Horst Gunkel: Die Jesus-Trilogie - Band 2: Jesus - die Jahre 30 - 96 - Kapitel 23 letztmals bearbeitet am 12.10.2025
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- Schwerter zu Pflugscharen
Seit dem schrecklichen Auftritt Jawaharlals waren inzwischen drei Jahre vergangen. Jeevan war verstorben und kurz darauf auch seine Frau Ajala, sodass der Gasthof nunmehr von Lalita, Tejas Frau, geleitet wurde. In dem Zimmer, in dem früher Jeevan untergebracht war, war zunächst Narendra eingezogen, Anups Vater, der dement war, kurz darauf ein zweiter Dementer namens Ranjid. Häufig war jedoch jeder von beiden morgens sehr verstört, dass da noch ein fremder Mann in seinem Zimmer war, sodass es sich Sunay zur Gewohnheit gemacht hatte, die beiden einander jeden Morgen erneut kurz vorzustellen. Außerdem kamen tagsüber inzwischen noch sechs alte Menschen, vier Frauen und zwei Männer, die nicht mehr arbeitsfähig waren, zur Tagesbetreuung ins Heim der himmlischen Betreuung, tagsüber saßen diese dann meist im Gasthof und unterhielten sich oder beschäftigten sich mit Brett- oder Würfelspielen.
Es waren noch einige weitere Siedler dazugekommen, die von der Metta-Sangha gehört hatten. Unter den etwas früher zugezogenen Siedlerinnen waren inzwischen einige Kinder geboren worden, und Naina, die zu den ersten Siedlerinnen gehörte, hatte nunmehr die Betreuung derjenigen Kinder übernommen, die den Windeln entwachsen waren. Dabei wurde sie unterstützt von Amandita, die mit ihrem einen Arm keine voll einsatzfähige Arbeitskraft war, aber auch so gesund, dass sie nicht im Heim der himmlischen Betreuung gepflegt werden musste.
Amita hatte nach ihren beiden Töchtern Taracitta und Maria im letzten Jahr auch einen Sohn zur Welt gebracht, sie hatte ihn Nilay genannt, im Andenken an ihren Bruder, der sie damals mit zum Kloster Weiße Wolke gebracht und später zusammen mit Yuz nach Bodh Gaya begleitet hatte. Und auch Yuva war Mutter geworden, sie war im letzten Jahr von einem strammen Jungen entbunden worden, dem sie den etwas anspruchsvollen Namen Bodhi gegeben hatte.
Es gab nur noch zwei Familien im Ort, die sich nicht der Metta-Sangha zugehörig fühlten, weil sie aus der Zeit stammten, als das Dorf noch Sitas und Jagans Gutshof war, alle anderen hatten sich inzwischen der Sangha angeschlossen.
Da die Gemeinschaft gewachsen war, gab es jetzt sechs Studienkreise, an jedem Wochentag nachmittags einen anderen. In diese Studienkreisen waren Frauen und Männer nach wie vor getrennt. Dabei war jeweils einer dieser Studienkreise für Anfänger, ein weiterführenden Studienkreis und einer für Erfahrene. Die Studienkreise für Erfahrene wurden von Amita, Yuz und Yuva geleitet, wobei immer zwei der drei anwesend waren, meist Yuz und eine der Frauen, während sich die andere um die kleinen Kinder beider Frauen kümmerte. Alle anderen Studienkreise wurden von anderen Personen geleitet, die ihrerseits selbst am Studienkreis der Erfahrenen teilnahmen.
Obwohl durch diese Studienkreise und die Uposatha-Feier etwa ein Drittel der Zeit für andere Arbeiten fehlte, führte die Tatsache, dass die Mitglieder der Metta-Sangha sowohl achtsamer als auch kooperativer und gebildeter als der Landesdurchschnitt waren, nicht etwa dazu, dass die Pro-Kopf-Produktion an Lebensmitteln und Produkten zum Weiterverkauf geringer war als in anderen Dörfen, sie lag sogar etwas höher. Da es hier auch keine Spreizung des Wohlstandes zwischen einzelnen Kasten gab, wie das im Rest von Bhārat Gaṇarājya der Fall war, waren auch die Zufriedenheit und der durchschnittliche Wohlstand höher.
Außerdem gab es Unterricht für Kinder in zwei Klassen. Die jüngeren – in der Regel die Sechs- bis Achtjährigen – wurden in der dritten und vierten Stunde1 unterrichtet, die älteren bis etwa zum zwölften Lebensjahr in der 5. bis 7. Stunde (nach Sonnenaufgang). Diese größeren Kinder halfen anschließend auch beim Abwasch, Aufräumen und Putzen in der Küche und im Gastgarten.
Man kann also sagen, dass die Metta-Sangha sehr viel besser durchorganisiert war als andere indische Dörfer. Yuz hatte dieses Konzept des Unterrichts in Anlehung an das gemacht, was damals in Galiläa für die Mittel- und Oberschicht üblich war und wovon sich die jüdische Erziehung von jener der Menschen in den damals nichtjüdischen Dörfern Palästinas abhob.
„Wir wollen hier das Beste aus dem Abendland mit dem Besten aus dem Morgenland verbinden – und es dann noch weiter verbessern, zum Segen aller”, mit diesen Worten hatten Yuz dieses Konzept den Bewohnern des Dorfes seinerzeit schmackhaft gemacht. Allerdings nahmen an all diesen Veranstaltungen die zwei bereits oben erwähnten Familien nicht teil. Es wurde allerdings auch kein Druck auf sie ausgeübt. Vielmehr vertauten Amita und Yuz auf die positive Ausstrahlung ihres Modellprojektes einer spitituellen Gemeinschaft, womit sie inzwischen auch fast alle Alteingesessenen überzeugt hatten, ebenso, wie die neuen Siedler, die von der Strahlkraft der Metta-Sangha angezogen worden waren.
So ging alles seinen routinierten Gang, bis eine Frau, die auf den Feldern gearbeitet hatte, plötzlich in den Unterricht der Männerstudiengruppe für Fortgeschrittene, die an diesem Tag von Yuz und Amita geleitet wurde, platzte und rief: „Schaut doch bitte einmal, dort auf dem Berg steht ein einzelner Mann mit einem Schwert und schaut auf unser Dorf. Ich glaube, ER ist es.”
Amita und Yuz sahen einander an, sie wussten sofort, wer mit „ER” gemeint war. „Besprecht das Thema, das wir gerade hatten, doch miteinander weiter, wir gehen gerade mal nach dem Rechten sehen”, sagte Amita ihrem Studienkreis und folgte dann Yuz, der den Raum bereits verlassen hatte.
Die beiden gingen mit der Frau, die ihnen das gemeldet hatte, vors Dorf. Tatsächlich: da war ein Mann mit einem Schwert, er war jedoch nicht beritten, er ging zu Fuß auf sie zu. Die Frau, die das hl. Paar informiert hatte, lief ins Dorf: „Er kommt, er kommt!”, rief sie.
