Horst Gunkel: Die Jesus-Trilogie - Band 2: Jesus - die Jahre 30 - 96 - Kapitel 22 letztmals bearbeitet am 09.10.2025
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- Spiritueller Boom - und das Schwert
Seit dem Besuch von Amandita
und Jawaharlal
waren anderthalb Jahre vergangen. Es war Winter
geworden, es war Sommer geworden und wieder Winter.
Jetzt war es Anfang Mai – Frühling!
Die Metta-Sangha hatte sich konsolidiert. Einige der jungen Männer waren kurz nach Amanditas Besuch zurückgekehrt in ihre Heimatstadt und hatten versucht, ihre Bräute – und natürlich ganz besonders deren Eltern1 – davon zu überzeugen, dass sie wieder zur Metta-Sangha wollten, um dort zu wohnen, aber nur dreien war dies geglückt. Eine weiterer hatte deshalb seine Verlobung gelöst und war allein zurückgekommen. Inzwischen gab es sieben Einfamilienhäuser in der neuen Siedlung, außerdem das Männerwohnheim, das bis zu sechzig Schlafplätze bot, aber längst nicht ausgelastet war und auch ein Frauenheim, nur halb so groß und derzeit auch nur von wenigen Frauen belegt. Von den alteingesessenen Familien hielten sich weiterhin drei ganz fern von den Aktivitäten der Metta-Sangha. Zwei weitere Familien verpflegten sich noch selbst, alle anderen speisten nunmehr im Gasthof. Das Team vom Gasthof war inzwischen um die neunjährige Mala und den zehnjährigen Sunil erweitert worden.
Man hatte in diesen gut
anderthalb Jahren, die seit Jawaharlals
und Ananditas
Besuch vergangen waren, drei Todesfälle zu verzeichnen,
darunter aber keine der bisher hier namentlich erwähnten
Personen. Die Gesprächsgruppen hatten dazu geführt, dass
alle Teilnehmer/innen nunmehr im Dharma
sehr viel besser Bescheid wussten.
Yuz und Amita hatten inzwischen ein zweites Kind bekommen, das war im März, also vor zwei Monaten, es trug den im Kaschmirtal etwas ungewöhnlichen Namen Maria, den Yuz ausgesucht hatte. Ob er das zum Andenken an seine Mutter getan hatte, die er nicht mehr wiedersehen würde, oder in Erinnerung an Maria Magdalena, seine talentierteste Jüngerin in Galiläa, sei dahingestellt.
Bei der bevorstehenden ersten Uposatha-Feier in diesem Mai lag etwas Besonderes an, etwas, das es in der Metta-Sangha bislang noch nicht gegeben hatte: eine Hochzeit. Zwar waren gleich zu Anfang ihres Lebens im Kaschmirtal Yuz und Amita den Bund fürs Leben eingegangen, jedoch ohne eine formelle Hochzeit. Wie auch? Das zu arrangieren wäre Sache der Eltern gewesen, die aber in ganz anderen Weltgegenden wohnten, außerdem waren Yuz und Amita damals schon älter als die Paare, die gewöhnlich von ihren Eltern verheiratet wurden.
Als die Siedler vor gut zwei Jahren ankamen, waren vier Paare kurz zuvor von ihren Eltern verheiratet worden. Die drei jungen Siedler, die nach dem ersten halben Jahr in ihre Heimat zurückgekehrt waren, und dann ein halbes Jahr später mit ihren Frauen zurückkehrten, waren in ihrer alten Heimat von den Eltern verheiratet worden, selbstverständlich mit einer feierlichen Einsegnung durch Brahmanen.
An diesem ersten Uposatha im Mai sollte nunmehr hier die erste Hochzeit geschlossen werden, und zwar zwischen Shanti, also einer früheren Angehörigen der Kṣatriya-Kaste, und Mohit, einem Siedler. Als Shanti ihre Mutter, Sita, um ihren Segen für die Ehe gebeten hatte, hatte diese spontan weinen müssen. Shanti war darüber zunächst bestürzt, aber ihr auch anwesender Zwillingsbruder Sunay hatte Sita gefragt: „Weinst du, weil du bei der Hochzeit nicht dabei sein kannst?” Seine Mutter bejahte dies unter großen Tränen. Worauf Sunay seiner Mutter versprach, er würde dafür gerade stehen, dass es einen Weg gäbe, dass sie zur Hochzeitsfeier in den Versammlungraum kommen könne.
In den nächsten Wochen hatte dann die Baubrigade am Giebel des Heims der himmlischen Betreuung einen Flaschenzug befestigt, danach wurde das Fenster in Sitas Zummer so weit vergrößert, dass es fast eine Tür war. Nun konnte Sita in ihrem Zimmer in einen Korb gesetzt werden und mit dem Flaschenzug nach unten gehievt werden, wo dann der Korb zum Tempel – wie die Versammlungshalle inzwischen hieß – gebracht werden konnte. Im Tempel war ein Sessel für Sita platziert worden, so dass sichergestellt war, dass sie bei der Hochzeit ihrer Tochter anwesend sein konnte.
Einige Tage vor der Feier hatte Amita Yuva angesprochen, ob sie nicht auch heiraten wollte, schließlich war sie schon lange mit Kalenian befreundet. Diese hatte geantwortet: „Als ihr hierherkamt, Yuz und du, da habt ihr keine Hochzeit gefeiert, sodass wir annahmen, dass es das in der Metta-Sangha nicht gäbe. Wir haben es dann so gemacht wie ihr, wir sind ohne eine Feier ein Paar geworden. Ich bin inzwischen auch im vierten Monat schwanger. Aber eine Hochzeitsfeier wäre schon schön.”
„Dann lass es uns doch so wie bei den Dharmamitta-Zeremonien machen, da werden in der Regel auch mehrere Personen gleichzeitig zu Dharmamittas. Anlässlich des ersten Hochzeitstermins in der Metta-Sangha machen wir eine Hochzeit für zwei Paare.” Diesem Vorschlag Amitas stimmte Yuva gern zu. Anschließend lief sie zu Kalenian: „Hallo, mein Schatz, am Sonntag heiraten doch Shanti und Mohit. Wir heiraten einfach mit!” Und auf dessen entgeistertes Gesicht reagierend ergänzte sie: „Ich hab alles schon mit Amita abgesprochen, meinst du wir sollten meine Eltern vorher noch fragen?” Und da Kalenian der Meinung war, dass es sich so gehöre, gingen sie sofort zu Anup und seiner Frau Brinda. Yuva sagte: „Liebe Eltern, ich darf euch freudig verkünden, dass ihr Großeltern werdet!”
Brinda starrte sie und Kalenian an: „Aber ihr seid doch gar nicht verheiratet!”
„Stimmt”, antwortete Yuva, „und damit deine Tochter kein uneheliches Kind bekommt, bitten wir um euren Segen, am nächsten Uposatha heiraten zu dürfen!”
