Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 4.5.2021

Szene 074 – Wie ich Gott erschuf – 1964


Den einen oder die andere dürfte der Titel dieser Geschichte unangenehm berührt haben. Wenn jemand sich als Buddhist sieht, denkt er vielleicht: "Was um Himmels Willen will denn der Horst jetzt mit Gott?" Und wenn sich jemand in der christlichen Tradition sieht, denkt sie vielleicht, das sei eine Unverschämtheit, Gott erschuf alles und hier behauptet der Horst jetzt in seinem Größenwahn, er könne Gott erschaffen, der spinnt ja.

Wenn man die Dinge aber betrachtet, wie sie sind, so muss man zugeben, dass wir über Gott oder das Göttliche, das Transzendente, oder wie wir es auch immer nennen mögen, nur das wissen, was Ergebnis menschlichen Denkens oder menschlicher Intuition ist. Dass es sich also bei dem, was man als Gott bezeichnen kann, um eine Projektion menschlichen Geistes handelt. Diese kann völlig übernommen sein, wenn wir in kindlicher Manier das glauben, was uns jemand erzählt hat, oder was in einer Schrift steht, die manche Menschen für heilig halten. Dann hat Gott in etwa den Status wie ein Osterhase für Kinder.

Zum Erwachsenwerden gehört es, diese überkommenen Bilder zu hinterfragen. Von einigen dieser fremdgesteuerten Projektionen haben wir uns emanzipiert: vom Osterhasen, vom Weihnachtsmann, vom Klapperstorch, von Batman. Und selbst wenn wir als Kind gottgläubig aufgezogen wurden, so werden wir früher oder später Gott hinterfragt haben. Manche haben sich dann ganz von ihm gelöst, ihn ins Reich der Fabel verwiesen, ebenso wie den Osterhasen. Andere haben sich zwar vom Gott ihrer Kindheit emanzipiert, ihn aber neu interpretiert. Das sind dann keine fremdgesteuerten Projektionen mehr, sondern selbstgesteuerte. Es sind Versuche einer Annäherung. Wenn wir so verfahren sind, haben wir uns unseren Gott selbst erschaffen. Vielleicht haben wir diese Reflexionen zum Thema Gott dann später vergessen oder zu den Akten gelegt, oder aber dieses Projektion beeinflusst uns bewusst oder unbewusst weiter, oftmals unser ganzes Leben lang. Ich denke es ist ganz wichtig, uns dessen bewusst zu werden. Ich gehöre zu den Menschen, die sich als Jugendliche auf diese Weise ihren Gott erschufen, und genau davon will ich hier berichten.

Es war nicht lange nach dem Zwischenfall im Golf von Tonkin (4.8.1964), der den Krieg der USA gegen Vietnam auslöste, als der junge Horst, er muss damals zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein, beschloss, jeden Abend eine kleine private Friedensprozess zu unternehmen.

Der zweite Weltkrieg lag seinerzeit noch keine zwanzig Jahre zurück und meine Eltern hatten mir gewissermaßen den Pazifismus mit der Muttermilch verabreicht. Meine Mutter, die bei der Zerstörung Hanaus am 19. März 1945 ausgebombt wurde, war daran ebenso beteiligt wie mein Vater, der seine Augen im Russlandfeldzug verloren hatte. Mein Großvater hatte schon im Ersten Weltkrieg den Dienst mit der Waffe verweigert und war ebenso wie meine Großmutter Pazifist, obwohl sich beide nicht so bezeichnet hätten.

„Nie wieder Krieg!“ mit dieser Parole bin ich aufgewachsen und diese Einstellung war und ist auch ein Grund dafür, dass ich heute dem Mann folge, der die Übernahme der Rajawürde verweigerte, die ihn zum Landes- und wohl auch Kriegsherrn gemacht hätte, nachdem er bereits in einem Krieg als Vermittler tätig war, ich meine natürlich den Buddha.