Auch der Studienkreis hatte jetzt die Halle verlassen, manche folgten Yuz und Amita in deutlichem Abstand, andere rannten nach Hause um ihre Familien zu warnen.
Jetzt standen sich Javāharlāl auf der einen und Yuz und Amita auf der anderen Seite einander gegenüber, sie sahen sich an. Keiner sagte etwas. Javāharlāl sah jetzt sehr viel älter aus, als vor drei Jahren. Sein Haar hing ihm wirr ins Gesicht, seine Augen sahen verquollen aus, sein Gesicht war rot.
Inzwischen waren viele Dorfbewohner erschienen, die sich in etwa vierzig Schritt Entfernung hinter Yuz und Amita versammelt hatten. Unter ihnen war auch Amandita, die sich aber hinter anderen verbarg.
„Du bist gekommen,” sagte Yuz, was zwar keinerlei Informationsgehalt hatte, aber Javāharlāl aufforderte, sich zu erklären.
Javāharlāl sah äußerst unglücklich aus. Er hatte sich bestimmt lange auf diesen Moment vorbereitet, dennoch wusste er jetzt nicht, was er sagen sollte. Dann fasste er sich ein Herz: „Yuz, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hast du gesagt: `Komm erst zurück, wenn du ein Mensch bist, du Bestie!´ Du hattest recht, ich war eine Bestie. Aber ich bin jetzt leider noch immer kein Mensch. Ich weiß nicht einmal, was ich bin. Aber ich weiß, das ich große Schuld auf mich geladen habe. Ich bitte dich daher, mich hier und heute zu richten, um meiner Qual ein Ende zu bereiten.” Damit kniete er nieder und legte das Schwert vor Yuz mit den Worten nieder: „Oh, Herr, ich bin gekommen, um von dir gerichtet zu werden.”
„Schlag der verdammten Bestie den Kopf ab!” rief es von hinten. Yuz drehte sich langsam um und sprach den an, der das gerufen hatte: „Das konnte nur von dem kommen, der niemals unsere Veranstaltungen besucht hat, der noch immer nicht weiß, was Metta ist.”
„Mein Papa hat recht, schlag dem Kerl den Kopf ab!” tönte es von hinten. Ein anderer sagte. „Nicht den Kopf, schlag ihm beide Arme ab!” Worauf er allerdings die Antwort eines anderen Mannes aus der Menge erhielt: „Wer nicht zu unseren Versammlungen kommt, sollte jetzt auch seinen verdammten Mund halten!”
Nun erhob Amita beide Arme: „Schweigt!” - und augenblicklich war es still. Dann fuhr sie fort: „Bist du bereit, Javāharlāl, jede beliebige Strafe zu akzeptieren?”
„Ja, ich bin es!”
Amita sah ihren Partner an: „Yuz, nimm das Schwert.”
Der stutze nur kurz, dann nahm er das Schwert. Javāharlāl machte seinen Hals frei, dann senkte er seinen Kopf, sodass er sein Genick darbot, um gerichtet zu werden.
Amita drehte sich um und wandte sich den Vielen zu, die da standen. „Männer und Frauen, seid ihr bereit, dass Yuz sein Urteil verkündet, das im Einklang mit dem Dharma steht, und dass es sofort vollstreckt wird?”
Erstaunlicherweise stimmten jetzt am lautesten diejenigen zu, die immer in Opposition zu Yuz standen, die nie zu den Versammlungen gekommen waren: „Ja, Yuz, richte ihn hin!” „Weg mit der Bestie!”
Manche nickten, andere wussten nicht, wie sie sich verhalten sollen, nur Yuva sprach laut und deutlich aus, was viele dachten: „Tu es Yuz, verkünde das Urteil, das im Einklang mit dem Dharma steht, und vollstrecke es!”
„So sei es denn”, sprach Yuz; „Ich verkünde hiermit das Urteil, das im Einklang mit dem Dharma steht: Javāharlāl, du wirst hiermit dazu verurteilt, lebenslänglich den Behinderten im Heim der himmlischen Betreuung zu dienen. Und da du festgestellt hast, das du zwar keine Bestie mehr bist, aber auch noch kein Mensch geworden bist, wirst du außerdem zur Teilnahme an unseren Studienkreisen verpflichtet.”
Javāharlāl, der nicht wusste wie ihm geschah, küsste Yuz die Füße.
Einer der beiden Haushälter, die nicht zur Sangha gehörten, aber nicht der, der so laut die Hinrichtung gefordert hatte, sondern der andere, etwas zurückhaltendere stellte jetzt die Frage: „Aber Yuz, das Schwert, was ist denn jetzt mit dem Schwert?”
Yuz sah ihn belustigt an: „Himal, du bist doch Schmied! Ich beauftrage dich aus diesem Schwert eine Pflugschar zu schmieden!”
„Eine Pflugschar aus einem Schwert?”
Da hatte Yuz so etwas wie einen Rückfall in seine prophetische Zeiten, denn er verkündete: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.”2
Dann ging Javāharlāl zusammen mit Yuz und Amita Richtung Heim der himmlischen Betreuung. Die Menschenmenge teilte sich, um sie durchzulassen. In der hintersten Reihe stand Amandita, die um einige Schritte rückwärtsging, als sie Javāharlāls Nähe spürte. Er sank sofort wieder auf die Knie: „Ich bin totunglücklich über das, was ich dir angetan habe, meine Liebe, nicht nur mit dem Arm, auch all die Jahre zuvor. Ich war totsterbensunglücklich. Ich war ein Opfer meiner Gier, ein Opfer des Hasses, der mein Beruf als Krieger war, und ich war ein Opfer meiner Verblendung, der Verblendung, dass mich Gier glücklich machen würde und der irrigen Annahme dass Unglück verschwände, wenn man Feinde tötet. Inzwischen weiß ich, dass ich auf einem Irrweg taumelte. Ich habe nunmehr drei Jahre lang von dem Unheil geträumt, dass ich dir und anderen angetan habe, bin jede Nacht schweißgebadet und voller Furcht vor mir selbst aufgewacht. Ich weiß, dass du mir nicht verzeihen kannst. Aber wann immer es etwas gibt, dass ich für dich tun kann, oder für unser Kind, dann sag es mir, und ich werde versuchen es zu ermöglichen.”
Amandita fühlte sowohl ihre Furcht als auch sein Leiden: „Ich glaube, Javāharlāl, es ist das Beste, wenn du genau das tust, was Yuz gesagt hat: arbeite im Heim der himmlischen Betreuung, aber nicht nur, weil es deine Strafe ist, sondern mach es mit Empathie, mit Metta. Und lerne in den Studienkreisen den Dharma kennen, die gute Lehre. Ich weiß, dass auch du dafür empfänglich bist, ich habe es gesehen, als wir das erste Mal hier waren. - Ach, und noch eins: halte immer mindestens zwanzig Schritte Abstand von mir. Alles andere kann ich nicht ertragen. - Jedenfalls vorläufig nicht.”
