Gechichten aus dem Vajrayana-Buddhismus
Milarepa I
- Schwarze Magie -
erzählt  von Horst Gunkel
(c) Copyright Horst Gunkel - letzte Änderungen 2015-02-01

Es war im 11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, zu jener Zeit also, da Tibet noch nicht vom Buddhismus durchdrungen war, aber es gab bereits einzelne buddhistische Lehrer neben der noch starken tibetischen Bön-Religion und neben allerlei Magie.
 
Auf einem Bauernhof am Rande einer kleinen Stadt lebte eine Familie mit einigen Kindern, darunter der etwas zwielichtige junge Held unserer Geschichte, Milarepa. Als Milarepas Vater starb, kam es zwischen der Mutter und den Verwandten des Vaters zu Erbstreitigkeiten, wie dies nicht nur damals und nicht nur in Tibet eine häufig geübte Praxis war. Diese Erbstreitigkeiten wuchsen sich so weit aus, dass sich eine regelrechte Feindschaft entspann.

Milarapas Mutter fühlte sich zu unrecht benachteiligt und sann auf Rache. Sie lebte allein mit ihren Kindern in dem abgelegenen Gehöft in Sichtweise des Städtchens, und ihre Feindschaft zur Verwandtschaft steigerte sich allmählich zur Obsession. Häufig stand sie mit verschränkten Armen und verbissenem Gesicht am Fenster und blickte zornig auf die Anwesen ihrer Verwandten hinab. Fieberhaft arbeitete es in ihrem wütenden Hirn, denn wie sollte sie, eine einzelne Witwe mit kleinen Kindern, sich gegen die Übermacht der Verwandtschaft zur Wehr setzen? Mit normalen Mitteln war dies nicht möglich. Also blieben nur paranormale Mittel, über die sie leider nicht verfügte. Sie sehnte sich danach, als black magic woman ihre Verwandten heimzusuchen.

Es gab in dieser Zeit in Tibet zahlreiche Meister der Magie. Manche von ihnen setzten diese Kräfte zum Nutzen der Menschen ein, beispielsweise als Heiler, aber es gab auch die anderen, die Meister der Schwarzen Magie - und genau dies fesselte die Gedanken von Milarepas Mutter. In ihr reifte ein teuflischer Plan heran, bei dem der Sohn zum Mittel ihrer Rache werden sollte.

Der begabte Sohn war seiner Mutter treu ergeben - wie auch anders, war sie doch praktisch die einzige erwachsene Person, zu der der Junge Kontakt hatte, und natürlich übertrug sie ihren in Verfolgungswahn wurzelnden manischen Hass auf ihre Kinder. Man kann geradezu sagen, diese Familie war ein Musterbeispiel dafür, was der Gießener Psychoanalytiker und Arzt Prof. Horst-Eberhard Richter im 20. Jahrhundert in seinen Büchern "Eltern, Kind, Neurose" und "Patient Familie" beschrieben hat.

Als Milarepa zum Tenager herangewachsen war, und er genug von der Familienneurose in sich aufgesogen hatte, schickte seine Mutter ihn in die Lehre zu - wie konnte es anders sein - einem Meister der Schwarzen Kunst. Und schon bald war Milarepa so weit, seiner Mutter mit ersten Diensten zu Hilfe zu eilen. So gelang es ihm, das besondere Wohlwollen seiner Mutter dadurch zu erringen, dass er einen Gewittersturm entfesselte und so genau platzierte, dass zwar die Ernte der Verwandtschaft (und die eines großen Teils der anderen Bauern) vernichtet wurde, nicht jedoch die auf den eigenen Feldern. Natürlich ging bald die Kunde, dass Milarepas Mutter mit schwarzen Mächten im Bunde war und selbst wohl eine gefährliche Hexe sei, dies um so mehr als wenige Tage nach dem Gewittersturm der Wortführer von Milarepas feindlicher Verwandtschaft auf geheimnisvolle Weise plötzlich verstarb.

Milarepa aber ging weiter in die Lehre beim Meister der Schwarzen Magie, auch wenn sich in ihm inzwischen leichte Zweifel hegten, ob denn das alles richtig sei, was er da mache. Einerseits konnte er die Leiden der Menschen in der Stadt erahnen, andererseits geriet er, wann immer er das elterliche Anwesen betrat, in den Bann seiner Mutter. In ihm regte sich der natürliche Wunsch, von ihr, die ihm sein Leben geschenkt hatte, geliebt und anerkannt zu werden. Fataler Weise verlangte sie jedoch von ihm, seine magischen Kräfte zum Schaden der Verwandtschaft einzusetzen.

Im nächsten Jahr kehrte er wieder von seiner Ausbildung in der Schwarzen Kunst zurück, und erneut hegte er die Hoffnung, seiner Mutter irgendwie anders dienstbar sein zu können, vielleicht als Erntehelfer, denn er war inzwischen ein starker junger Mann. Aber erneut wurde er von dem geheimnisvollen Wirken der mütterlichen Neurose eingefangen, und er gab ihren Wünschen erneut nach - von heftigen Zweifeln ob seines Wirkens gepackt, aber letztlich doch aus Liebe zur Mutter führte er - diesmal unter Tränen - einen noch stärkeren Zauber aus: ein Unwetter beschwor er herauf, das seinen Fokus genau dort hatte, wo die verhasste Verwandtschaft lebte. Der Zauber hatte einen doppelten Erfolg: einerseits die Vernichtung der Verwandtschaft, andererseits wurde er zum Wendepunkt in Milarepas Leben.