Damals, Mitte der 60er Jahre, erschütterte mich der neue Vietnamkrieg von daher besonders, weil ein mir wichtiger Slogan war, dass vom deutschen Boden nie wieder Krieg ausgehen sollte – aber weniger als ein Kilometer von meinem Bett entfernt übte die US-Army ihre Einsätze für Vietnam. Ich, ein Knabe an der Grenze zwischen Kindheit und Jugendalter, sah als einziges, was ich tun konnte, meine kleinen Friedensprozessionen und Gebete. Und so ging ich jeden Abend bei Dämmerung die zwei Straßen weiter bis zur Großauheimer Waldwiese, zündete dort meine Kerze an, hielt in der anderen Hand mein selbstgesägtes Holzkreuz und ging betend über die Waldwiese bis zum Bahndamm. Dort setzte ich mich mit verschränkten Beinen auf die Gleise nieder um zu meditieren und zu reflektieren. Zuhause war es nicht erwünscht, dass ich das machte. „Der Faulpelz sitzt schon wieder da und starrt Löcher in die Luft“, hieß es da.

Dieser Bahndamm war für die Kohlebahn, die den Hanauer Hauptbahnhof mit Deutschlands damals größten Kohlekraftwerk verband, eine Einrichtung, die wesentlich dazu beitrug, dass ich an 100 – 140 Tagen im Jahr unter Kopfschmerzen litt. So saß ich da, das Gesicht dem Unheil zugewendet, dem Exerzierplatz, auf dem Panzer Flussüberquerungen übten.

Hinter dem Exerzierplatz war früher die Pulverfabrik, die im Ersten Weltkrieg die Munition für die dicke Bertha, die weltgrößte Kanone produzierte, später stellte dort die Firma Degesch Zyklon B für die deutschen Gaskammern her, jetzt entstand dort gerade das „Atomdorf“, später als Hanauer Nuklearbetriebe bekannt, und nebenan hatte die US-Army ein Raketenlager, von dem man munkelte, dass dort auch Atomwaffen stationiert waren.

Das war also meine Umgebung für meine täglichen Gebete, meine Meditationen und meine Reflexionen, die in der Regel sehr tränenreich waren. Konnte es sein, dass das hier alles Gottes Schöpfung war? Würden die, die dort übten, dafür in der Hölle schmoren? Was war mit meinem geliebten Vater, der als deutscher Soldat auch an einem Angriffskrieg beteiligt war und der sechs Jahre zuvor gestorben war. Konnte es sein, dass der in der Hölle war? Der Mann der so ungeheuer liebevoll zu mir war? Oder vielleicht im Fegefeuer, von dem der Pfarrer immer so plastisch sprach und vor dem ich mich am meisten fürchtete.

Einmal die heilige Messe am Sonntag zu versäumen, so hatte dieser Gottesmann gesagt, würde mit etwa sieben Jahren Fegefeuer bestraft. Also ging ich brav in die Kirche, litt unter dem Weihrauch, gegen den ich allergisch war, und hatte den Rest des Sonntages Kopfschmerzen, auch wenn das Wetter sonnig war, sodass ich gerade einmal keine Kopfschmerzen vom Kohlekraftwerk bekam. Das war schlimm, aber immer noch weitaus besser als sieben Jahre Purgatorium.

Überhaupt das Fegefeuer. Früher hatte ich das als merkwürdig angesehen. Himmel und Hölle war klar – die Guten ist Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, das war ein Prinzip, das klar und verständlich war. Wer Gutes tut, wird belohnt wie die Goldmarie bei Frau Holle, die Faulen würden bestraft wie die Pechmarie, das machte Sinn – aber das Fegefeuer? Andererseits, was soll das? Da weiß der allwissende Gott, dass der Übeltäter übles tun wird und lässt es zu. Und dann wird dieser Übeltäter für alle Ewigkeit in die Hölle gesperrt. Obwohl Menschen doch lernfähig sind und sich ändern können. Irgendwie war mir das alles zu einfältig.

Und konnte Gott Kriege und Judenvergasung zulassen, wo die Juden doch sein auserwähltes Volk waren? Und wo war mein Vater? Im Himmel, wie meine Mutter behauptete? Im Fegefeuer, für das man schon wegen kleiner Vergehen wie dem Versäumen des Gottesdienstes Jahre schmoren musste? Oder doch in der Hölle, weil er im Krieg getötet hatte?

