ich liebe dich doch!“ sagte Amanda mit Tränen in den Augen.
„Ich liebe dich auch, Prinzessin,“ antwortete der Magier, „daher werde ich nicht zulassen, dass du in der Bug deines Vaters versauerst. Ich verspreche dir hiermit feierlich, dich jedes Jahr zu besuchen, dann können wir ein oder zwei Wochen gemeinsam das Leben und die Liebe genießen. Und damit du nicht einsam bist werde ich dir ein wunderschönes Spielzeug schenken: Goldene Stäbe.
Die Prinzessin war neugierig, welches Wunder der alte Magier ihr nun wieder bereiten würde, doch dieser nahm seinen Zauberstab und – Simsalabim – verwandelte er die Prinzessin in einen wunderschönen kleinen Vogel. Dann nahm er das Vögelchen behutsam auf die Hand und sagte: „Damit du nicht nass wirst, mein Vögelchen, werde ich dir ein Schloss schenken.“ Und selbigen Augenblickes erschien vor ihnen ein prächtiges Schloss. Der Magier ging mit dem Vögelchen hinein und brachte es in ein Zimmer, in dem nur ein kleines Fenster Tageslicht hineinließ, dennoch war es nicht dunkel dort, denn an der Wand brannte eine Öllampe, das Öllicht der Erinnerung.
„Hier darfst du auf mich warten“, sagte er und das Vögelchen Amanda freute sich über seine Worte. Ihr kam nicht in den Sinn, wie ähnlich dieses Schloss der Burg ihres Vaters war und auch die Ähnlichkeit des Wartens auf den Magier mit dem früheren Warten auf ihren Edelmann fiel Amanda nicht auf, denn sie liebte diesen Magier wirklich.
„Ich habe noch ein kostbares Geschenk für dich“, sagte der alte Magier und – Simsalabim – erschien ein zwei Meter großer goldener Stab, der aufrecht im Zimmer stand und gar lieblich funkelte. Von diesem Stab ging ein süßes Aroma aus, das die Prinzessin irgendwie an die Lippen das Magiers erinnerte, sodass sich das Vögelchen Amanda an diesem herrlichen Stab gar nicht satt sehen, satt riechen und satt schmecken konnte, so honigsüß war dieser, und lustvoll rieb sie ihren jungen, gefiederten Körper an dem wohligen Stab und ein wonnevolles Gefühl durchschauerte sie.
„Das wunderbarste an diesem Stab“, erläuterte er Magier, „wir sich dir jedoch erst erschließen, wenn ich weg bin. Solche Stäbe riechen nicht nur gut, sie schmecken nicht nur gut, wenn man an ihnen leckt, sie sehen in ihrem goldenen Glanz nicht nur wundervoll aus und es ist auch nicht nur das wonnegleiche Gefühl, wenn man sich an ihnen reibt, sie reizen auch noch einen weiteren Sinn...“
Amanda kam dies alles wunderbar vor und sie war ihrem Magier so dankbar für alles. Mit einem innigen letzten Kuss für lange Zeit verabschiedeten sich die beiden. Dann aber verschwand der Magier in einer Rauchwolke.
Das Vögelchen Amanda fühlte sich plötzlich sehr einsam und es flog nach oben zu dem einzigen Fenster im Raum, um den Frühling draußen blühen zu sehen, denn in den dicken Mauern des Schlosses war es auch um diese Jahreszeit empfindlich kalt.
Doch andererseits zog der goldene Stab des Magiers unser kleines Vögelchen magisch an. So flog sie zu dem Stab zurück, um daran zu riechen. Doch was war das? War das eine Täuschung der Sinne? Hörte sie wirklich die Stimme des Magiers, ihres Herrn und Meisters? Oder war das nur eine Sinnentäuschung?
„Wie fühlst du dich, mein kleines Vögelein?“ hörte sie die Stimme des fernen Magiers.
„Wundervoll, wenn ich nur deine Stimme höre!“ brach es freudevoll aus ihrer Brust hervor.
„Es ist schön, wenn du dich wundervoll fühlst,“ kam die Antwort.
Da blieb dem Vögelchen Amanda vor Verwunderung das Schnäbelchen offen stehen. Das konnte keine Einbildung sein! ER hatte wirklich geantwortet. Sie konnte mittels des Stabes mit ihm in seiner fernen Heimat sprechen! Es wurde ein herrlicher Abend, drei Stunden sprachen sie miteinander, honigsüß schmeckte diese neue Begegnung und jede Berührung des blanken Goldes gab Amanda neue Freude!
Glücklich schlief sie ein und ebenso glücklich erwachte sie, kaum dass der Morgen graute. „Guten Morgen, Meister,“ sagte sie – doch der Stab schwieg. Sie redete auf den Stab ein, versuchte ihn aufzumuntern, doch der Stab schwieg. Sie berührte ihn, doch es war nur ein kalter goldener Stab.