Brinda war noch immer verunsichert: „Ich dachte doch, ihr wäret nur gute Freunde, macht Musik miteinander.”
Doch Anup nahm jetzt die Sache in die Hand: „Also dass ihr nur Musik miteinander macht, habe ich nie geglaubt. Ich freue mich Großvater zu werden und ich freue mich, dich als Schwiegersohn zu bekommen, Kalenian!” Und unter Tränen der Rührung umarmte er erst Kalenian, dann seine Tochter.
Selbstverständlich tat es seine Frau ihm gleich. Dann aber fragte sie: „Was müssen wir denn jetzt alles noch herrichten?”
Yuva schüttelte den Kopf: „Gar nichts Mutter. Wir heiraten doch gleichzeitig mit Shanti und Mohit. Die Feier findet selbstverständlich im Gasthof statt. Wenn du möchtest, kannst du und meine kleineren Geschwister Ajala bei den Vorbereitungen helfen, denn an diesem speziellen Uposatha fällt in der Küche bestimmt mehr Arbeit an.”
„Das ist eine gute Idee! Ich gehe sofort zu Ajala, um mit ihr alles zu besprechen.”
Anders als es bei uns in Deutschland üblich ist, war es in Indien so, dass die Hochzeitsfeier mit der Hauptmahlzeit, also dem Mittagessen begann, die feierlche Einsegnung des Paares fand dann anschließend als krönender Höhepunkt der Feier statt. Während Ajala und ihr extra für diese Feier erweitertes Küchenteam am Vormittag in der Küche ihre Arbeit verrichteten, wurde Sita zum ersten Mal seid ihrem Unfall und ihrer Querschnittslähmung mit dem Korb-Lift aus dem Zimmer gebracht. Zu ihrer Überraschung gab es einen bequemen Sessel, der vorne zwei Räder hatte und hinten mit zwei Stangen angehoben und geschoben werden konnte. Jagan und Sunay standen an den Stangen bereit, um sie zu transportieren. „Wünschen die Gnädigste jetzt im Gasthof vorzufahren?” alberte Sunay herum.
Sita nahm das Spiel `Ich bin wieder vorrnehm!´ gern an: „Nein, mein Leibdiener. Meine Hoheit wünscht zunächst eine Tempelbesichtigung.”
„Sehr wohl, Gnädigste!” kicherten Sunay und Jagan wie aus einem Mund und lenkten den Rollsessel jetzt Richtung Tempel. Dort war inzwischen an der Tür eine kleine Rampe angebracht worden, auf der der Rollsessel in den Tempel gerollt wurde, in dem Yuva und Kalenian damit beschäftigt waren, den Schrein mit Blumen zu schmücken.
Sitas Blick öffnete sich, weitete sich und sie staunte über all die Eindrücke, die sich ihr hier boten: „Aus der Versammlungshalle ist ja ein richtiger Tempel geworden! Und all die Figuren, die ich nur aus deinen Erzählungen kenne, Sunay, sie sind hier anwesend!” In der Tat stand inzwischen auf dem Schrein die fertig geschnitzte Buddha-Figur, die Akṣobhya darstellte, die Unerschütterlichkeit des Erwachten; diese Figur zeigte die Erdberührungsgeste, außerdem war sie farbig dargestellt: gelbe Robe, blaue Haut und rote Lippen. Davor befanden sich die Figuren der Grünen Tara (Hautfarbe grün, dünner roter Rock, schwarze, lange Haare, rote Lippen) und von Abba (grüne Farbe, gelbe Robe).
Alle Wände – außer der direkt hinter dem Schrein – waren inzwischen mit Szenen aus dem Leben des Buddha geschmückt, sodass Sita staunte: „Wunderbar! Alle die Geschichten vom Buddha, die mir Shanti erzählt hat, sie sind hier! Wer hat das nur gemalt?”
„Das war Jagan, er hat zunächst einige Wochen geübt, danach hier im Tempel angefangen. Zuerst mit leichteren Motiven, dann auch mit schwereren, inzwischen ist er ein Meister seines Fachs.”
Rita strahlte Jagan an: „Das ist wunderbar, was du hier geschaffen hast, es spricht Herz und Gemüt an. Nie zuvor habe ich solch treffliche Bilder gesehen. Der Vater meiner Kinder ist ein großer Künstler! Und ich bin so stolz auf euch alle: auf dich, Jagan, den Malermeister, auf Raj, der als Geschäftsführer für alle wirtschaftlichen Aktivitäten unserer Gemeinschaft zuständig ist, auf Shanti, die heute heiratet und ganz sehr auf dich, Sunay. Du pflegst mich nicht nur seit Jahren, du hast mir auch das gebracht, wonach ich zeitlebens gersucht habe, es aber nicht wusste: den Dharma!” Dann winkte sie alle Anwesenden zu sich, um sie unter Tränen zu umarmen.
Danach bat sie alle, sie allein zu lassen, damit sie erstmals im Tempel meditieren konnte. Anschließend richtete sie ein Dankgebet an Abba, der ihr Yuz gesendet hatte.
Inzwischen waren im Gasthof die Tische festlich gedeckt und mit Blumen geschmückt worden. Als der große Gong ertönte, versammelten sich alle an den Tischen und die Vorspeise wurde aufgetischt: dünne geröstete Teigfladen, dazu gab es verschiedene stark gewürzte Soßen.
Nach der Vorspeise stand Jagan auf und hob die Arme. Als alle verstummt waren erhob er die Stimme: „Werte Festgäste, liebe Metta-Sangha, ich freue mich, dass heute eines unserer Kinder heiratet, Shanti, die mit Mohit einem ebenso eifrigen wie gebildeten Siedler...”
Sparen wir uns die Festrede. Selbstverständlich ergriff hinterher auch noch Anup das Wort, um das andere Hochzeitspaar, seine Tochter Yuva und den Musiker Kalenian, zu loben. Zum Schluss sagte er: „So wie Kalenian uns alle hier mit seinem Lautenspiel und seinen selbstkomponierten sakralen Gesängen erfreut, ebenso hat unsere Tochter Yuva ihr musisches Talent eingesetzt und als Holzschnitzerin diese wunderdaren Projektionen unseres Geistes, diese Figuren, die Aspekte des Transzendenten, des Göttlichen darstellen, geschaffen. Die Kunst ist ein wunderbares Mittel, uns mit dem Göttlichen zu verbinden, uns dem Namenlosen zu nähern. Und ich möchte mich hier auch bei meinem Vorredner, bei unserem Bruder im Geiste, bei Jagan, bedanken, der als dritte Kunstrichtung die Malerei in die Metta-Sangha eingebracht hat. Ich bin sicher, dass der Zugang über die schönen Künste dazu beiträgt, uns dem Göttlichen, dem Transzendenten, dem Wahren, Schönen, Guten, näher zu bringen.”