„Danke, Amandita, ich werde alles so machen, wie du es wünschst.”
Dann führte Yuz ihn zu Sunay, der ihn in seine Tätigkeit einweisen sollte, auf dem Weg dorthin fragte er Javāharlāl noch: „Habe ich recht, dass du in den vergangenen Jahren völlig daneben warst und allen deinen Besitz, dein Haus, dein Pferd verkaufen musstest, um dein erbärmliches Leben zu finanzieren?”
„So ist es, Meister!”
Dann wandte sich Yuz an Sunay: „Dieser hier wird künftig im Heim der himmlischen Betreuung arbeiten. Du kannst ihn mit all dem beauftragen, was sonst keiner machen möchte, das wird ihm helfen, sich zu läutern.” Sunay nickte. Er beauftragte Javāharlāl zunächst damit, die Zimmer zu säubern. Als Javāharlāl fertig war, fragte er Sunay, was noch zu tun sei. Der antwortete mit einer Gegenfrage: „Hast du einen Vorschlag?”
Javāharlāl war zunächst überrascht, dann dachte er einen Moment nach, schließlich sagte er: „Sita liegt ganz oft allein in ihrem Zimmer, ich könnte zu ihr gehen und mich mit ihr unterhalten. Ich habe gehört sie hätte von dir große Dharma-Kenntnisse erworben. Das wäre ein sehr gutes Gesprächsthema."
Sunay klopfte ihm anerkennend auf die Schulter: „Prima Idee!”
Worauf Javāharlāl einen Weinkrampf bekam; zuerst war Sunay verunsichert, dann nahm er den Weinenden in die Arme. Es dauerte einen Moment, bis der sagte: „Das war das erste Mal seit Jahren, dass mich jemand gelobt hat, und jetzt auch noch in den Arm genommen hat.”
„Willkommen in der Metta-Sangha!” war Sunays Antwort.
Am Abend hörte man aus dem Haus des Schmiedes Himal und aus dessen Nachbarhaus noch lange laute Stimmen, es schienen auch Personen aus dem einen Haus ins andere zu gehen, es musste sich wohl um einen Streit handeln. Am nächsten Morgen kam Rajiv, das war der Mann, der am Tag zuvor so lautstark die Hinrichtung Javāharlāls gefordert hatte, ins Haus der hl. Familie. Amita stillte gerade Nilay.
Rajiv sagte: „Ich möchte das Dorf verlassen.” Yuz zuckte mit den Schultern: „Und?”
„Ich überlasse euch das Haus, möchte aber dafür eine kleine Gegenleistung.”
Yuz schüttelte den Kopf: „Du hast unser Dorf noch immer nicht verstanden, Rajiv. Damit habe ich nichts zu tun. Amita und ich leiten die Metta-Sangha. Du gehörst der Sangha nicht an. Wir sind nur für das Spirituelle zuständig, also nicht für dich.
„Dann muss ich mich an Raj wenden?” - „Ja, Rajiv, er ist der Leiter unserer Produktionsgemeinschaft.”
„Na, dann geh ich mal.”
„Leb wohl!”
„Und viel Glück noch!” rief jetzt auch Amita, die er nicht einmal gegrüßt hatte, ihm nach.
Also wurde Rajiv bei Raj vorstellig: „Guten Tag, Geschäftsführer, meine Familie und ich, wir wollen die Produktionsgemeinschaft verlassen. Wir lassen unser Haus hier und bitten im Gegenzug um einen Büffel, der unseren Karren zieht.”
„Was ist mit Himal, dem Schmied?”
„Der wird bleiben, außerdem werden leider auch meine beiden ältesten Kinder nicht mitkommen, sie sind ja schon zwölf und dreizehn. Sie haben sich entschieden hier zu bleiben und der Metta-Sangha beizutreten.”
Raj nickte und fragte seinen Mitarbeiter: „Liem, geht das in Ordnung ihm einem Büffel aus unserem Vermögen gegen das Haus zu überlassen?”
Der nickte: „Das geht voll in Ordnung, wir können der Familie sogar noch eine kleine Gewinnbeteiligung aus unseren Erträgen der letzten Jahre abgeben: vier Goldstücke wären wohl angemessen.”
So wurde Rajiv verabschiedet, und er wusste nicht wie ihm geschah, denn er hatte nur auf einen Büffel gehofft und nun auch noch vier Goldstücke erhalten, obwohl er darum gar nicht gebeten hatte. Er wäre gar nicht auf die Idee gekommen, danach zu fragen! Und erstmals kamen ihm Zweifel, ob es richtig gewesen sei, der Sangha nicht beizutreten, hier galten offenbar ganz andere Maßstäbe als außerhalb. Aber jetzt war es zu spät. Er tröstete sich damit, dass seine beiden ältesten Kinder in den Genuss der Sangha kämen und er seine Frau nachher noch mit den Goldstücken überraschen könnte. Vielleicht sollte er ihr sagen, dies sei auf sein Verhandlungsgeschick zurückzuführen sei, überlegte er.
Während Rajiv dann mit seiner Frau und den Kindern den Karren packte, kam Yuz ins Nachbarhaus zum Schmied Himal: „Wollte mal fragen, wie das mit der Pflugschar aussieht?”
„Kann ich vermutlich morgen machen, wenn die Esse heiß genug ist. Du hast gehört das Jajiv wegzieht?”
„Ja, habe ich gehört, und auch dass es offensichtlich letzte Nacht lautstarke Auseinandersetzungen gegeben haben soll.”
„Das ist richtig. Er wollte, dass wir mitkommen. Wir haben uns in unserer Familie beraten, unsere Kinder möchten auch in die Sangha. Da haben wir uns entschieden, auch mitzumachen. Ist doch irgendwie besser, wenn alle an einem Strang ziehen.”
„Ja, da hast du recht. Kommt doch zum Mittagessen einfach heute mal alle in den Gasthof und bringt auch die beiden Kinder von Rajiv mit, die hier bei uns bleiben, dann können wir alles in Ruhe besprechen.”
So geschah es, und so kam es, dass jetzt das ganze Dorf zusammenstand, dass bald alle der Metta-Sangha angehörten. An der Aufteilung in eine Produktionsgemeinschaft, die von Raj und Liem geleitet wurde und in eine Sangha, die Yuz und Amita leiteten, änderte sich hingegen ebensowenig wie an der Tatsache, dass es den Rat als gemeinsames Gremium gab.