Und wieder verbrachte Amanda einen Tag unter Tränen. Doch als der Tag sich neigte, als nur noch Dämmerlicht durch das Fenster drang, hörte sie plötzlich eine ihr wohlvertraute Stimme: „Guten Abend, was hast du heute gemacht, mein Vögelchen?“ Glücklich sah sie zu dem goldenen Stab, doch dann wurde ihr klar: die Stimme kam aus einer anderen Richtung. Hoffnungsfroh drehte sie sich um, erwartete sie doch ihren Herrn und Meister zu sehen, der zurückgekommen sein musste. Doch ihren erstaunten Augen bot sich ein ganz anderer Anblick: dort stand ein zweiter goldener Stab, ebenso groß und aufrecht wie der erste, aber mit einem gewaltigen Unterschied: dieser konnte noch sprechen, mit diesem konnte sie in Verbindung mit ihrem Meister treten und süßer, berückender Duft strömte von diesem neuen goldenen Stab aus. Sie war so glücklich!
„Meister, der erste Stab spricht nicht mehr“, vertraute sie ihm an.
„Das ist ganz normal“, antwortete der alte Zauberer, „diese Art Zauber hält nur eine Nacht, dann ist zwar noch die goldene Farbe und der süße Geschmack an dem Stab, doch die Weiterleitung des gesprochenen Wortes in ferne Länder funktioniert nicht mehr.“
„Aber Meister, dann werde ich dich nicht mehr hören können!“
„Keine Angst mein Vögelchen, ich werde dir jeden Tag einen neuen Stab senden.“
Da war Amanda wirklich glücklich. Und tatsächlich wiederholte sich das kleine Ritual jeden Tag aufs Neue, Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr. Und immer konnte sie, sobald es draußen dunkel war und nur noch das Öllicht der Erinnerung seinen warmen Schein in den goldenen Stäben widerspiegeln lies, mit ihrem Herrn reden.
100 Stäbe stehen jetzt südlich von Amanda und 100 stehen nördlich von ihr, 100 östlich und 100 westlich. Weitere 100 Stäbe bedecken dieses Quadrat von oben in der Länge und abermals 100 in der Breite. Nach oben ist es nicht mehr möglich, zwischen den goldenen Stäben durchzukommen, nicht einmal für ein so zierliches Vögelchen wie Amanda. Daher ist sie schon lange nicht mehr zu dem Fenster geflogen, um den Anblick des Frühlings zu genießen.
Doch Amanda hat einen anderen Genuss: den allabendlichen Kontakt mit ihrem Freund, dem Magier, denn er sendet ihr jeden Abend einen weiteren goldenen Stab. In der letzten Zeit wuchsen sie auf der westlichen Seite, diesmal nicht senkrecht, sondern waagrecht. Bald wir auch ein sehr schlankes Vögelchen nicht mehr nach Westen durchpassen. Doch Amanda will schon lange nicht mehr weg. Sie wartet auf die süßen Stäbe wie eine Raucherin auf die Zigaretten.
Eines Tages jedoch geschah etwas Unerwartetes. Von droben aus den Bergwäldern kam ein Waldeinsiedler des Weges und sah das verwunschene Schloss. Er schlug mit seinem Wanderstab an das Portal das Schlosses – und siehe da, es öffnete sich. Er ging durchs ganze Schloss, bis er an eine Tür kam, die ihn magisch anzog. Auch diese Tür berührte er mit seinem Wanderstab und sie öffnete sich. In dem kleinen, kühlen, düsteren Raum sah er das lieblichste Vögelein, das er je zu Gesicht bekommen hatte und auch das Vögelein bemerkte, das etwas Merkwürdiges geschah.
„Aber warum bist du denn“, fragte der Einsiedler; „in einem goldenen Käfig gefangen?“
„Aber ich bin doch nicht gefangen! Das sind diese wundervollen Stäbe, mit denen ich des Abends meinem Herrn lauschen kann!“
„Aber warum willst du in diesem düsteren Zimmer den ganzen Tag darauf warten jemandem des Abends zu lauschen, wenn draußen der herrlichste Garten ist mit wunderschönen Blumen, blühenden Bäumen und den vielfältigsten Vögeln? Dort liegt das Reich der Freiheit! Komm, lass mich dich hinbringen!“
„Aber nein, ich muss doch bereit sein, wenn mein Meister nach mir ruft!“
Ein Wort gab das andere, doch schließlich einigten sie sich. Das Vögelchen würde heimlich im Süden, wo bislang nur Längsstäbe, keine Querstäbe sind, durch den engen Zwischenraum zwischen den Stäben schlüpfen, um mit dem Einsiedler dorthin zu gehen, wo man aus dem Fenster schauen kann. Da das Vögelchen jedoch besonders ängstlich war, achtete es darauf, dass es immer noch mit einem Flügel, zumindest mit einer Feder, den Käfig berührte. Der Frühling sah wunderschön aus.
„Komm, lass uns rausgehen und ihn genießen,“ schlug der Einsiedler vor, obwohl das gegen die Gewohnheiten des sonst so zurückgezogenen Mannes war.