Anup erntete – wie zuvor Jagan – reichhaltigen Applaus. Nunmehr wurde das Festmahl aufgetischt, bei dem alle ordentlich zugriffen, alle – bis auf Sita. Sunay erkannte das und flüsterte ihr zu: „Sita deine Zurückhaltung ist überflüssig, ich habe für alles vorgesorgt.” Und auf ihr ratloses Gesicht, mit dem sie ihn fragend ansah, antwortete er: „Wir sitzen extra am Rande des Gastgartens, Jagan und ich können deinen Rollsessel hier neben um die Ecke schieben. Es gibt nämlich ein `Geheimnis des Rollsessels´: unter dem Kissen, auf dem du sitzt, ist ein Holzdeckel, wenn man ihn entfernt sieht man den unter dem Sitz befindlichen Eimer.”
Sita strahlte übers ganze Gesicht: „Sunay, der Anup hat in seiner Rede vorhin einen Künstler vergessen: dich! Du bist derjenige, der die Kunst versteht, alle praktischen Problem genial zu lösen. Du bist ein Erfinder!”
Tatsächlich konnten sie nach dem Essen die Funktionsweise des `Geheimnisses des Rollsessels´ praktisch anwenden. Als eine Stunde später der große Gong wieder anschlug, gingen alle in den Tempel, um an der Uposatha-Feier mit doppelter Eheschließung teilzunehmen. Die Ehesegnungszeremonie ersetzte die sonst üblichen Dharmamitta-Zeremonnie.
Yuz erläuterte die Bedeutung der Ehe: „Die Ehe ist ein Ausdruck von Metta. Metta, selbstlose, genzenlose Liebe, ist das, was uns verbindet, sie ist das, was wir in den Metta Bhāvanā einüben. Metta bedeutet auch praktische Solidarität. Die Ehe gibt es in allen großen spirituellen Traditionen. In dem Land, aus dem ich stamme, gab es auch die Institution der Ehe, der Ehe zwischen zwei Menschen verschiedenen Geschlechts, die sich lebenslange praktische Solidarität zusichern. Die Ehe ist die unterste Form von Solidarität. Dem Egoismus wird das Paar gegenüber gestellt: zwei Menschen die miteinander solidarisch sind, sich gegenseitig unterstützen, in guten wie in schlechten Tagen, solange, bis der Tod sie scheidet. Die Ehe wird in meiner ursprünglichen Heimat unter Aufsicht eines Priesters geschlossen, eines Rabbiners. Auch hier in Bhārat Gaṇarājya gibt es die Ehezeremonie, sie bedeutet das gleiche und wird auch hier von einem Priester, einem Brahmanen, geschlossen. Und genau so machen wir es hier auch.
Aber mit der Ehe wird nicht nur ein Band zwischen zwei Menschen geschlossen. Aus einer Ehe entspringen in aller Regel Kinder, es entsteht eine Familie. Und da haben wir die zweite Ebene der Solidarität, eine Solidarität, die mehr als zwei Menschen umfasst, sie umfasst im engeren Sinne Eltern und Kinder. Häufig ist sogar der Anspruch da, in der Großfamilie, also mit Großeltern, Enkeln, Onkeln und Tanten, Nichten und Neffen solidarisch zu sein. Wir wissen nur allzu gut, dass das häufig mehr schlecht als recht funktioniert, weil es um Interessengegensätze geht. Auf dieser Ebene funktioniert Solidarität also häufig nicht, nicht hier in Bhārat Gaṇarājya und auch nicht im Römischen Reich. Was in der Kernfamilie, der zweiten Ebene der Solidarität, häufig noch funktioniert, aber längst auch nicht immer, funktioniert in der Großfamilie, der dritten Ebene der Solidarität nicht mehr, und zwar wegen der Interessengegensätze der Beteiligten.
Was aber ist bei uns hier anders, oder ist es hier genau so? Wir haben die elementarste Ebene der Solidarität in der Ehe, und wir versprechen einander, diese Solidarität wirklich zu üben. Das klappt bei uns schon viel besser. Wir haben hier keine zerstrittenen Ehepaare mehr. Das war früher anders. Seht euch Jagan und Sita an. Diese Veränderung zum Besseren kommt durch die fortgesetzte Übung der Metta Bhāvanā! Und auch auf der zweiten Ebene, auf der Ebene der Familie, gibt es kaum noch irgendwo hier erhebliche Probleme...”
An dieser Stelle wurde er unterbrochen durch einen Zwischenruf: „Außer bei Anik und Nikara, bei denen läuft das nicht so, dort fliegen die Fetzen, und auch die Kinder bekommen etwas ab!”
Yuz nahm den Zwischeruf auf: „Genau, du hast recht, und warum? Weil das eine der drei Familien ist, die nicht zu den Uposatha-Veranstaltungen kommen, die keine Dharmamittas sind, die die Metta Bhāvanā nicht üben. Und daher ist die dritte Ebene der Solidarität bei uns nicht eine Großfamilie oder das Dorf, die dritte Ebene der Solidarität ist die Metta-Sangha, die Gemeinschaft derer, die die Metta Bhāvanā praktizieren. Und schließlich praktizieren wir Metta nicht nur für uns, unsere Familie oder unsere Gemeinschaft, sondern wir üben Metta gegenüber allen fühlenden Wesen. Das ist aber leider keine Ebene der Solidarität, denn Solidarität ist wechselseitig. Wir adressieren unsere Liebe an alle, aber nicht alle draußen in der Welt nehmen sie an. Allerdings strahlt unser Metta aus, es erreicht auch andere, und manche begeistert es so, dass sie kommen, um sich unserer Metta-Sangha anzuschließen oder um woandres ähnliche Projekte zu gründen. Es gilt, alle Ebenenen der Solidarität zu stärken. Und eben darum segnen wir heute das intensive Band der Solidarität auf der ersten Ebene zwischen zwei Menschen, die Ehe zwischen Yuva und Kalenian.”
Amita fragte dann die beiden, ob sie dieses Band der Solidarität für gute wie für schlechte Tage knüpfen wollen und sie gaben sich das Ja-Wort.
Anschließend setzen diese sich, sodann traten Shanti und Mohit nach vorn. Allerdings geschah jetzt nicht das, was alle erwarteten, sondern Shanti begann einer Art Lehrdarlegung zu geben – so wie sie das zuvor mit Amita und Yuz abgesprochen hatte.