Javāharlāl gliederte sich gut in die Gemeinschaft ein, obwohl er von den allermeisten Dörflern noch mit Argwohn betrachtet wurde. Im Heim der himmlischen Betreuung versah er umsichtig alle anfallenden Arbeiten, insbesondere alle ekligen Tätigkeiten mit einer Art demütigem Eifer. Er nahm an der Anfängerstudiengruppe teil, die von Teja geleitet wurde, und zählte dort zu den Wissbegierigsten, zu den Eifrigsten. Bei der Uposatha-Feier hielt er sich im Hintergrund, das Einzige, was auffiel, war, dass er häufig an den ergreifenden Stellen weinte.
Wann immer es ihm möglich war, weil er etwas Freizeit hatte, beobachtete er den Abenteuerspielplatz aus einiger Entfernung, dort wo Naina und Amidita häufig mit den Kindern waren, darunter auch sein Sohn Raj-i.
Als Amandita ihn erstmals sah, wie er den Spielplatz betrachtete, war ihr heiß und kalt geworden vor Sorge um ihren kleinen Sohn. Doch allmählich begriff sie, dass er vermutlich einfach nach ihm schaute, weil er sich ebenso nach ihm sehnte, wie sie, als sie bei ihrer ersten Reise zur Metta-Sangha so lange von ihm getrennt war. An diesem Tag fasste sie sich ein Herz, nahm ihren Sohn bei der Hand und ging auf Javāharlāl zu. Der bekam es mit der Angst, weil er sich ihr doch nicht auf weniger als zwanzig Schritt nähern durfte, und drehte sich um, um wegzugehen, aber sie rief ihn an: „Bleib stehen. Du darfst dich zwar mir nicht nähern, aber ich darf mich dir nähern.”
Er blieb stehen, drehte sich zu ihr und Amandita sagte zu ihrem Kind: „Schau nur mal, wer da ist!”
Jai-i sah seinen Vater an, Entsetzen breitete sich im Gesicht des Kindes aus. „Das ist der böse Mann, der mich so schlimm getreten hat!” Raj-i riss sich von seiner Mutter los und rannte zurück zum Spielplatz, wo Naina die anderen Kinder betreute.
Amandita hatte den Impuls ihrem Söhnchen nachzurennen und es zu trösten, warf dann aber zuerst einen Blick auf Javāharlāl. Der war zusammengesunken, saß auf dem Boden und weinte bitterlich: „Ja, er hat recht, ich bin der böse Mann! Der böse Mann, der alles kaputt macht, der sogar kleine Kinder mit einem Tritt in die Ecke feuert.” Und Amandita tat etwas, von dem sie nie geglaubt hätte, dass sie es tun könnte: sie setzte sich zu ihm und nahm ihn in den einen ihr verbliebene Arm. Er lehnte sich an ihre Schulter und weinte seinen ganzen Schmerz heraus. Amandita redete verständnisvoll auf ihn ein. „Das stimmt nicht, du bist nicht der böse Mann. Aber du warst früher einmal der hasserfüllte, verblendete Mann, der sich oft nicht im Griff hatte. Der bist du aber heute nicht mehr. Ich fühle doch, dass du deinen Sohn genauso liebst, wie ich ihn liebe.”
„Aber er hat es nicht vergessen, Raj-i hasst mich, und ich habe seinen Hass verdient. Yuz hat damals gesagt, ich sei eine Bestie und soll erst wieder kommen, wenn ich ein Mensch geworden sei. Das bin ich aber noch immer nicht, und das macht mich so verzweifelt. Irgendwie hat Raj-i recht, das Böse in mir ist nicht tot. Es gelingt mir zwar, es zu unterdrücken und die andere Seite von mir, die Seite der liebenden Güte, zu päppeln, dabei hilft mir auch ganz sehr der Studienkreis und die Uposatha-Feier. Aber ich spüre doch auch, dass das Böse noch in mir ist. Und Raj-i hat es eben auch gespürt, deshalb hat er Angst und ist weggelaufen. Ich habe auch Angst. Aber ich kann doch nicht vor mir weglaufen. Das war der Grund, warum ich wollte, dass Yuz mich mit dem Schwert richtet. Dann wäre das Böse tot.”
„Oder es wäre mit dir wiedergeboren worden. Vielleicht bist du ja von einem Dämon besessen, so wie meine Mutter es war. Yuz hat dann deren Dämon ausgetrieben. Weißt du was? Wir zwei gehen jetzt einfach zu Yuz und Sita und schildern dein Problem. Vielleicht kann Yuz ja deinen Dämon auch austreiben.”
„Daran hatte ich auch schon gedacht, aber ich habe mich nicht getraut ihn zu fragen.”
„Na, dann komm jetzt mal mit, armer kleiner ängstlicher Javāharlāl. Vielleicht kann dir ja Yuz helfen.”
Unterwegs sagte er weinend aber bewundernd zu Amandita: „Du bist so lieb zu mir, obwohl ich so entsetzlich zu dir war.”
Sie lächelte: „Weißt du, Javāharlāl, das hier ist die Metta-Sangha. Und Metta ist die stärkste Kraft im Universum, stärker als das schärfste Schwert.”
Tatsächlich gingen die beiden Arm in Arm zum Haus der hl. Familie, Amita und Yuz saßen davor und unterhielten sich. Sie waren offensichtlich kein bischen erstaunt, als sie die Einarmige und den Täter dieses Verbrechens Arm in Arm ankamen sahen.
„Ihr seid gekommen, wie schön”, begrüsste sie Amita.
Dann schilderte Amandita das Problem ihres Mannes.
„Ihr wollt also eine Dämonenaustreibung”, fragte Yuz.
„Genau, so wie du das bei meiner Mutter auch erfolgreich getan hast.”
Yuz sah die beiden an: „Ihr wart damals nicht dabei. Ich habe in der Tat den äußeren Dämon, der Sita übernommen hatte, ausgetrieben. Aber damit war die Sache leider nicht ausgestanden. Es ist nämlich nicht so, dass ein von außen kommender Dämon einen völlig edlen und geläuterten Menschen übernehmen kann. Dieser äußere Dämon braucht so etwas wie eine Andockstation in seinem Opfer, ein Wesenszug, der das Dämonische gewissermaßen willkommen heißt, diese Andockstation ist die Schattenseite der eigenen Person. Sita war einige Zeit geheilt, aber ihre Schattenseite war ihre Suchtanfälligkeit, das ist eine bestimmte Konjunktion zwischen Gier und Verblendung. Sie wurde rückfällig und war wieder der Trunksucht verfallen. Daraufhin haben die guten Geister, die sie zuvor beschützt hatten, sich von ihr abgewandt. Daher hatte sie keinen Schutz mehr und der Treppenssturz konnte geschehen. Danach haben wir sie von Alkohol ferngehalten, was einfach war, da sie das Bett allein nicht verlassen kann. Wir haben sie gewissermaßen ausgetrocknet, sodass diese spezifische Konjunktion aus Gier und Verblendung nicht mehr aktiviert werden kann.”
