Horst,
der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens
zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen
Buddhisten - Stand 23.4.2022
Szene 110 – Weihnachtszeit (1956)
Oh, gesegnete Weihnachtszeit!
Die Weihnachtszeit, das ganze Adventsgeschehen, war in meiner Kindheit eine besondere Zeit, eine selige Zeit. Meine Mutter liebte das Mysterium des Weihnachtsfestes und zeigte ihre Mutterliebe, ihre Hingabe an ihr einziges Kind, das ich damals war, in besonderer Weise. All das scheint im Rückblick übertrieben, aber für mich war es so etwas wie der Himmel auf Erden.
Es geht hierbei vor allem um die Jahre 1954 bis 1957. 1954 war ich drei Jahre alt, hier beginnen meine bewussten Erinnerungen an die Weihnachtszeit. Im Jahr 1958 starb mein Vater, von da an war Weihnachten noch immer das Fest, das meine Mutter besonders umtrieb, aber von da an legten sich auch dunkle Schatten auf die Familie. Und wenn ich schrieb, dass ich ihr einziges Kind gewesen sei, so liegt das daran, dass meine Schwester erst im Dezember 1957 zur Welt kam, von dieser ungetrübt fröhlichen Zeit also nichts mitbekam, obwohl sich unsere Mutter auch danach noch von Herzen darum bemühte, eine herrlich-mysteriöse Weihnachtszeit für uns zu gestalten.
Und selbst 1977, als meine beiden Töchter ein bzw. zwei Jahre alt waren, bezahlte sie meiner Ehefrau und mir einen Weihnachtsurlaub in Sri Lanka, um ihren beiden Enkeltöchtern ein mysteriös-Schönes Weihnachtsfest zu bereiten. Das war auch gut so, denn ein Jahr später konnte sie das nicht mehr, da war sie tot. Ich bin froh, dass sie noch ein letztes Mal die Gelegenheit ihr herrliches Weihnachtsfest jemandem zu schenken.
Doch zurück in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts.
Die Weihnachtszeit begann irgendwann im letzten November-Drittel. Meine Mutter weckte mich mit den Worten: „Horst, komm doch mal heraus, stell dir vor: es weihnachtet!“ Schlaftrunken stolperte ich aus meinem Bettchen, ging in den Flur. „Wieso weihnachtet es denn?“ Mutter zeigte nach oben, über die Tür des Wohnzimmers. Tatsächlich, dort hing ein kleiner Tannenzweig mit einem roten Schleifchen und zwei Christbaumkugeln.
„Heute Nacht muss eines von den Advents-Englein dagewesen sein, und hat diesen Zweig angebracht!“ Ich machte große Augen: Ja, das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Adventszeit angebrochen war!
„Mama, wir brauchen einen Adventskranz, wann ist denn der erste Advent?“ „Am nächsten Sonntag, in drei Tagen, bis dahin müssen wir einen schönen Adventskranz bauen. Aber vorher müssen wir noch an die Vögelchen denken, damit die auch ein schönes Weihnachtsfest haben.“
An diesem Tag waren also die Vögel als Objekt unserer weihnachtlichen Liebe dran. Das bedeutete, dass ganz viele Walnüsse geknackt wurden, aber so, dass möglichst zwei Schalenhälften übrig blieben, die Schale also nicht total zerbrach. Das machte meine Mutter, sie war die vorsichtigste von uns. Meine liebe Großmutter (vgl. Szene 026 – Frieda, die liebe Großmutter) löste dann die essbaren Teile von den Schalen und tat sie in eine kleine Schüssel, wofür die waren, wollte Mutter noch nicht verraten. „Du wirst schon sehen, Spätzchen, was wir daraus machen.“ Ich hatte die verantwortungsvolle Aufgabe die Schalen zu sortieren in einwandfreie und leicht beschädigte und die einwandfreien nach der Größe zu ordnen.
Dann gab meine Mutter Kokosfett „Palmin“ in einen kleinen Topf und stellte diesen auf den Kohlenherd, ziemlich am Rand, damit das Tett schmolz, aber nicht verbrannte. Als es geschmolzen war, wurde der Topf auf ein Brettchen auf den Küchentisch gestellt, nunmehr wurden Sonnenblumensamen (mit ihren Schalen) eingerührt und noch eine andere Sorte Samen, dessen Namen ich nicht mehr weiß, das waren kleine gelbliche runde Kügelchen. Allmählich wurde das Palmin immer zähflüssiger, Großmutter rührte es von Zeit zu Zeit, damit sich die Samen nicht alle ganz am Boden absetzten. Inzwischen hatte Mutter über einer Kerze die Spitze einer Stoffnadel erhitzt und bohrte damit Löcher in die Walnussschalen unweit der Spitze. Durch diese wurde eine Kordel gezogen. Großmutter füllte das inzwischen wieder recht zähe Palmin mit den Körnern mittels eines Teelöffels in die Walnussschalen, und ich hatte diese dann wieder zu sortieren, diesmal nach der Länge der Kordel.