Eines Tages aber lösten sich alle diese Fragen auf. Wenn man schon wegen kleiner Vergehen ins Purgatorium, ins Fegefeuer kommt, dann mussten dort praktisch alle Leute zumindest zeitweise sein. Und der Krieg? War nicht der Krieg selbst so etwas wie das Fegefeuer? Meine Kopfschmerzen waren auch das Fegefeuer, auch wenn sie sich wie die Hölle anfühlten. Hölle und Fegefeuer waren beide das Purgatorium, und ich war da drinnen. Und da hier auch meine Eltern, meine Lehrer, meine Schulkameraden und der Bundeskanzler waren, waren wir offensichtlich alle im Fegefeuer, wo man nach dem Tod hinkommt. Wir alle waren schon gestorben und wiedergeboren, und das würde immer so weitergehen, bis wir vollkommen geläutert waren, uns perfekt verhielten, zur Vollkommenheit gelangt waren.

Es war gerade so, als hätte ich auf dem Bahndamm den erst dreißig Jahre später gedrehten Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ gesehen. Plötzlich machte alles Sinn. Das Leben ist wie ein großer Regelkreis, und nur die vollkommen Geläuterten konnten aus diesem perpetuum purgatorium entkommen.

Ich dankte Gott für diese Erkenntnis, die sich mir von Tag zu Tag, oder besser: von abendlicher Friedensmeditation zu abendlicher Friedensmeditation weiter eröffnete. Aber eine Frage blieb doch noch: Warum sollte Gott das alles angerichtet haben? Warum hat er die Menschen nicht gleich perfekt erschaffen? Warum all dieses Leiden, wenn doch Gott von Anbeginn an da ist und außerdem allmächtig ist.

Aber woher eigentlich diese Gewissheit bezüglich Gott? Der Pfarrer hat´s gesagt. Das war der gleiche Pfarrer, der sieben Jahre Purgatorium für einen versäumten Gottesdienstbesuch in Aussicht stellte. Dem konnte ich nicht mehr glauben. Und die Bibel? Bestimmt von irgendwelchen Pfarrern oder ähnlichen Leuten verfasst.

Es war plötzlich, als wären alle diese Gewissheiten meiner Kindheit vom Tisch gewischt worden. Die Bibel war genau so wahr wie die Sache mit dem Christkind und dem Osterhasen, nur dass auch viele Erwachsenen daran glaubten: die waren eigentlich auch alle weiterhin nichts anderes als dumme Kinder.

Und woher wusste ich von der ständigen Wiedergeburt im Rad des Lebens, das ein Purgatorium ist? Nun, nur aus meine Meditationen, Kontemplationen, Reflexionen. Ich stellte überrascht  fest, dass ich inzwischen das Kreuz ganz am Rand des Bahndammes abgestellt hatte. Nur die Kerze war noch da, sie, die Kerze, das Licht, sie war immer bei diesen Bahndamm-Meditationen dabei. Dort schaute ich hin, ins Licht. Das Licht der Erleuchtung hatte das Kreuz verdrängt.

Ich versuchte mir Klarheit zu verschaffen, alle diese Reflexionen zu rekapitulieren. Es gibt beständige Wiedergeburt bis zum Erreichen der  Vollkommenheit. Es kann am Anfang keinen allmächtigen, gütigen Gott gegeben haben, der dieses ganze Unheil angerichtet hat. Aber es gibt nicht nur Materie, sondern auch Geist. Im Religionsunterricht hieß es, wir hätten Geist von Gottes Geist. Aber dieser Gott ist entweder nicht allmächtig oder nicht gütig oder beides nicht. Vermutlich ist er so unvollkommen wie unser Geist. Oder ist da gar kein abgetrennter Gott. Ist Gott nichts anderes als die Summe von Geist? Und wir lernen hier im Purgatorium allmählich und mühsam, um uns zu vervollkommnen. Wenn das stimmt, sind wir alle nichts anderes als der Lernprozess Gottes, des Geistes, der sich anschickt, allmählich, ganz allmählich irgendwann einmal ein Heiliger Geist zu werden.

Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, heißt es in dieser von mir gerade vom Podest gestoßenen Bibel. Wie wenn es genau anders herum ist. Am Ende wird Gott sein? Aber das Wort? Das ist Quatsch, aber vielleicht: die Weisheit. Am Ende wird Gott sein und es wird Weisheit herrschen. Das klingt plausibel. Eine lernende Welt, die Evolution: ein Lernprozess.