„Liebe Anwesende, liebe Sangha! Amita hat uns hier in der Vergangenheit einen wichtigen Aspekt des Göttlichen nahe gebracht, den von Karunā, von mitfühlender Hilfsbereitschaft, der durch die Grüne Tara verkörpert wird. Yuz andererseits hat uns seinen himmlischen Dialogpartner Abba vorgestellt. Und schließlich hat Yuva uns mit Akṣobhya, dem Unerschütterlichen, vertraut gemacht, dessen große blaue Figur hier auf dem Schrein sitzt. Und gerade eben hat Yuz über die Ebenen der Solidarität gesprochen und darüber, dass unsere Solidarität auf Metta beasiert.
Über Metta habe ich auch ganz viel mit meinem künftigen Ehemann, mit Mohit, gesprochen. Wir haben dabei festgestellt, das wir ein Bild, das Metta ausdrückt, bislang vermissen. Wir neigen beide zu Visualisierungsmeditationen und so haben wir erkannt, dass wir uns dieser starken Kraft, Metta, über eine andere Projektion nähern können. So wie die Sonne eine riesige Strahlkraft hat, so strahlt auch Metta in alle Welt aus. Rot ist die Farbe der Liebe, wir stellen uns daher einen roten Buddha vor, noch strahlender als die Sonne, daher nennen wir ihn Amitābha2. Wir verbinden ihn mit dem Feuerelement, wie flammende Liebe! Und er hat auch eine spezielle Handhaltung. Seine Geste ist die Jhāna-Mudra, eine bestimmte Handhaltung, diejenige nämlich, die wir gewöhnlich bei der Meditation einnehmen: die rechte Hand liegt in der linken, die beiden Daumen berühren sich. Wir beide, Mohit und ich, visualisieren Amitābha, vielleicht mag der ein oder andere von euch auch damit etwas anzufangen.”

Nachdem der Applaus sich gelegt hatte, machte Yuva noch eine Anmerkung, die genausoviel Beifall bekam: „Und unser Hochzeitsgeschenk, an euch, an uns und an die ganze Sangha wird sein, dass ich eine Amitābha-Figur schnitze und dass Kalenian...”
Der übernahm nun das Wort: „...und dass ich, natürlich zusammen mit meiner Partnerin, einen Song dazu schaffe, ich die Melodie, sie den Text.”
Danach gaben sich die beiden das Ja-Wort. Nach dem Ende der Zeremonie gingen alle wieder in den Gasthof und feierten noch lange die beiden Ehepaare, die Solidarität der Metta-Sangha und Amitābha, die vierte Figur ihres Pantheons der Metta-Sangha.
Bereits drei Tage später geschah etwas, das sich so ähnlich bereits zwei Jahre zuvor ereignet hatte, es kam nämlich ein Siedlerzug an, dieser war noch größer als der erste, er umfasste 39 Personen, darunter acht Frauen und vierzehn Kinder. Es war früher Nachmittag und Amita hatte alle Neuankömmlinge in den Gasthof geschickt, war selbst dorthin gegangen und hatte das Küchenteam gebeten, eine Mahlzeit für diese Leute zu bereiten. Dann wurden alle wichtigen Sangha-Mitglieder zusammengetrommelt, die sich zunächst im Tempel zur Beratung versammelten, das waren neben Amita und Yuz auch Raj, der Geschästführer, Sunay der Leiter des Heims der himmlischen Betreuung, Liem, der Kassierer, er verwaltete die Reste des Goldschatzes der ersten Siedler sowie die finanziellen Erträge aus den Geschäften des Hofes, Anup, Juva und Teja. Diese Gruppe (und zusätzlich Ajala, die Küchenchefin) bildete von da an den `Rat´, der immer dann tagte, wenn es um wichtige Dinge ging.
Man legte jetzt im Rat die gemeinsame Linie fest. Dann begaben sich die Ratsmitglieder in den Gasthof, sie stellten sich dort einzeln vor. Anschließend stand eine Frau aus der Gruppe der neuen Siedler auf und sagte: „Meine Name ist Radha, ich bin die Sprecherin der neu Angekommenen, wir sind Taxilaner, das heißt wir kommen aus der Stadt Taxila3 in Gandhāra. In Taxila regiert König Gondophares4. Die Stadt ist ungefähr 20 Tage von hier gen Sonnenuntergang. Wir orientieren uns alle an der Lehre des Buddha. Einige von uns haben von Kaufleuten der Karawanen von euch gehört. Eure Siedlung hat unser Interesse geweckt. Dann ist im letzten Jahr ein buddhistischer Wandermönch bei uns gewesen, Ditthimitta, und hat euch in den höchsten Tönen gelobt. Wir wollen alle den Dharma ernsthaft praktizieren, allerdings nicht im Kloster. Da kam uns die Idee ein Dorf zu gründen, in dem alle dem Dharma folgen – eure Siedlung schien uns ein Prototyp dafür zu sein, also sagten wir uns: wir ziehen hierher und bleiben für mindestens ein Jahr. Passt das, dann bleiben wir, wenn nicht, suchen wir uns einen andere unbewohnte Stelle und gründen dort eine eigene Ortschaft.”
Da dies von einer Frau vorgetragen worden war, dachte Yuz, es sei besser, Amita den Vortritt zu lassen, und sie als erste reden zu lassen, wovon diese gerne Gebrauch machte: „Danke, Radha für die knappe aber sehr klare Darlegung. Wir haben hier ein Männerwohnheim und ein Frauenwohnheim, die Plätze genügen aber nicht für alle von euch und für Familien ist kein entsprechender Platz vorgesehen. Du hast gesagt, wenn es euch nicht zusagt, dann würdet ihr in einem Jahr wieder gehen wollen. Wir aber erwarten von jedem, der hier herkommt, dass man arbeitet und an Andachten, Meditationen und Lehrveranstaltungen teilnimmt. Wer das nicht möchte, kann selbstverständlich jederzeit gehen. Aber solange ihr hier seid, fügt ihr euch bitte in die bestehende Ordnung ein. Das muss euch klar sein.”
Radha nickte: „Das sehen wir auch so. Ich wollte nur klarmachen, dass ihr nicht sicher davon ausgehen könnt, dass wir für immer hierbleiben.”
Jetzt übernahm Yuz: „Das ist euer gutes Recht! Dann ist das ja geklärt. Da ihr aber auf jeden Fall über den nächsten Winter hier seid, ist es nötig, dass für alle Familien Häuser gebaut werden, die wintertauglich sind. Es ist hier kälter als in Gandhāra, es gibt oft Frost und auch Schnee. Jetzt im Sommer kann man im Freien schlafen und das erwarten wir auch von euch. Bei starkem Regen könnt ihr auch in eines der beiden Wohnheime gehen. Wenn ich richtig gezählt habe gibt es acht Familien, wir brauchen also acht Häuser; alleinstehende Personen werden im nächsten Winter in den Wohnheimen untergebracht. Teja übernimmt die Leitung der Bauarbeiten und die Aufteilung der Grundstücke. Frauen werden vorläufig in der Landwirtschaft beschäftigt, denn mehr Personen brauchen auch mehr Nahrung, und die muss produziert werden. Die Mahlzeiten werden gemeinsam hier im Gasthof eingenommen. Wer lieber in der Küche arbeiten möchte, bewirbt sich bei Ajala, der Küchenchefin. Wie sieht es bei euch mit Geld aus?”