Javāharlāl sah Yuz traurig an: „Wenn ich dich richtig verstehe, ist in mir auch so eine Andockstation für einen äußeren Dämon. Und diese ist noch aktiv. Es kann also jederzeit wieder passieren.”
„Ja und nein, Javāharlāl, es war schon einmal fast so wie jetzt. Als du erstmals hier warst, warst du nach der Uposatha-Feier schon relativ frei von dem äußeren Dämon. Als du aber von hier, von der Metta-Sangha, dem Ort, wo die Kräfte des Guten gebündelt sind, weggingst, hat dich der Gewaltdämon wieder in Griff bekommen.”
Amandita versuchte zusammenzufassen: „Du meinst also, solange Javāharlāl hier bleibt, vielleicht demnächst Dharmamitta wird, ist er in Sicherheit, brauchen wir ihn nicht zu fürchten, aber diese innere Andockstation bekommen wir nicht weg.”
„Richtig”, sagte Yuz, „daher kann ich für dich nichts tun.”
Javāharlāl nickte traurig und Amandita wollte gerade aufstehen, da mischte sich Amita ein: „Es ist zwar augenscheinlich so, dass Yuz da nichts für euch tun kann, aber ich denke, es gibt eine andere Methode.”
„Was für eine andere Methode?” fragte jetzt Yuz erstaunt.
„Als ich im Nonnenkloster war, haben wir auch mit Dämonen gearbeitet. Eine der ältere Nonnen hatte da sehr viel Erfahrung damit, sie hat andere Nonnen behandelt.”
Jetzt war Amandita verstört: „Da ist aber doch ein Widerspruch, wenn ein Ort wie die Metta-Sangha vor Dämonen schützt, dann muss das im Nonnenkloster doch auch so sein.”
„Ist es ja auch, die Nonnen hatten ihre Probleme genauso im Griff wie Javāharlāl jetzt hier die seinen. Aber das, was Yuz als `Andockstation´ bezeichnet hat, das haben wir im Nonnenkloster als inneren Dämon angesehen, und den kann man sehr wohl behandeln.”
Yuz schaute ungläubig: „Dann ist der innere Dämon weiter da, aber kann gesunden?”
„Genau”, antwortete Amita, „und ein gesunder Dämon ist ein Beschützer.”
„Ein Dämon als Beschützer?” Das waren Yuz Worte der Verwunderung.
Nun belehrte Amita ihren Mann: „Aber Yuz, du sprichst doch griechisch, was bedeutet denn das Wort Dämon?”
„Eigentlich heißt Dämon3 einfach `Geistwesen`”, antwortete Yuz, und fuhr dann fort: „das römische Wort dafür ist `Genius´. - Heißt das womöglich, dass ein Dämon und ein Genie das gleiche sind?”
„Metall ist Metall – man kann daraus Schwerter machen oder Pflugscharen,” wusste Javāharlāl.
„Eben”, freute sich Amita, „du hast es genau verstanden. Und ebenso wie Himal aus deinem Schwert eine Pflugschar machte, so können wir aus deinem inneren Dämon einen Beschützer machen.”
„Wie soll das gehen?”, wollte Yuz wissen.
„Indem wir ihn füttern!”
„Den Dämon füttern???” fragten jetzt alle.
„Und ihn so in einen Schutzgeist verwandeln!” bestätigte Amita.
Nun fiel Javāharlāl auf die Knie: „Bitte füttere meinen Dämon!”
Amita schüttelte den Kopf: „Nicht ich werde ihn füttern, Javāharlāl, sondern du. Allerdings nach meinen Anweisungen. Wir müssen uns dazu in einigen Therapie-Sitzungen treffen – unter vier Augen, oder sechs, wenn wir die des Dämonen dazurechnen.” Und als sie Yuz enttäuschtes Gesicht sah, beruhigte sie ihn: „Keine Angst, ich werde dir davon berichten, und du Javāharlāl, darfst auch davon erzählen – allerdings erst nach dem Ende der Therapie.”
`Amita will Therapie-Sitzungen! Bin ich jetzt doch noch bei den Therapeuten gelandet?´, fragte sich Yuz, der als Jugendlicher ursprünglich einmal erwogen hatte, zu dieser Gruppierung in Ägypten zu gehen, um den Dharma zu suchen.
Dann verabredeten sich Amita und Javāharlāl zur ersten Therapiesitzung im Haus der hl. Familie. Bei diesem Termin sagte Amita dann jedoch: „Lass uns nach draußen gehen, ich habe am See einen Platz gefunden, der genau den Erfordernissen entspricht.” Sie gingen also etwas am See entlang, dorthin wo man keine spielenden Kinder mehr traf. „Dieser Platz ist ideal, finde ich, schau zum See Javāharlāl, was siehst du?”
„Nun
ich
sehe den See, das Seeufer, es ist etwa zwanzig Schritte
von uns entfernt, der See hat hier keinen schönen Strand,
wie weiter vorne, sondern ist mit Schilf bewachsen, das
Wasser wirkt eher trüb.”
„Und hörst du auch etwas?
„Ja, ich höre Frösche, manchmal auch so ein Glucksen. Vermutlich ist der See hier eine ziemlich unappetitliche modrige Brühe.”
„Vielleicht so wie in den Tiefen deines Bewusstseins, wo sich das versteckt hält, das wir jetzt auffinden wollen?”
„Ja, Amita, das kann ich mir gut vorstellen. Damit möchtest du mich jetzt konfrontieren?”
„Dreh´ dich erst einmal um und sieh in die andere Richtung! Was erblickst du da?”
„Da sehe ich unseren Tempel. Er steht höher, ich muss etwas zu ihm aufblicken, weiß aber, dass ich dorthin gehen kann, dass er erreichbar ist für mich, ich muss halt ein wenig aufwärts gehen. Über dem Tempel ist der strahlend blaue Himmel. Ich muss die Hand etwas hochhalten, weil mich die Sonne ein wenig blendet, um alles zu sehen. Es ist in dieser Richtung etwas zu hell für meine Augen.”
„Ja, Javāharlāl, das leuchtende Licht kannst du noch nicht so gut aushalten, du hast immer noch die modrige Brühe in deiner Nähe, der du aber jetzt den Rücken zugekehrt hast, aber da vorn steht der Tempel, ein Haus der Geborgenheit und so etwas wie der Wohnsitz des Transzendeten, das jedoch in Wirklichkeit so unendlich ist wie der blaue Himmel darüber und von ebensolcher Strahlkraft wie die Sonne.”
„Sollte ich jetzt darauf zugehen?”, vermutete Javāharlāl, der versuchte herauszufinden, was Amita mit ihm vorhatte.