Als die Kunde davon, was das Unwetter angerichtet hatte, auf ihren Hof drang, war die Mutter hocherfreut: der Zauber hatte tatsächlich die Häuser der Verwandtschaft zerstört, keine dieser verhassten Familien kam ungeschoren davon, insgesamt 18 Verwandte waren umgekommen, Männer, Frauen und Kinder, dazu zahlreiches Vieh. Die Mutter war stolz auf ihren Sohn Milarepa und dieser erhielt das kostbarste Familienerbstück, einen großen, wertvollen Edelstein.

Milarepa selbst war alles andere als begeistert vom Erfolg seiner Taten. Er nahm den Edelstein, den Blutlohn, setzte sich hinter das Haus und heulte die ganze Nacht Rotz und Wasser. Am nächsten Tag stand sein Entschluss fest: er musste hier weg. Er musste sich vom Enfluss seiner Mutter befreien, er musste wegziehen und das Gute lernen, um das Böse, das in ihm eine Heimstatt gefunden zu haben schien, zu bekämpfen. Während seiner Lehrzeit hatte er von anderen Meistern gehört, die andere geheime Künste berherrschten, u. a. vom Meister Marpa, der den tantrischen Buddhismus praktizierte. Zu diesem wollte er, um ihn um eine Unterweisung zu bitten.

Selbigen Tages verlies Milarepa den Ort seiner Schandtaten, verließ die Mutter und sollte sie zeitlebens nicht mehr wiedersehen. Erst sehr viel später, nach Jahrzehnten, als aus ihm ein weiser Siddhi geworden war, als Milarepa als der Sänger der 10.000 Lieder galt und als Tibets berühmtester Yogi, sollte er an die Stätte seines frühen Wirkens zurückkehren, aber zunächst folgten Sühnejahre.



Erst nach Jahrzehnten kehrte Tibets großer Yogi Milarepa also in seinen Geburtsort zurück. Natürlich erkannte ihn, einen unbekannten Wanderer, dort niemand mehr, und so konnte er sich im Ort inkognito nach seinem Elternhaus erkundigen.

"Ja, das Haus gibt es, aber ihr solltet dort nicht hingehen, es ist ein verwunschener Ort, die Heimstatt des Bösen."

"Ist es denn noch bewohnt?" erkundigte sich Milarepa.

"Das weiß niemand genau, weil sich niemand dem Haus weniger als auf eine Meile nähert. Vor langer Zeit wohnte dort eine böse Hexe, die Tod und Verderben über unsere Stadt brachte. An solch verwunschene Stätte begibt sich niemand. Wir können froh sein, dass von dort seit langem kein Unheil mehr über uns kam."

Milarepa begab sich zu seinem Elternhaus, es sah verlassen aus. Er klopfte. - Nichts. - Er rief. - Nichts. Dann versuchte er die Tür zu öffnen. Sie fiel ein. Er trat ins Haus. Gespenstische Stille. Es sah aus, als sei seit Jahrzehnten nicht mehr sauber gemacht worden. Zentimeterdick lag der Dreck herum. Es gab längst keine Mäuse oder Ratten mehr, denn es gab nichts, wovon diese sich hätten ernähren können.

Er trat in die Küche. Das gleiche Stillleben. Doch nein, da war ein Unterschied, mitten in der Küche lag ein kleiner Haufen Erde. Milarepa wollte sich gerade davon abwenden, da asoziierte er plötzlich ein Bild aus seiner Jugend, und er wandte sich wieder diesem Erdhaufen zu. Es war der Stofffetzen, der aus dem Erdhaufen herausschaute, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte und der plötzlich das Bild von seiner Mutter vor seinem geistigen Auge erscheinen ließ. Er ging hin und zog den Fetzen heraus. Tatsächlich, das Muster kannte er, es war das Muster eines Kleides seiner Mutter. Eine Träne in den Augen zog er weiter an dem Stoff und jetzt kamen einige halb vermoderte menschliche Knochen aus dem Erdhäufchen zum Vorschein.

Einige Momente stand Milarepa andächtig schweigend vor den letzten Resten seiner Mutter. Dann kniete er nieder, schob den Erdhaufen, die Knochen und die Kleiderfetzen zu einer Art Kissen zusammen und setzte sich darauf nieder um sich in einer die ganze Nacht dauernden Meditation zu sammeln.



Milarepa war nach Hause zurückgekehrt als er sicher war, dass das hasserfüllte Herz seiner Mutter ihm nicht mehr gefährlich werden konnte. Er war bereit, sich mit der Vergangenheit ein letztes Mal auseinanderzusetzen und sich über das hinwegzusetzen, was seine verpfuschte Jugend ausgemacht hatte.

Ich kenne keine andere Geschichte in der die Aufarbeitung einer Psychose und das "sich darüber hinwegsetzen" so buchstäblich ausgedrückt wird wie an der Stelle, als sich Milarepa in der Meditation "über seine Mutter hinwegsetzt".



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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.