„Wir haben all unser Geld zusammegelegt, der Gesamtwert dürfte bei etwa 150 Gondophares-Goldmünzen liegen.”
„Das Gold wird an Liem unseren Kassenwart abgegeben. Wer von euch uns verlässt bekommt pro erwachsene Person vier und pro Kind zwei Goldmünzen ausgezahlt. Solange ihr hier seid benötigt ihr kein Geld. Seid ihr damit einverstanden?”
Die Neuankömmlinge stimmten zu. Dann führte Yuz weiter aus: „Die nächsten drei Tage findet vormittags eine spirituelle Einweisung im Tempel statt, daran nehmen alle Personen ab zwölf Jahren teil, Kinder ab sieben Jahren dürfen aber auch mitgebracht werden. Am vierten Tag von heute ist Uposatha, ab da nehmt ihr an den regulären Veranstaltungen im Tempel teil. Die reguläre Arbeit beginnt am Tag nach Uposatha, bis dahin habt ihr Eingewöhnungszeit und Zeit für Gespräche. Teja, du gehst jetzt mit den Familien dorthin, wo sie siedeln werden, du machst in dieser Hinsicht das, was ich vor zwei Jahren gemacht habe, als ihr gekommen seid.”
Dann ging Yuz zu Radha: „Für alle weltlichen Dinge ist dein Ansprechpartner Raj, für spirituelle Dinge sind das Amita oder ich. Bei wichtigen Dingen, so wie heute als ihr kamt, berufen wir eine Ratssitzung ein, da sind die bislang acht wichtigsten Person aus unserer Metta-Sangha drin, künftig werden wir auch dich als Sprecherin der zweiten Siedlergruppe dazubitten.”
Sie nickte: „Das finde ich gut. Aber in einem Punkt muss ich dich korrigieren. Du hast von acht Familien gesprochen, vermutlich weil du acht Frauen gesehen hast. Es sind nur sieben Familien, ich bin ledig. Ich war Nonne, fand aber das Projekt der anderen so interessant, dass ich mich ihnen anschließen wollte.”
Yuz lächelte sie an: „Das ist aber nur die halbe Wahrheit, Radha. Du warst einfach unzufrieden mit dem Leben im Kloster, mit Regeln, die nicht hinterfragt werden duften, mit einzelnen Teilen im Regelwerk, die dir unvernünftg oder unpassend erschienen.”
„Kannst du hellsehen, Yuz?”
„Ich war auch mal Mönch.”
„Ach so, na dann ist deine Einschätzung verständlich. Hmh. Wenn ich es mir recht überlege, könnte ich mir sogar vorstellen, dass auch Amita einmal Nonne war.”
„Ach, kannst du etwa hellsehen, Radha?” fragte Yuz. Dann lachten beide herzlich.
Die nächsten Tage verliefen planmäßig, die Landaufteilung der neuen Familien unter Leitung von Jeta verlief zu aller Zufriedenheit. Die Einzelreisenden arrangierten sich mit den Bewohnern der beiden Wohnheime in großem Einvernehmen. Die Kinder waren glücklich, dass die strapaziöse Reise hinter ihnen lag und erkundeten ihre neue Heimat. In den drei Einführungsveranstaltungen zeigten sich die Neuangekommen offen und ausgesprochen interessiert, sie hatten wesentlich bessere Vorkenntnisse des Dharma als die früheren Siedler. Was für sie allerdings völlig neu war, war mit Projektionen wie Amitābha oder Abba zu arbeiten, hier reichte die Einstellung von Skepsis über Neugier bis hin zu frenetischer Begeisterung, aber das war schließlich für alle neu und musste erst noch ausprobiert werden.
Entsprechend groß waren die Erwartungen an ihre erste Uposatha-Feier. Die neuen Siedler setzen sich hinterher noch zusammen und sprachen über ihre Eindrücke.
Zwei Tage später aber geschah etwas völlig Unerwartetes: Anandita kam angeritten, sie hatte den kleinen Raj, ihr Söhnchen, dabei und war in Begleitung von Singha, ihrer Zofe. Als Raj, der Geschäftsführer, seiner Schwester ansichtig wurde, wusste er sofort, dass etwas Schlimmes vorgefallen sein musste: „Bist du vor deinem Mann geflohen?” Sie nickte. Dann entschied er: wir besprechen das am besten im privaten Rahmen, nicht im Gasthof, vielleicht bei Sita?”
„Biite nicht bei Sita, da habe ich alte Vorbehalte!”
„Gut dann bei Yuz, ich hole Jagan und die Zwillinge, ja? Anandita nickte und ging zu Yuz´ Haus. Der stand vor dem Haus in einer Besprechung mit Amita, Teja und Radha.
Als Amita ihrer Besucherin ansichtig wurde, sagte sie zu ihren Gesprächspartnern: „Entschuldigt bitte, wir besprechen das später weiter, ich muss mich jetzt erst einmal einem vordringlicheren Problem widmen.”
Die anderen sahen den verstörten Blick von Anandita, nickten und entfernten sich. Die übrigen gingen gemeinsam ins Haus und boten den Gästen erst einmal etwas zu trinken an, das diese dankbar annahmen, dann ging Ananditas Sohn, der kleine Raj, auf Amitas Lagerstatt zu, legte sich hin und schlief sofort ein, einen Daumen im Mund.
Inzwischen trafen mit (dem Geschäftsführer) Raj auch Jagan sowie die Zwillinge Shanti und Sunay und ein. Jagan fragte bestürzt: „Was ist los, mein Kind?” Und Anandita begann zu erzählen.
„Ihr habt ja gemerkt, als wir vor zwei Jahre hier waren, dass Jawaharlal mitunter etwas sprunghaft ist. Als wir hier herkamen war er distanziert bis aggressiv, dann allmählich war er beeindruckt, von dem was ihr aufgebaut habt, und auf dem Rückweg sprach er zunächst interessiert und durchaus positiv über dieses völlig andere Gesellschaftsmodell, das ihr hier lebt. Je weiter wir jedoch in Richtung unserer Stadt kamen, desto mehr identifizierte er sich wieder mit seiner Rolle als Truppenführer und als Kṣatriya.
Und dann kamen wieder die Sorgen um die notwendige großspurige Selbstdarstellung einerseits und die dafür einfach nicht ausreichenden finanzielle Mittel andererseits. Er wurde zunehmend aggressiver, manchmal schlug er auch Angestellte und er war sehr grob zu mir, vor allem wenn er getrunken hatte. Ich sah manchmal meine vom Dämon bessesene Mutter vor mir, wenn ich ihn sah! Das ist auch der Grund, warum ich Sita jetzt nicht dabei haben wollte.
