Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 1.5.2022

Szene 111 – Der Albaner - 2011



Als Lehrer an den Beruflichen Schulen hatte ich die unterschiedlichsten Schüler, in den letzten zehn Jahren allerdings nur noch FachoberschülerInnen und Bürokaufleute. Die Bürokaufleute waren damals, zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Gelnhausen, Auszubildende, die in der Regel die Mittlere Reife oder die Fachhochschulreife hatten, manche hatten auch Abitur und etwa eine Person pro Klasse den Hauptschulabschluss, in der Regel gab es mehr junge Frauen als Männer.

In der kaufmännischen Fachoberschule (FOS) war meist ein nur geringer Frauenüberschuss, alle hatten Mittlere Reife und strebten die Studienberechtigung für einen Batchelor-Studiengang an, jedenfalls auf dem Papier. Man beachte das Ende des letzten Satzes, denn eigentlich waren die meisten alles andere als strebsam. Und sie wollten eigentlich auch gar nicht studieren, sondern eine kaufmännische Ausbildungsstelle, die sie aber mit ihrem – meist eher mäßigen – Realschulabschluss nicht bekamen. Also dachten sie, wenn sie noch zwei Jahre zur Schule gingen, würden sie diese dann bekommen. Dass es aber nicht darum ging, nur zwei Schuljahre mehr abzusitzen, sondern dass sie dazu eine höhere Qualifikation erwerben müssen, also mehr tun müssen als bisher, war ihnen zu Beginn der zweijährigen FOS-Zeit nicht klar. Ihnen das klarzumachen war meine Aufgabe im ersten Schuljahr, in der Klasse 11.

Dies war für alle eine schmerzliche Erkenntnis und führte dazu, dass nur etwa die Hälfte in die Klasse 12 versetzt werden konnte. Von anfangs etwa 25 SchülerInnen ging etwa ein Drittel während der ersten neun Monate freiwillig von der Schule ab, weil sie erkannten, dass ihr Leistungswille (in einzelnen Fällen auch ihre Leistungsfähigkeit) für diese Schulform nicht ausreichte, wodurch von den 25 SchülerInnen noch etwa 16 verblieben, einige (etwa vier) blieben noch sitzen; das waren die, die sich vorgenommen hatten, es beim zweiten Anlauf mit etwas mehr Fleiß zu versuchen. Dieser Prozess während der Klasse 11 war für alle Beteiligten schmerzlich, aber dafür gab es dann in Klasse 12 ein akzeptables Niveau. Wer diese Klasse erfolgreich absolvierte, und das waren fast alle, konnte sich auf eine gute Ausbildungsstelle oder ein erfolgreiches Studium freuen.

Diese Geschichte spielt in der Klasse 11, also während des problematischen Jahres. In diesem ersten Schuljahr sind die SchülerInnen nur zwei Tage pro Woche im Schulunterricht, die übrige Zeit in einem betrieblichen Praktikum. Besonders schwierig ist es natürlich für Schüler, die aus einem anderen Kulturraum kommen, sie haben zusätzlich zu den Problemen der anderen noch das Problem mit unserer Kultur. Hiermit tun sich vor allem junge Männer schwer, wenn sie feststellen, dass ihre Mitschülerinnen erfolgreicher sind. Das kratzt doch erheblich am Selbstbild und wird mitunter durch Trotz, Macho-Gebaren und Ungehorsam kompensiert.

Genau so ging es Enver (Name geändert), einem jungen Albaner. Da er intellektuell mit vielen seiner Mitschülerinnen nicht mithalten konnte, neigte er dazu, sein Unwohlsein durch renitentes Verhalten zu überspielen. An dem Tag, an dem diese Geschichte spielt, muss er sich besonders unwohl gefühlt haben, denn er verstieß bewusst in provokativer Art gegen ein Verbot, das Verbot der Nutzung von Handys während des Unterrichts. Es gab an unserer Schule die Regel, dass Handys während des Unterrichts abgeschaltet sein müssen und in der Tasche zu verbleiben haben. Bei Zuwiderhandlungen sei das Handy vom Lehrer einzukassieren und im Sekretariat abzugeben, wo es sich der Schüler nach dem Unterricht wieder abholen kann. Zugegebenermaßen gab es kaum Lehrer, die die letztgenannte Maßnahme tatsächlich durchsetzten.