„Aber nein, das geht doch nicht, ich muss doch da sein, wenn mein neues Stäbchen erscheint!“
„Aber das baut doch deinen Käfig, dein Gefängnis!“
„Aber es fühlt sich so gut an!“
Das Vögelchen lehnte sich bereits wieder – wenn auch von außen – mit dem Rücken an seinen Käfig und säuselte: „Ich muss zurück!“
Der Einsiedler wollte sich von dem kleinen Vögelchen mit einem Kuss verabschieden, doch sie drehte schnell den Kopf zur Seite, denn sie wusste, was ein Kuss ausrichten würde: sie würde sich wieder zurückverwandeln in die Prinzessin, die sie eigentlich war. Doch als Prinzessin Amanda wäre sie zu groß, sie würde nie wieder in ihren goldenen Käfig zurückkehren können, der doch ihre Heimat geworden war.
Nachdenklich verließ der Einsiedler das Schloss, doch er kehrte nicht in seine Einsiedelei hoch droben im Wald zurück. Schon bald kam er wieder ins Schloss. Und oft besuchte er das Vögelchen, dessen Käfig täglich von einem weiteren goldenen Stab begrenzt wurde, immer undurchdringlicher wurde.
Das Vögelchen war jetzt sehr unruhig. Da war auf der einen Seite der goldene Käfig mit der Stimme ihres geliebten Meisters und da waren dessen regelmäßigen Besuche, einmal jährlich. Die wollte sie unter keinen Umständen aufgeben. Andererseits war der Einsiedler bereit, aus seiner Einsiedelei zurück in die Welt zu kommen und ihr zu helfen, wo er konnte – sagte er jedenfalls.
„Ich mache dir einen Vorschlag,“ sagte der Einsiedler bei seinem nächsten Besuch und legte seine Hand auf ihren Flügel, „komm aus deinem Käfig. Schon lange geben dir die Stäbe nicht mehr die gleiche Wonne wie anfangs. Vergiss die Stäbe. Lass uns nicht nur aus dem Fenster schauen. Lass uns in den Garten herausgehen, in die Natur, lass uns das Leben genießen. Und wenn immer du magst, kannst du zurückgehen ins Schloss zu den Stäben – aber von außerhalb des Käfigs.“
„Aber ich liebe meinen Meister“, sagte das Vögelchen und seine Stimme klang zwar kleinlaut aber bestimmt.
„Tu das, liebe ihn, wenn er da ist, aber komme heraus aus deinem Gefängnis!“
„Warum tust du das, Einsiedler, warum willst du mich unbedingt hier herausholen?“
„Ich liebe die Freiheit. Ich liebe die freie Entfaltung der Wesen mehr als alles, mehr als mich selbst! Dich möchte ich in die Freiheit führen!“
Da erinnerte sich Amanda, wie sie einst dem jungen Edelmann gefolgt war, der sie aus der Burg ihres Vaters erlösen sollte, und sie erinnerte sich daran, wie dies sie in die Gefangenschaft der siebenjährigen „Prüfung“ gebracht hatte. Sie erinnerte sich, dass der Magier gekommen war, sie aus der leidvollen Beziehung mit dem Edelmann zu erlösen, und sie sah, dass sie in einem goldenen Käfig gelandet war. Sie bekam Angst: jeder Fluchtversuch aus den verschiedenen Gefangenschaften ihres Lebens hatte sie in ein neues Gefängnis geführt. Ihr jetziges Gefängnis hatte seine guten Seiten, seine Vorteile, warum sollte sie diese gegen ein neues, unbekanntes Gefängnis eintauschen?
Der Einsiedler aber antwortete, als hätte er ihre Gedanken gelesen: „Ich bin kein Gefangenenwärter. Ich will dich wirklich befreien, dich zu dir selbst führen. Dazu muss ich dich aber erst von deinen goldenen Stäben befreien. Wenn du den Mut dazu hast, ist dieser Schritt in wenigen Tagen erreicht. Aber ich habe noch mehr vor: Ich möchte dich ganz befreien – auch von mir. Wenn du mitmachst, bist du in zwei drei Jahren soweit, dass du eine starke, selbstbewusste Frau bist, dann bedarfst du meiner nicht mehr. Du kannst dann selbstbewusst mit allen Menschen umgehen, auch mit dem Magier, und du wirst einen jungen Prinzen treffen, dessen Kinder du austragen kannst und mit dem du ein großes Herrschergeschlecht begründen kannst – wenn du das willst. Du kannst auch etwas anderes tun. Es ist dann dein selbstbewusster Wille, der entscheidet.“
„Und was wird aus dir, Einsiedler?“
„Wenn hier getan ist, was zu tun ist, werde ich weiterziehen, wie ich dies seit Jahrtausenden mache. Du wirst mich nicht vermissen, denn du bist dann emanzipiert – auch von mir. Ich werde aber hin und wieder vorbeischauen, wie es dir geht. Ein alter Freund eben.“
Nachdenklich ging Amanda zurück zu ihrem goldenen Käfig. Der Einsiedler sah ihr nach. Sie lehnte jetzt von außen am Käfig. Sie war – noch ? - nicht wieder hineingeschlüpft, war aber in Kontakt mit dem Käfig. Der Einsiedler sagte nichts. Diese Entscheidung würde Amanda allein treffen müssen.
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