„Nein, Javāharlāl, du erkennst zwar sehr richtig, worauf es herausläuft, aber das wäre nur ein Versuch des Weglaufens vor dem modrigen Dickicht, das doch weiter in dir vorhanden wäre. Stelle dich vielmehr diesem modrigen Dickicht.”
Er drehte sich herum: „So jetzt stelle ich mich diesem Sumpf!”
„Das, lieber Javāharlāl, ist wieder dein alter Kampfmodus, du stellst dich dem Feind, kampfbereit. Man siegt aber nicht durch Kampf, sondern durch Verständnis, Liebe und Zuneigung, daher gehen wir jetzt vom Kampfmodus über in den Metta-Modus. Setz´ dich ganz entspannt hin und schaue noch etwas auf den Sumpf.”
Javāharlāl tat, wie ihm geheißen; er setzte sich nieder und betrachtete das schmuddelige Dickicht.
„Du siehst jetzt mit deinen Augen das Äußere, wir aber wollen das Innere erforschen, schließe also die Augen und blicke nach innen. Suche deinen Dämon. Wo ist er? Suche nach der Stelle und den Orten, wo du das Dämonische spüren kannst.”
Javāharlāl schwieg eine Weile, dann
sagte er: „Ich spüre es ganz deutlich, es ist in Brust und
Bauch.”
„Kannst du es noch genauer lokalisierern?”
„Ja, es reicht links oben bis in den Herzbereich und zieht sich nach rechts unten bis in die Lebergegend.”
„Aha, und wie fühlt es sich an?”
„Auf jeden Fall unangenehm. Es hat etwas von Enge, von Verhärtung.”
Amita nickte: „Versuche es noch genauer zu beschreiben, wie ist seine Beschaffenheit, seine Temperatur und seine Farbe?”
Javāharlāl fühlte in sich hinein, es dauerte etwas, bis er es beschreiben konnte: „Es ist hart. - - - Aber nicht steinhart; mehr so wie ein verkrampfter Muskel, der schmerzt. - - - Obwohl es in mir ist, wirkt es erstaunlich kalt und dadurch etwas fremd. - - - Und die Farbe ist dunkelrot - - - nein eher bräunlich. - - - Es hat die Farbe wie ein verrostetes Schwert, das auf einem alten Schlachtfeld liegt und an dem noch das Blut derer klebt, die damit dahingemetzelt wurden.”
„Das hast du sehr gut, sehr anschaulich beschieben, du hast deinen Dämon gefunden. Jetzt braucht er sich nicht mehr zu verstecken. Stell dir vor, er sitzt dir gegenüber. Sie ihn dir an, wie sieht er aus? Und wenn du etwas siehst, dann beschreibe ihn.”
Wieder schwieg Javāharlāl eine zeitlang, doch dann löste sich seine Zunge: „Er hat die gleiche rostbraun-rötliche Farbe wie das rostige Schwert. - - - Aber er ist nicht glatt, er hat ein Fell wie ein räudiger Hund. - - - Er ist nicht besonders groß, und eher älter als ich, er ist auch etwas verwachsen, hat einen Buckel.”
Amita fragte nach: „Du hast gar nichts über seine Arme gesagt, die müssen dir doch aufgefallen sein, und seine Augen.”
„Ja, natürlich, die Arme! Er hat drei Arme, rechts einen und links zwei. - - - Nein, da gibt es noch einen Stummel rechts. Vermutlich der Rest eines Armes, der abgeschlagen wurde – oder abgebissen! Das erinnert... und die Augen! Sie haben sich eben – als ich daran gedacht habe – von Zorn erfüllt, die Adern in den Augäpfeln sind rot angelaufen und er hat die Augen zusammengekniffen, vorher sahen sie eher wie bei einer alten Frau aus, tief in den Höhlen, enttäuscht und frustriert, dass es einen dauern konnte.”
„Kannst du etwas über seinen Charakter sagen?”
„Eigentlich ist er ein armseliger, vom Leben enttäuschter Wicht. - - - Irgendwie so, wie ein verbitterter alter Veteran. Doch wenn er spürt, dass etwas ihn in seiner Ehre verletzt, dann erwacht der Kämpfer in ihm und er wird zornig, so zornig, dass er gegebenfalls bereit wäre sein Schwert wieder zu zücken und zuzuschlagen!”
„Gut,
Javāharlāl, ich nenne jetzt drei Fragen,
die du dem Dämon stellen sollst. Wenn ich sie
ausgesprochen habe, wiederholst du sie:
1. Was willst du von mir?
2. Was brauchst du von mir?
3. Wie fühlst du dich, wenn ich dir das gebe, was du
brauchst?”
Javāharlāl wiederholte die Fragen, die Amita vorgesprochen hatte. Kaum war er damit fertig, da sagte Amita: „Steh´auf und setz dich auf den Platz, auf dem gerade der Dämon saß!”
Javāharlāl, der vorher mit dem Blick zum modrigen Ufer des Sees sah, wechselte den Platz, so dass er jetzt Richtung Tempel saß. Amita forderte ihn auf: „Schließ die Augen, stell dir vor du bist jetzt der Dämon und beantwortest dem Javāharlāl, der dir gegenüber sitzt, die drei Fragen.”
Es dauerte einige Augenblicke, bis Javāharlāl sagte: „Was ich von dir will? Ich bin deine unterdrückte Seite, die nur Gerechtigkeit will, ich will von dir gehört und anerkannt werden, nicht immer weggeschubst werden! Und was ich von dir brauche, Javāharlāl: ich brauche von dir Gerechtigkeit und Unterstützung bei dem, was gerecht ist.”
Da er schwieg erinnerte Amita ihn leise an die dritte Frage: „Wie fühlst du dich, wenn du bekommst, was du brauchst?”
„Wenn ich bekomme, was ich brauche, fühle ich mich endlich anerkannt, ich bin doch die Seite in dir, die Gerechtigkeit für die Unterdrückten will, der Kämpfer, der Anwalt der Entrechteten. Wenn du das siehst, könnten wir sogar Partner sein! Nähre mich mit deiner Anerkennung!”
Nun griff Amita als Leiter der Veranstaltung wieder ein: „Gut, steh auf und wechsle wieder den Platz, du bist wieder Javāharlāl, sieh dir den bedauernswerten Dämon vor dir an!
Javāharlāl tat wie ihm geheißen. Er blickte jetzt mit Verständnis auf den Dämon, wie ein weiser, abgeklärter Vater auf das eigene trotzige, pubertierende Kind. Nunmehr forderte Amita ihn auf: „Der arme Dämon braucht Nahrung. Stell dir daher vor, wie du diesen Dämon nährst, löse deinen eigenen Körper in Nektar auf. Nektar in einer Schale, von der der Dämon trinkt. Und erwecke, sobald er davon trinkt, das Gefühl in dir von Anerkennung für den gewaltfreien Kampf gegen das Ungerechte, das Gewalttätige. Du bist opfermütig, also opfere dich auf zum Wohl des Dämonen und aller fühlenden Wesen, die der ganze Weltraum birgt. - Wenn du das Gefühl hast, dass der Dämon gesättigt ist, kannst du deine Augen wieder öffnen.4
Als er dies schließlich tat, sah Javāharlāl Amita mit großen Augen an: „Merkwürdig, obwohl ich mich im Geiste aufgeopfert habe, fühle ich mich jetzt gut und stark!”