Enver benutzte sein Handy an diesem Tag, um unter dem Tisch ein Videospiel auf dem Handy zu machen. Ich ermahnte ihn, das Handy wegzutun. Enver spielte weiter. Natürlich schaute die Klasse gespannt, wie dieser Machtkampf weiterging.

Ich ging auf ihn zu, hielt die Hand auf und sagte ihm, er solle mir das Handy geben, er würde es nach dem Unterricht im Sekretariat abholen können. „Nein, ich muss das Spiel noch weitermachen.“ Jetzt war es mucksmäuschenstill in der Klasse. Wer wird wohl aus diesem Konflikt erfolgreich hervorgehen? Enver war bereit den Konflikt durchzustehen. Und ich wusste, dass es für die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Klasse notwendig war, mich durchzusetzen.

Enver, verlasse den Unterricht!“

„Nein, ich denke gar nicht dran!“

Eigentlich waren jetzt meine Machtmittel ausgeschöpft, die legalen Machtmittel jedenfalls. Man konnte eine Stecknadel fallen hören. Ich packte den Schüler an der Jacke, zog ihn von seinem Sitz hoch und wurde laut: „Du verlässt jetzt augenblicklich den Unterricht!“

Enver riss sich los, ich ging noch einen Schritt auf ihn zu, zeigte zur Tür. „Raus!“ Das war für Enver zu viel, jetzt müsste er entweder gehorchen oder Gewalt anwenden.

Vor diesem Hintergrund muss noch gesagt werden, dass bei vielen Albaner noch immer ein Clan-Denken herrschte. Es konnte sein, dass er nach Hause geht und erwartet, dass seine Familie Rache nimmt. Und noch ein weiteres Risiko war da: Envers Praktikumsstelle war ein Anwaltsbüro, Spezialgebiet: Verwaltungsrecht. Und ich hatte bewusst gegen die Dienstordnung verstoßen, indem ich ohne an der Kleidung gepackt und hochgezogen hatte. Das konnte ein übles Verwaltungsgerichtliches Nachspiel haben und für mich eine Disziplinarstrafe bedeuten.

Enver funkelte mich mit bösem Blick an, dann drehte er sich herum und kickte seinen Stuhl in die Ecke, was ich mit Wohlgefallen sah, denn er hatte sich entschieden, seine impulsive Reaktion gegen Sachen zu richten, nicht gegen mich. Er schrie mich an, nahm seine Tasche und sein Handy und verließ den Raum, nicht ohne die Tür donnernd zuzuschlagen.

Ich aber ging ruhig zu meinem Platz, und forderte die Schüler auf, die nächste Buchführungsaufgabe zu beginnen, ich müsse kurz den Unterricht verlassen, um der Schulleitung Meldung zu erstatten. Von da an war allen SchülerInnen klar, dass Regeln eingehalten werden müssen, dass sich dieser Lehrer nicht von einzelnen Schülern vorführen ließ und notfalls auch bereit war, einen Konflikt einzugehen.

Ich ging also zur Abteilungsleiterin um Meldung zu machen. Sie sagte, sie müsse dazu ein Protokoll anfertigen und dazu brauche sie einen Schüler der Klasse, der den Vorfall bezeugen müsse. Ich sagte ihr, ich würde nicht irgend einen Schüler dazu holen, sondern die Klassensprecherin, denn diese habe die Interessen der Klasse zu vertreten.