Und was ist mit uns, wenn wir uns dereinst so vervollkommnet haben, dass wir nicht wiedergeboren werden. Wohin gelangen die Vollendeten? Bestimmt nicht in dieses alberne Paradies, das so eine Art himmlisches Schlaraffenland ist.

Nun, sie haben ihren Körper verlassen, sie werden nicht wiedergeboren, nicht reinkarniert, nicht wieder zu Körper. Sie bleiben Geist. Sie? Wieso sollte Geist getrennt sein, der Geist vereint sich ebenso wie Wassertropfen sich vereinen und zu Wasser werden, zum Ozean zusammenkommen. Sie bleiben keine Wassertropfen, sie werden zu Bächen, Flüssen, Seen, Meeren. Und ebenso gehen die Vollkommenen in dem Vollkommenen oder der Vollkommenheit auf, wir können das auch Gott nennen. Gott ist keine abgegrenzte Person, er ist die Summe alles vollkommenen, alles erleuchteten Geistes, das ist der Ozean der Weisheit, der Vollkommenheit.

Und die Schöpfung? Ha, da ist keine Schöpfung und da sind keine Geschöpften. Das ist nur eine sich selbst steuernde göttliche Schöpfung. Die ganze Evolution ist nichts anderes als die Selbstschöpfung Gottes, oder des widerspruchsfreien Geistes. Wir sind Teil Gottes, der nicht war, sondern sich gerade erst konstituiert. Und wir alle sind Teil der Konstituierung Gottes. Das war meine Erkenntnis damals vor mehr als fünfzig Jahren an meinem letzten Abend am Bahndamm.

Danach bin ich nie wieder dorthin zurück, an den Bahndamm. Warum? Auf dem Rückweg von dieser letzten Meditation und Reflexion am Bahndamm habe ich in der Dunkelheit auf etwas getreten. Es war nachgiebig und hat geknackt. Was konnte das sein? Vor meinem geistigen Auge erschien ein Igel. Ich bückte mich und wollte fühlen, ob es ein Igel war, oder vielleicht nur Gebüsch. Da war nichts. Ich bekam schreckliche Angst. Habe ich auf einen Igel getreten? Habe ich ihm vielleicht sogar seine Knochen gebrochen? Schleppt sich das arme verletzte Tier jetzt irgendwo hin, wo es elendiglich verendet, nur weil ich zu meinen Meditationen irrsinniger Weise zum Bahndamm gehe, statt zu Hause zu bleiben und der Kritik zu trotzen: „Da sitzt schon wieder der Faulpelz und starrt Löcher in die Luft - ein Faulpelz: dick, dumm, faul und gefräßig!“

Also beschloss ich, für den Rest meines Lebens derlei Kritik von meinen Widersachern zu ertragen. Was kann das einem Menschen ausmachen, der im Begriff ist sich zur Vollkommenheit zu entwickeln, um nie wiedergeboren zu werden? So ein bisschen Kritik ist für einen starken Kerl wie mich viel leichter zu ertragen als Schmerzen für einen Igel – und wenn ich will, wenn ich wirklich vollkommen werden will – dann ist die Option bei Dunkelheit draußen zu gehen und womöglich Igel zu quälen, nicht zu machen für einen, der im Begriff ist, den Pfad zur Vollkommenheit zu beschreiten.

All das war im Hintergrund meines Bewusstseins für ein Viertel Jahrhundert vorhanden, zunächst mussten jedoch noch einige andere Dinge erledigt werden, so glaubte ich damals jedenfalls: Schule, Beruf, Kinder zeugen und erziehen – alles Sachen, die ich aufgrund meiner Sozialisation als selbstverständlich angenommen und nicht hinterfragt hatte. Das am Bahndamm Geschaute aber ging nie ganz in Vergessenheit. Und als ich ein Viertel Jahrhundert später ein Huhn bei seinem Weg zur Vollkommenheit beobachtete, kam mir die Idee, es sei an der Zeit, die unwichtigen Dinge hintanzustellen und die wichtigen Dinge anzugehen.

Aber die Sache mit dem Huhn ist natürlich eine ganz andere Geschichte (vgl. Szene 10).

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