Dann begann der Krieg mit dem benachbarten Fürstentum und Jawaharlal musste ins Feld ziehen. Als er danach wieder zurückkam, war es die Hölle. Er schlug mich. Stellt euch nur vor: einmal hat er sogar den kleinen Raj so fest getreten, dass er an die Wand flog! Und dann”, sie entblöste ihren linken Arm und alle erschraken als sie die noch frischen und entzündeten Brandwunden sahen, die gerade teilweise vernarbten, „dann hat er mit einer Lampe nach mir geworfen, aber nicht getroffen. Zum Glück konnten die Diener den Brand löschen, sonst wäre unser ganzes Haus abgebrannt. Anschließend ist er wieder ins Feld gezogen, ich aber bin geflohen. Ich kann und werde mit diesem Mann nicht mehr zusammenleben! Also nahm ich Singha und den kleinen Raj mit und wir sind geflohen.”
„Das hast du richtig gemacht! Selbstverständlich könnt ihr bei uns bleiben”, sagte Raj, „allerdings müssen wir damit rechnen, dass Jawaharlal hier auftaucht. Vielleicht müssen wir künftig Wächter aufstellen, möglicherweise bewaffnete Wächter.” Raj sah nach Yuz und Amita. Diese schüttelte den Kopf: „Wir werden mit Sicherheit keine bewaffneten Wächter aufstellen, das wäre die Aufgabe des Modells der Metta-Sangha!” Sie blickte zu ihrem Mann.
„Ich denke schon, dass es nüzlich wäre, Wächter aufzustellen, natürlich unbewaffnete, aber wir sollten wissen, wenn Jawaharlal auftaucht, ich möchte nicht, dass wir überrascht werden und hier beispielsweise nachts Feuer gelegt wird.”
Amandita schüttelte den Kopf: „Heimlich Feuer legen, das würde er nicht tun. Offen in den Kampf ziehen: ja. Seinem Jähzorn ungezügelt freien Lauf lassen auch. Aber Heimtücke ist nicht seine Sache.”
„Gut”, sagte Jagan, „dann wäre das geklärt: Wachsamkeit ja, Bewaffnung nein. Im Übrigen vertraue ich auf unser Einfühlungsvermögen, insbesondere auf deines Yuz, du bist ja durchaus ein Experte für Umgang mit Jähzorn, wie du uns einmal erzählt hast. Aber wir müssen auch ganz klar unseren Schwachpunkt erkennen, und der ist Raj-i5. Jawaharlal wird seinen einzigen Sohn zurückhaben wollen und ihn gegebenfalls zu entführen trachten. Raj-i darf also auf keinen Fall unser Dorf verlassen, er muss außerdem immer beaufsichtigt werden. - Möchtest du jetzt vielleicht deine Mutter sehen, Amandita, sie ist noch genau so freundlich, wie beim letzten Mal, als du hier warst, es gibt keinen Grund, dich zu fürchten.”
„Kann ich Raj-i mitnehmen?”
„Selbstverständlich, Sita wird erfreut sein, ihr Enkelkind zu sehen!” Dann nahm Amandita vorsichtig ihren schlafenden Sohn auf den Arm und sagte zu Singha: „Geh du in den Gasthof und lass dir etwas zu essen geben.” Diese kam freudig der Aufforderung nach. Inzwischen gingen Anandita mit Raj-i, Jagan, Raj und die Zwillinge ins Heim der himmlischen Betreuung.
Natürlich war die Wiedersehensfreude bei Sita groß, als sie ihre älteste Tochter erblickte und auch erstmals ihren Enkelsohn. Amandita berichtete alles, was vorgefallen war. Dann machte Sita einen Vorschlag: „Raj-i soll möglichst nicht allein draußen herumstromern. Ich hingegen kann gar nicht raus, kenne aber jede Menge Märchen und Geschichten; ich denke ich könnte sehr gut einen großen Teil der Zeit dem Raj-i Geschichten erzählen. Wenn er dann einmal herausmöchte, kann ich Sunay beauftragen, der ja meist hier im Heim ist.”
Sunay ergänzte: „Das ist eine gute Idee und ich möchte noch etwas ergänzen: Amandita, deine Brandwunde ist zwar teilweise vernarbt, es gibt da aber noch zwei Entzündungsherde, die müssen unbedingt behandelt werden. Ich würde daher vorschlagen, dich zumindest für die erste Zeit hier im Heim der himmlischen Betreuung unterzubringen, dann wärest du auch in der Nähe deiner Mutter und deines Kindes und könntest, wenn Raj-i raus will, mit ihm an den See gehen oder so. Ich schlage vor, dass ihr beide im ehemaligen Salon wohnt. Wir können die dortigen Möbel wegbringen und ihr könntet euch dort einrichten.”
„Sehr gern, und wenn es mir besser geht, könnte ich mich vielleicht mit dir in der Betreuung Sitas abwechseln.”
„Warten wir erst einmal ab. Ich bin mir sicher, wir werden Jawaharlal hier noch einmal sehen, die Geschichte ist noch nicht ausgestanden.”
Er sollte recht behalten.
Doch zunächst verlief alles wie geplant. Raj-i war begeistert von seiner neuen Umgebung. Er liebte die Märchen, die seine Großmutter erzählte, und er ging auch gern zum See oder auf den Abenteuerplatz, einen Spielplatz, den der frühere Bautrupp im letzte Sommer angelegt hatte, wo es ein Häuschen mit Turm, genannt „die Burg”, und allerlei Klettermöglichkeiten gab, unter anderem einen Baum mit tollen Kletterästen und Schaukeln daran.
Nach zehn Tagen waren Amanditas Wunden so weit verheilt, dass keine Gefahr mehr bestand. Und da sie im Zweifelsfall immer in der Nähe ihre Kindes sein sollte, nahm sie jetzt einfach die Kinderbetreuung für alle Kinder im Dorf zwischen drei und sieben Jahren wahr. Das machte ihr viel Freude, die nur dadurch eingeschränkt wurde, dass sie mit den Kindern keine Ausflüge in die Umgebung machen konnte, weil Raj-i und sie aus Sicherheitsgründen das Dorf nicht verlassen konnten.
Etwa einen Monat später geschah es dann. Mohit, der als Wächter auf einer Anhöhe etwa drei Meilen vom Dorf entfernt Wache hielt, sah einen einzelnen Reiter kommen, etwas, das hier sehr ungewöhnlich war. Er ritt sofort zurück.
„Alarm! Alarm!”, rief er, als er ins Dorf einritt. Wer immer in der Nähe war, eilte herbei und Mohit verkündete: Ein einzelner Reiter nähert sich dem Dorf, ich glaube ER ist es!”