Amita bestätigte dies: „Ich weiß, das kommt daher, dass du jetzt integrierter bist. Der Buddha sagte: `Nicht der ist wahrhaft tapfer, der in 1000 Schlachten 1000 Feinde besiegt, sondern derjenige, der sich selbst besiegt hat.´ Damit weißt er darauf hin, dass man das Böse in sich selbst besiegen muss. Da aber Hass niemals Hass besiegt, sondern nur Liebe in der Lage ist Hass zu besiegen, wie der Buddha an anderer Stelle sagte, bedeutet das, dass man sich selbst dadurch besiegt, dass es einem gelingt die widersprüchlichen Aspekte der eigenen Person zu integrieren. Daran haben wir heute gearbeitet. Integrierte Menschen zu schaffen, gewaltlose Kämpfer für das Wahre, Schöne, Gute, das ist die Aufgabe der Metta-Sangha. Wenn du magst, können wir morgen weitermachen.
„Sehr gern!” sagte Javāharlāl, dann sank er zunächst vor ihr auf die Knie nieder, anschließend machte er eine Prostration, eine Ganzkörper-Verbeugung.
„Gut, Javāharlāl , dann bis morgen zur gleichen Zeit.”
Als Amita am nächsten Tag an den See ging, saß Javāharlāl nachdenklich auf seinem Platz. Nachdem sie sich neben ihn gesetzt hatte, sagte er: „Amita, mir ist da etwas aufgefallen. Dieser Dämon hat doch drei Arme...”
„Ja,” sagte Amita, „es ist naheliegend, dass das ein Zeichen für ein Schuldkomplex ist, der nicht nur an deiner Frau eine Wunde hinterlassen hat, sondern auch an dir, bzw. an dem inneren Dämon, der ja ein Teil von dir ist.”
„Das ist aber nur das eine, das wirklich Naheliegende. Es gibt da aber noch etwas. Ich habe gesagt, der Stummel sähe aus als sei da ein Arm abgeschlagen oder abgebissen worden, abgebissen! Das ist doch merkwürdig! - Als ich das allererste Mal hier war und mit euch gegessen habe, habe ich gefragt, wo das Fleisch sei. Dann hat eines der Mädchen, die in der Küche helfen, gesagt, `Du hast Glück, das Fleisch ist noch an deinem Arm dran, wir schlachten und essen hier keine fühlenden Wesen, du brauchst also keine Angst um deinen Arm zu haben.´ Das habe ich damals für die Äußeruung eines kleinen, frechen Mädchens gehalten. Aber dann habe ich bei der Uposatha-Feier erfahren was Metta ist: alle Wesen so zu lieben, wie das einzige eigene Kind. Als mich dann Amandita mit meinem Kind verlassen hat, hatte ich gefühlt, wie das ist, das eigene Kind zu verlieren. Und wenn ich danach Fleisch aß, ist mir aufgfallen, dass ich das geliebte Kind einer Tiermutter aß. Ich bin damals noch nicht Vegetarier geworden, sondern habe versucht, meinen Schmerz durch Schnaps zu betäuben. Das hat aber nicht geholfen: Es hat Wunden in mir hinterlassen. Ein klares Zeichen ist der fehlende Arm des Dämons, der Teil von mir ist. Mir tut Amandita leid, der ich den Arm abschlug, mir tun alle die Tiermütter leid, deren Kinder ich aß und mir tut sogar dieser Dämon mit dem fehlenden Arm leid!”
„Das hast du sehr gut analysiert, willst du heute diesem Dämon erneut begegnen?”
„Ja, ich denke das wäre hilfreich.”
„Dann setz dich auf deinen Platz, das Gesicht dem See zugewandt und schließe die Augen!”
Javāharlāl tat wie ihm geheißen. Dann sagte Amita: „Wir bitten dich erscheine.”
Aber Javāharlāl wiederholte: „Bitte, Harlal, erscheine!”
Offensichtlich hatte Javāharlāl dem Dämonen inzwischen einen Namen gegeben, einen Name der ausdrückte, dass er ein Teil seiner selbst war.
„Beschreibe deinen Freund Harlal”, forderte Amita ihn auf.
„Harlal, sieht heute besser aus, erholter. Er hat zwar noch ein Fell wie ein Hund, aber nicht mehr wie ein räudiger Hund. Auch die Farbe seine Fells scheint um eine Nuance heller zu sein. Sein Rücken ist etwas weniger gekrümmt. Was insbesondere auffällt sind die Augen, sie sind nicht mehr so traurig, liegen nicht mehr ganz so tief in den Augenhöhlen. Sie sehen frischer aus, wacher, aufnahmebereiter.”
„Möchtest du dich mit ihm unterhalten?”
„Gerne! - Guten Tag Harlal, mein Freund, bist du heute wieder hungrig, möchtest du erneut von meinem Nektar trinken?”
Der Dämon verneinte.
„Harlal, ich möchte, dass wir Freunde werden. Wann immer du wieder des Nektars bedarfst, oder etwas anderem, sag es mir.”
Der Dämon wollte gegebenfalls darauf zurückkommen.
Amita gab eine Empfehlung: „Du kannst jetzt eine oder mehrere Fragen an den Dämon stellen. Er wird sie beantworten, sobald ich ihm die Erlaubnis dazu gebe.”
Javāharlāl dachte kurz nach, dann sagte er: „Harlal kannst du mir auch irgendwie helfen, mich vielleicht sogar beschützen? Und wenn ich dich brauche, wie kann ich dich herbeirufen?”
Sobald Amandita gemerkt hatte, dass er mit seinen Fragen fertig war, sagte sie: „Javāharlāl steh auf und setz dich auf die andere Seite, sobald du sitzt kannst du deinem Meister als Harlal antworten.”
Nachdem Javāharlāl den Platz des Dämonen eingenommen hat sagte dieser: „Wann immer du meine Hilfe brauchst kannst du mich rufen, das tust du, indem du die rechte Hand auf dein Herz legst. Dann werde ich dir helfen, indem ich deine Wut besänftige und dir die richtigen Worte in den Mund lege, die angemessen sind. Dazu muss ich aber mehr von der Lehre verstehen. Geh also mit mir regelmäßig zu den Veranstaltungen der Metta-Sangha, dann lerne ich die richtige Weise, hilfreich zu sprechen, und kann dir die geeigneten Worte in den Mund legen.”