Schließlich wurde alles in den Garten getragen und dann ging es zu dem Birnbaum „Clapps Liebling“. Eine Leiter wurde darunter platziert und nunmehr wurden die Walnussschalen mit dem Fett darin aufgehängt, damit die „Hänschen“, so nannte die liebe Großmutter die Vögel, im kalten Winter etwas zu fressen hätten. An den untersten Zweigen durfte ich versuchen, etwas zu befestigen. Abschließend wurde das gleiche Verfahren noch am anderen Birnbaum, am Apfelbaum und am Fliederbaum durchgeführt.
Der Abend war noch einmal besonders spannend, heute durfte ich erstmals in diesem Jahr meine Hausschuhe vor die Wohnungstür stellen, vielleicht ging ja der Nikolaus schon um und legte etwas hinein.
Am nächsten Morgen musste ich nicht mehr geweckt werden, sowie der erste Lichtstrahl durch die Ritzen des Rollladens ins Schlafzimmer fiel, rannte ich los – tatsächlich in meinem Schuh war eine kleine Schokoladenkugel, verpackt in rotem Silberpapier. Ich war glücklich und rannte triumphierend durch die Wohnung: „Mama, der Nikolaus hat tatsächlich etwas in den Schuh gelegt.“ „Und, Horst, hast du denn auch schon gesehen, was im Flur noch passiert ist?“
„War vielleicht wieder ein Advents-Englein da?“ „Schau doch nach!“ Ich suchte alle Wände im Flur ab, konnte aber nichts entdecken. Dann hob mich Mutter hoch, sodass ich auf den Schuhschrank sehen konnte: „Ja, Mama, wieder eine Adventszweig, und eine Kerze!“ Tatsächlich steckte in einem hölzernen roten Stern eine rote Kerze. „Und da sind Fliegenpilze!“ rief ich, denn zwei kleine künstliche Fliegenpilze waren als Dekoration an dem Zweig. „Jetzt weihnachtet es wirklich sehr!“ sagte Mutter, „und das bedeutet, dass wir heute viel Arbeit haben. Ich habe ein Brief von Christkind persönlich bekommen, wir sollen den Engeln beim Backen von Weihnachtsgebäck helfen!“
„So wie beim Kuchen backen, und ich darf die Schüssel auslecken?“ fragte ich erwartungsvoll. „Wenn du schön hilfst, darfst du auch die Schüssel auslecken, aber wir müssen vor allem ganz viele Plätzchen backen, damit die Englein nicht so viel Arbeit haben. Und wenn du schön hilfst, sehen das die Englein und sagen es auch dem Nikolaus!“ Das war natürlich sehr motivierend, denn vor dem Weihnachtsfest war noch der Nikolaustag, und der Nikolaus führte genau Buch darüber, was ich so alles half, aber auch über alles, wenn ich unartig war.
An diesem Tag gab es tatsächlich sehr viel Arbeit. Da war zum Beispiel das Spritzgebäck zu fertigen; Mutter rührte dafür in einer Schüssel alles Mögliche zusammen. Inzwischen war auch klar, wozu all die Walnusskerne waren: Großmutter wiegte sie mit dem Wiegemesser in ganz kleine Stücke, diese kamen dann in einen Teig. Der Teig wurde alsdann mit einem Suppenlöffel in ein trichterförmiges dickes Tuch gefüllt, auf dessen Spitze ein Plastikgegenstand geschraubt wurde, die „Tülle“. Und dann wurde damit Spritzgebäck gefertigte, manchmal S-förmige Teile, dann aber auch Kreise und sogar Herzchen. Diese kamen auf einem Backblech in den Ofen.
In der Zwischenzeit hatte die liebe Großmutter einen weiteren Teig gefertigt, ungefähr so wie Rührkuchenteig. Der wurde nun in zwei Teile aufgeteilt, von denen einer mit Kakao dunkel gefärbt wurde, der andere blieb hell. Meine Mutter rollte daraus zwei Platten aus, eine helle und eine dunkle, dann legte sie beide aufeinander und rollte diese zusammen, sodass eine dicke Wurst entstand. Dann schnitt sie diese Wurst in einzelne Scheiben, die jetzt wie eine schwarz-weiße Spirale aussahen, und ich durfte helfen, diese auf einem Kuchenblech auszubreiten, sodass immer ein Daumenbreit dazwischen Platz war.
Und schon wieder hatte meine Großmutter einen Teig fertig angerührt. Mutter rollte diesen aus, und dann war ich dran: ich durfte Plätzchen ausstechen, dazu gab es Metallformen in verschiedenen Formen: ein Stern, ein Weihnachtsbaum, ein Schweinchen, ein Vogel, ein Englein, aber auch Spielkartensymbole: Herz, Karo, Kreuz und Pik.