Amandita, die mit Raj-i und einigen anderen Kindern am Abenteuerplatz war, rief den Kindern zu: „Lauft so schnell ihr könnt nach Hause”, dann gab sie Raj-i ihrem Bruder Sunay, der auch herbeigestürzt war: „Bring ihn ins Heim und verschließt die Türe!” Der fragte: „Was ist mir dir?”
„Ich muss tun, was ich tun muss!”
Auch Amita und Yuz kamen angelaufen, waren aber noch 200 Schritte entfernt. „Warte!” riefen sie Amandita zu, doch die hatte schon einen großen Vorsprung. Jetzt konnten sie den Reiter sehen, es war in der Tat Javāharlāl!
Amandita blieb stehen, stellte sich dem Pferd, das daraufhin scheute, in den Weg und blieb dann stehen.
„Aus dem Weg Amandita, ich will zu meinem Sohn!”
„Nein! Du kannst mich haben, wenn du willst, aber Raj-i nicht! Er ist in Sicherheit!”
„Aus dem Weg, Weib, oder ich schlage dir den Kopf ab!” er ergriff sein Schwert.
„Dann wirst du weder mich haben noch meinen Sohn!” rief sie und erhob beide Arme, als wollte sie ihre Ohnmacht zeigen.
Javāharlāl nahm das Schwert in beide Hände und holte aus.
„Tu es nicht! - du wirst es bereuen!” schrie Amita, so laut sie konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte er, dann schlug er mit dem Schwert zu und trennte ihr den rechten Arm ab, der blutend zu Boden fiel.
Yuz, der inzwischen auf der Höhe von Anandita angekommen war, fixierte Javāharlāl und ging auf ihn zu, in seinem Blick war Strenge und Entschlossenheit. Amita schrie um Hilfe, und sie riss sich ihr Kleid vom Leib, um damit den Blutfluss der Verletzten zu stillen. Yuva und Shanti eilten herbei, um ihr zu helfen.
Javāharlāl saß wie erstarrt auf seinem Pferd, das Schwert gesenkt. Er sah, was er angerichtet hatte. Und er sah auch, dass hier alle furchtlos waren, die Frauen die zu Hilfe geeilt waren, scheinbar ohne sich um sich selbst zu sorgen. Diese Amita, die er während der Uposatha-Feier so bewundert hatte, und die jetzt nackt vor ihm saß und sich mittels ihres Kleides bemühte, den Blutfluss seiner Frau zu stillen. Mit Hilfe ihres Gürtels band sie jetzt den Oberarmstummel ab. Es war alles so surreal. Und dieser Yuz, der sich ihm, einem Bewaffneten, zu allem entschlossenen Mann völlig unbewaffnet nur mit stechendem Blick näherte, der jetzt mit dem Finger auf ihn zeigte und ihn anschrie: „Weiche Satan!”
Javāharlāl fühlte sich plötzlich so elend, so schrecklich allein. Noch elender und noch schrecklicher als in dem Krieg, aus dem er gerade zurückgekehrt war. Er wollte einfach nur noch weg, dann wendete er sein Pferd.
„Komm erst zurück, wenn du ein Mensch bist, du Bestie!” rief Yuz ihm nach.
Es war etwas, das ihn verfolgen sollte: der Anblick seiner Frau, als ihr abgetrennter Arm hernieder fiel, die Frauen, die trotz höchster Lebensgefahr der Verletzten zu Hilfe eilten. Amita, die so vom Willen zu helfen durchdrungen war, dass sie sich kurzerhand ihr Kleid vom Leib gerissen hatte, ohne einen Augenblick darauf zu verschwenden, sich ob ihrer Blöße zu schämen, der stechende Blick des Yuz und diese beiden Sätze, die er jede Nacht wieder hörte, wenn er schweißgebadet aufwachte. Dieser Ausdruck von ablehnender Verachtung: „Weiche Satan!”, den er in den ersten Monaten jede Nacht, wirklich JEDE Nacht wieder hörte.
Und allmählich, da war aber schon ein Jahr vergangen, hörte er auch den anderen Satz: „Komm erst zurück, wenn du ein Mensch bist, du Bestie!”
Fußnoten
1 Die Eltern arrangierten die Ehen, daher hatten diese auch das Recht zu bestimmen, wo das junge Paar wohnt.
2 Amitābha heißt „Unendliches Licht”.
Taxila lag unweit der heutigen Stadt Rawalpindi (in Pakistan), seine Blüte reichte von 500 v.u.Z. bis 500 u.Z. Hier gab es damals auch buddhistische Klöster.
4 Der indo-parthische König Gondophares I. regierte von 20 – etwa 50 u.Z. er hatte damals (laut Apogryphen) auch Kontakt mit dem Apostel Thomas.
5 Um Verwechslungen zu vermeiden wird der „kleine Raj“ ab jetzt mit der indischen Bezeichnung „Raj-i“ benannt.
Erläuterungen
Abba – Wenn Jesus Gott anbetete, verwendete er dieses aramäische Wort für „Vater„. Er nahm nicht die Anrede JHWH, die im Tenach verwendet wurde. Während JHWH den alttestamentarischen strengen Gott, der ursprünglich der Kriegsgott der Juden war, bezeichnet, interpretiert Jesus das Göttliche neu und sieht darin eine milde, verständnisvolle und unterstützende Vaterfigur.
Akṣobhya – einer der fünf Buddhas im Mandala der fünf Jinas (Buddhas), indem das, was Buddhaschaft ausmacht in ihren wichtigsten fünf Teilaspekten dargestellt wird. Akṣobhya („Der Unerschütterliche“) wird dabei als blauer Buddha dargestellt, der für Unerschütterlichkeit steht. Er wird mit der Erdberührungsgeste dargestellt (die rechte Hand berührt die Erde), was daran erinnert, dass der spätere Buddha kurz vor seiner Erleuchtung Mutter Erde als Zeugin für seinen rechten Wandel berief.
Amitābha – ein nicht-historischer Buddha, häufig wird der historische Buddha zu Meditationszwecken in fünf verschiedene Figuren aufgespalten, um einzelne Aspekte von Buddhaschaft zu betonen, hierbei steht Amitābha für Mettā (allumfassende Liebe) und Gnade. Amitābha ist auch einer der fünf Jinas, der im Osten des Mandalas der fünf Jinas dargestellt wird.