Nachdem er aufgehört hatte zu reden, forderte Amandita ihn zum letzten Mal für diesen Tag auf, auf seinen Platz zurückzugehen, Blickrichtung See. Sobald er Platz genommen hatte bat sie ihn, Harlal für seine versprochene Unterstützung zu danken, dann tief auszuatmen und mit der darauf folgenden langsamen aber tiefen Einatmung, Harlal ganz in sich aufzusaugen.
Der tat wie ihm geheißen. Als Amita hörte, wie er tief einatmete und damit zu Ende kam, wies sie ihn noch an: Lass deinen Geist ruhen, verweile einfach in dem Gefühl ein integrierter Mensch zu sein: Javā und der geläuterte Harlal sind jetzt eins.
Fußnoten
1 Die Bezeichnung „Stunde“ bezieht sich auf die Stunden seit Sonnenaufgang. Eine Stunde betrug also immer (sommers wie winters) ein Zwölftel der Zeit zwischen Sonnenauf- und -untergang.
2 Das ist ein Zitat aus dem Tenach. Das Buch des Propheten Micha ist ein Buch des Alten Testaments in der Bibel (=Micha 4.3-4). Es ist nach dem Propheten Micha benannt, der im 8. Jahrhundert v.u.Z. in Israel lebte. Das Buch besteht aus sieben Kapiteln und enthält sowohl prophetische Ankündigungen als auch moralische Lehren. (Quelle, Stand 20.04.2024: https://jesusimpuls.de/altes-testament/buch-zwoelf-kleine-prophetenauslegung/micha/
3 Ein Daimon
(altgr. δαίμων) ist in der griechischen Mythologie und
Philosophie ein Geistwesen. Die daimones
vermitteln zwischen Göttern und
Menschen. Ein besonderes Konzept ist das des „persönlichen“ Daimons,
die Personifikation der Schicksalsbestimmung eines Menschen. Dem
griechischen Daimon entspricht weitgehend der römische Genius.
(Wikipedia 23.04.2024)
4 Die Methode geht auf eine Geschichte zurück, die der Buddha erzählte. Die
Methode wurde dann u. a. im Tibet durch Machig Labdrön ab
dem 11. Jhd. u. Z. angewendet. Im 20. Jhd. hat die Amerikanerin Tsültrim
Allione die Methode unserer Zeit angepasst. Ihre Methode wird
ausführlich geschildert in Tsültrim Allione: Dem Dämon
Nahrung geben, München 2008.
Erläuterungen
Bhārat Gaṇarājya – (Sprache: Hindi) indische Bezeichnung für IndienBodh-Gaya – Stelle, an der der Buddha seine Erleuchtung erreichte. Das Wort ist zusammengesetzt aus bodh- (Erwachen, Erleuchtung) und Gaya (Name der nahegelegenen Stadt)
Bodhi – siehe Erwachen
Dharma – hier gewöhnlich die Bezeichnung für die Lehren des Buddha. Das Wort bedeutet Wahrheit, (Natur-)Gesetz, Wissenschaft, Lehre.
Dharmamitta – in diesem Buch die Bezeichnung für eine Person der Metta-Sangha, die eine Zeremonie der Zufluchtnahme gemacht hat
Erwachen – andere spirituelle Traditionen sprechen von Erleuchtung, im Buddhismus verwenden wir besser den Ausdruck „Erwachen“ für das, was der Buddha erreicht hat. Während unter „Erleuchtung“ jeder etwas anderes verstehen kann, beschreibt „Erwachen“ das spezifisch Buddhistische, die Tatsache, dass die erwachte Person die drei Wesensmerkmale Unvollkommenheit, Vergänglichkeit und Egolosigkeit völlig verwirklicht hat. Es ist für die erwachte Person so, als sei alles, was vorher war, so absurd und unlogisch wie ein Traum, daher der Ausdruck „Erwachen“.
Kaste – die indische Gesellschaft wird gemäß der hinduistischen Religion in streng voneinander abgetrennte Kasten eingeteilt, die wichtigsten Kasten sind die Brahmanen (Sanskrit: ब्राह्मण, brāhmaṇa = Priester), kṣatriya (Sanskrit: क्षत्रिय, Adel, Krieger, Beamte) und die vaiśya (Sanskrit: वैश्य = Kaufleute, Händler, Großgrundbesitzer) und śūdras (Sanskrit शूद्र, = Arbeiterklasse incl. Handwerker), darunter stehen die Dalits (Kastenlose, Unberührbare). Auf diese Art schuf der Hinduismus eine Apartheidsgesellschaft mit einer arischen Mittel- und Oberschicht, und einer indigenen Bevölkerung, die man nicht einmal berühren durfte; so sollte eine Rassenvermischung verhindern werden.
Mettā – (Pali) eine sehr positive Emotion: Wohlwollen, Zuneigung, (nichterotische) Liebe, oft als „liebende Güte“ übersetzt. Mitunter wird sie auch als „Allgüte“ bezeichnet, denn mettā soll allen Wesen in gleicher Weise entgegen gebracht werden. Es ist das, was beispielsweise Jesus meint, wenn er sagt, man solle nicht nur seinen Nächsten lieben wie sich selbst, sondern sogar seinen Feind
Mettā-Sangha – Bezeichnung für die von Yuz und Amita gestiftete Spirituelle Gemeinschaft
Therapeuten - (altgr. Θεραπευταί) waren eine der Mystik zugewandte Gruppe jüdischer Einsiedler im Ägypten vom Anfang des 1. Jhd. v. u.Z. Die Quelle dessen, was wir über die Therapeuten wissen, ist Philon von Alexndria der in der ersten Hälfte des 1. Jhd. u.Z. lebte. Er beschreibt die Therapeuten in der Schrift De Vita contemplativa („Über das kontemplative Leben“). Die Therapeuten gelten mit den Essenern als Vorläufer des christlichen Mönchstums. Von einigen Historikern wird die Hypothese vertreten, dass die Bezeichnung Θεραπευταί für den vorchristlichen Mönchs- und Nonnenorden möglicherweise eine Verformung des Sanskrit-/Paliwortes „Theravada“ war, einer Form des Buddhismus. (nach: Wikipedia 10.1.2024)
Uposatha – heißt wörtlich Fastentag. Alle sieben Tage ist Fastentag: bei Neumond, bei Vollond und bei Halbmond (es galt der Mondkalender). An diesen Tagen waren die Laienanhänger der Jains dazu aufgerufen zu leben wie die Mönche an den übrigen Tagen, die Mönche aber fasteten. Die Regeln bei den Buddhisten sind anders, dort sollen zwar die Laien auch enthaltsam leben und auf alle Unterhaltung (Musik, Gesang, Theater) verzichten. Die Mönche machen an diesem Tag das “Eingeständnis von Fehlern”, eine Art Beichte.
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