Dann wurde ich von der Abteilungsleiterin befragt, anschließend ging ich in die Klasse, um nach dem Fortgang der Aufgabenbearbeitung zu sehen, auftretende Fragen zu beantworten und weitere Anweisungen für die Bearbeitung zu geben – also: bussiness as usual aufzuzeigen – und bat die Klassensprecherin mitzukommen. Diese wurde dann von der Abteilungsleiterin (in meiner Abwesenheit) befragt. Hinterher las diese ihr Protokoll vor, das die Schülerin und ich unterschreiben sollte. Ich bat das Protokoll in einem Punkt zu ändern. Sie hatte geschrieben „dann zupfte Herr Gunkel den Schüler an der Kleidung“ - offensichtlich war das der Ausdruck, den die Klassensprecherin verwendet hatte. Ich bat die Klassensprecherin, dass wir das ersetzen durch „dann zog Herr Gunkel den Schüler kräftig an der Kleidung nach oben“. Anschließend unterschrieben wir das so geänderte Protokoll.

Ich bin sicher, dass die Klassensprecherin hinterher den Schülerinnen erzählt hat, was bei der Abteilungsleiterin geschah – und auch dass ich auf eine Verschärfung der Formulierung gedrungen habe. Ich denke, dass mir dies Respekt verschafft hat.

Dann rief ich den Praktikumsbetrieb, die Anwaltskanzlei, bei der Enver beschäftigt war, an, wobei ich durchaus Ängste hatte, war dies doch eine auf Verwaltungsrecht spezialisierte Kanzlei, und ich hatte eindeutig gegen die Dienstvorschrift gehandelt. Ich verlangte, den Anwalt selbst zu sprechen. Doch meine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Es stellte sich heraus, dass die Kanzlei erhebliche Schwierigkeiten mit dem problematischen Enver hatte und sich schon überlegte, wie sie ihn loswerden könne. Das sei jetzt ein Kündigungsgrund! Tatsächlich wurde Enver fristlos entlassen und, da er kein Praktikum mehr hatte, musste er auch die Schule verlassen. Das hat zweifellos meine Autorität gefestigt und damit dazu beigetragen, dass ein geordneter Unterricht zum Wohle all derer stattfinden kann, die sich weiterqualifizieren wollen – und auch, dass meine Schüler weniger in Versuchung gerieten, den Unterricht in einer Art zu unterminieren, der ihrem weiteren beruflichen Werdegang nicht dienlich sein konnte.

Ein oder zwei Jahre später ging ich in Gelnhausen über die Kinzigbrücke, Enver kam mir entgegen, er sah mich, und ich war gewärtig jetzt von ihm vielleicht beschimpft zu werden. Doch weit gefehlt „Guten Tag, Herr Gunkel, ich habe sehr viel über Sie nachgedacht. Ich glaube, Sie sind so ähnlich wie ich, ganz impulsiv und wollen sich dann durchsetzen. Aber es war das beste, was mir passieren konnte, dass ich von der FOS geflogen bin. Ich lerne jetzt KFZ-Mechaniker, das passt wesentlich besser zu mir als das ganze Wirtschaftszeug und die Buchführung.“

Prima,“ sagte ich, „und ich bin stolz auf dich. Dass du so viel reflektiert hast und dass es dir gelungen ist, dich in jemanden anderes herein zu versetzen, in mich, der dir doch als dein Gegner vorkam – alle Achtung, das schaffen nur wenige.“ Ich klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, dann verabschiedeten wir uns mit einem Händedruck.

Ich war zwar nicht der Meinung, dass ich impulsiv bin, ich fand vielmehr, dass ich die Situation ganz klar analytisch betrachtet hatte und mein Agieren davon getragen war, was vor allem für die Klasse und unsere Lernsituation das Beste war.

Aber meine Hochachtung vor dem Perspektivwechsel, den Enver vorzunehmen in der Lage war, die war echt.


Zurück zu  Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen.
Zurück zur Heimatseite