Apokryphen (auch apokryphe oder außerkanonische Schriften; ἀπόκρυφος apokryphos, deutsch ‚verborgen, dunkel‘) sind religiöse Schriften jüdischer bzw. christlicher Herkunft aus der Zeit zwischen etwa 200 vor bis ca. 400 nach Christus, die nicht in einen biblischen Kanon aufgenommen wurden oder über deren Zugehörigkeit Uneinigkeit besteht, sei es aus inhaltlichen oder religionspolitischen Gründen oder weil sie erst nach Abschluss des Kanons entstanden sind oder zur Zeit seiner Entstehung nicht allgemein bekannt waren. (Wikipedia 8.1.2024)
Bhārat Gaṇarājya – (Sprache: Hindi) indische Bezeichnung für Indien
Brahmanen – eine der Kasten im Hinduismus, nur Brahmanen dürfen religiöse Rituale vollziehen
Dharma
– hier gewöhnlich die Bezeichnung für die Lehren des
Buddha. Das Wort bedeutet Wahrheit, (Natur-)Gesetz,
Wissenschaft, Lehre.
Dharmamitta – in diesem Buch die Bezeichnung für eine Person der Metta-Sangha, die eine Zeremonie der Zufluchtnahme gemacht hat
Gandhāra – Antiker Staat mit Peschawar als Hauptstadt, der Teile des heutigen Afghanistan und Pakistan umfasste. Die frühere persische Provinz wurde von Alexander dem Großen erobert. Nach dessen Tod verfiel sein Weltreich. Hier begegneten sich indische und hellenistische Kultur. Zu Zeit des indischen Kaisers Aśoka verbreitete sich hier der Buddhismus und die buddhistischen Kultur wurde von griechischen Einflüssen geprägt. Hier entstanden auch erste Buddhabildnisse, die den griechischen Gott Apollo als Vorbild für unsere heutigen Buddhastatuen nahmen.
Gondophares I.
- gilt als der Begründer des
Indo-Parthischen Königreiches und war ein partischer
Lokalfürst, bevor er König wurde. Gondophares regierte
von 20 n. Chr. bis etwa 50 n Chr. (Quelle: Wijipedia
19.4.2024)
Grüne Tārā – Bodhisattva, die für grenzenloses Mitgefühl zu allen Wesen steht. Sie wird immer sitzend dargestellt, im Begriff aufzustehen, um den leidenden Wesen aktiv zu helfen, ihre rechte Hand zeigt die Geste der Wunschgewährung. Sie hat grüne Haut, denn sie gehört zu einer Gruppe von grünen Wesen, genannt die Karmafamilie. Neben der Grünen Tārā gibt es noch 20 weitere Tārās, die Grüne Tārā ist aber die bekannteste davon. Ihr Bild ziert unseren Meditationsraum in Gelnhausen.
jhāna-mudrā – Meditationsgeste, die Handhaltung, die für die Meditation typisch ist: beide Hände liegen entspannt ineinander im Schoß, die Handflächen nach oben, die Daumen berühren sich
Jinas, fünf – Jina heißt Sieger; im Buddhismus ist Sieger, wer die Vollkommenheit, Buddhaschaft, Nirwana, erreicht hat. Im Mandala der fünf Jinas werden fünf archetypische Figuren gezeigt, die für Eigenschaften der Vollendung und verschiedene Weisheitsaspekte stehen
Karma – im Buddhismus jede absichtlich ausgeführte Handlung. Es wird davon ausgegangen, dass Handlungen Folgen haben, die (auch) auf den Verursacher zurückwirken. Im Hinduismus hingegen wird meist davon ausgegangen, dass es karmisch heilsam sei, sich an die Regeln und Beschränkungen seiner Kaste zu halten und die Brahmanen (bezahlte) Opfer für einen bringen zu lassen.
Kṣatriya - höchste indische Kaste, umfasst Adel, Krieger, Beamte
Maṇḍala – Wörtlich: Kreis; ein geometrisches Schaubild, das in Hinduismus und Buddhismus eine Bedeutung hat. Es ist meist quadratisch mit einem Objekt in der Mitte, das zentrale Bedeutung hat. Im Maṇḍala der fünf Jinas wird im Mittelpunkt eine Figur gezeigt, die die Eigenschaften der vier anderen Figuren umfasst.
Mettā – (Pali) eine sehr positive Emotion: Wohlwollen, Zuneigung, (nichterotische) Liebe, oft als „liebende Güte“ übersetzt. Mitunter wird sie auch als „Allgüte“ bezeichnet, denn mettā soll allen Wesen in gleicher Weise entgegen gebracht werden. Es ist das, was beispielsweise Jesus meint, wenn er sagt, man solle nicht nur seinen Nächsten lieben wie sich selbst, sondern sogar seinen Feind
Mettā Bhāvanā – Meditation zur Schaffung von Bedingungen damit Mettā entsteht, normalerweise in fünf Phasen geübt (1) Mettā für sich selbst, (2) für einen guten, edlen Freund/Freundin, (3) für eine neutral besetzten Person, (4) für eine schwierige Person (Feind) und (5) für allen fühlenden Wesen.
Mettā-Sangha – Bezeichnung für die von Yuz und Amita gestiftete Spirituelle Gemeinschaft
Pantheon (von altgr. πᾶν pān ‚all, gesamt‘ und θεός theós ‚Gott‘), war in der Antike ein allen Göttern geweihtes Heiligtum. Das in der römischen Antike errichtete Pantheon in Rom ist das bekannteste Gebäude dieser Art. Heute wird der Ausdruck als Ansammlung aller Götter einer religiösen Richtung verwendet. (nach Wikipedia 19.04.2024)
Rabbiner - das ist ein Funktionsträger in der Jüdischen Religion. Seine Hauptaufgabe ist es, die Tora (ein Teil des Tenach) zu lehren. Die Grundform des Rabbiners entwickelte sich, als sich gelehrte Lehrer versammelten, um die schriftlichen und mündlichen Gesetze des Judentums zu kodifizieren.
Taxila - war die historische Hauptstadt des Reiches Gandhara, das sich über die östlichen Gebiete des heutigen Afghanistan und den Nordwesten Pakistans erstreckte. Die Herrschaft hatten ab etwa 19 u.Z. die Parther. Deren König Gondophares soll der Überlieferung gemäß den Apostel Thomas an seinem Hof zu Gast gehabt haben. (Quelle: Wikipedia 19.4.2024)
Sangha – spirituelle Gemeinschaft, hier besonders für die Gemeinschaft der Schülerinnen und Schüler des Buddha. Zur Sangha in engeren Sinn gehören nur Mönche und Nonnen, zur Sangha im engsten Sinn nur Erleuchtete.
Uposatha – heißt wörtlich Fastentag. Alle sieben Tage ist Fastentag: bei Neumond, bei Vollond und bei Halbmond (es galt der Mondkalender). An diesen Tagen waren die Laienanhänger der Jains dazu aufgerufen zu leben wie die Mönche an den übrigen Tagen, die Mönche aber fasteten. Die Regeln bei den Buddhisten sind anders, dort sollen zwar die Laien auch enthaltsam leben und auf alle Unterhaltung (Musik, Gesang, Theater) verzichten. Die Mönche machen an diesem Tag das “Eingeständnis von Fehlern”, eine Art Beichte.
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