Das Ausstechen war eine schwierige Arbeit, aber ich durfte helfen! Besonders schwer waren die Symbole mit engen Ecken, also zum Beispiel der Kopf beim Vögelchen, die Zweige beim Weihnachtsbaum, das Pik und das Kreuz von den Spielkartensymbolen, denn dann lösten sich die Ecken nur schwer aus dem Rahmen. Am einfachsten war das Herz, aber auch der Stern war nicht schwierig, wenn man die Spitzen vorsichtig mit einem Löffelstil von den Formen löste. Die Herzen machte ich! Und ich war auch daran beteiligt, die Plätzchen auf das eingefettete Backblech zu legen. Nachdem diese Plätzchen fertig waren, wurden manche davon mit Schoko-Glasur bepinselt, andere mit Eigelb, und dann kam farbige Zuckerkügelchen darauf. Das durfte ich machen!
Und dann kamen noch die Makronen. Hierzu wurden Oblaten auf das Backblech gelegt, Mutter gab immer einen Teelöffel voll Teig darauf und drückte diesen leicht an und ich arrangierte die Makronen im richtigen Abstand auf dem Backblech.
Zwar hatte ich mich immer beschwert, dass für mich viiiiiel zu wenig Teig zum Auslecken in den Schüsseln blieb, dennoch bekam ich jetzt Bauchschmerzen und wurde mit einer Wärmflasche und einem Bilderbuch auf dem Wohnzimmersessel platziert, sodass ich die Aufräumarbeit in der Küche nicht mitbekam. Inzwischen war Papa von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte in seinem Sessel im kleinen Wohnzimmer Platz genommen, wo ich ihm von unserer grandiosen Plätzchen-Unterstützungs-Aktion für die Engelchen berichten durfte, und natürlich hob ich die große Schwierigkeit meiner Tätigkeiten hervor, die ich mit heldenhaftem Einsatz vollzogen hatte.
„Wir haben noch keinen Weihnachtsbaum!“ fiel es mir erschreckt ein. „Ja,“ sagte mein Vater, „den müsste der Nikolaus eigentlich irgendwann vorbeibringen und in den Garten neben die Garagentür stellen, so wie letztes Jahr. Aber warst du denn auch artig genug, dass wir wieder einen so schönen großen Weihnachtsbaum bekommen wie letztes Jahr?“ Ich erschrak. Viele kleine Missetaten vielen mir ein und ich versprach, von jetzt an ganz artig und folgsam zu sein, denn der Nikolaus sollte wieder einen Baum bringen, der vom Fußboden bis zur Decke ging!
Am Abend im Bettchen brauchte ich lange, um einzuschlafen, denn einerseits war es ein erlebnisreicher Tag, andererseits war da die berechtigte Sorge, ob uns der Nikolaus einen Baum bringen würde, und wie groß der sei. Rückblickend möchte ich sagen, mein „Lieblingshindernis“ in der Meditation „Unruhe und Besorgtheit“ kündigte sich schon an.
Am nächsten Morgen war alle Unruhe, wie weggeblasen, ich rannte wieder zu meinen Hausschuhen und siehe da, ein kleiner Schokoladennikolaus steckte darin, das war ja deutlich mehr als gestern! „Hurra“, rief ich meiner Mutter zu und präsentierte stolz meine Beute.
„Und, Horst, hast du schon mal geschaut, ob das Adventsengelchen wieder da war?“ Ich suchte den Flur ab – nichts. Vielleicht war ich doch nicht brav genug gewesen? Betrübt schaute ich drein. „Warst du eigentlich schon im Wohnzimmer, Horst?“ Natürlich rannte ich schnell dorthin, schaute auf die Wände, auf den Tisch – nichts. Ich wollte schon traurig wieder weggehen, da sah ich es auf dem Fernseher! Ein kleiner hölzerner Zwerg, der einen Schlitten zog und auf dem Schlitten eine kleine, dünne Kerze, das Ganze wieder auf einem Tannenzweig! Es konnte keinen Zweifel mehr geben: es weihnachtete sehr!
Der
einzige Wermutstropfen an diesem Vormittag war die Tatsache, dass
noch immer kein Weihnachtsbaum gebracht worden war – und das wo es
nicht einmal mehr vier Wochen bis Weihnachten waren! An diesem Tag
wurde allerdings etwas anderes gebracht, allerdings nicht von den
Weihnachtsengeln, sondern von Mutter. Sie war zu den „Marktweibern“
gegangen, einem Bauernstand ungefähr 200 m von unserem Haus
entfernt, wo Bauersfrauen aus dem nahen Kahlgrund verschiedene
Produkte anboten.
Mutter brachte von dort einen Adventskranz mit. Dieser bestand aus Tannenzweigen die im Kreis geflochten waren – und aus sonst nichts. Das eben wäre unsere Adventsarbeit für heute, Samstag vor dem ersten Advent, erklärte Mutter. Sie ging in den Keller und holte den Karton mit der Aufschrift „Adventssachen“, da war alles drin, was wir brauchten. Natürlich braucht man für den Adventskranz vier Kerzen – rote natürlich. Und damit die hielten, brauchte es vier Kerzenhalter, die bestanden aus der Fassung für die Kerzen und unten einem langen Nagel daran. Kerzenwachs wurde in die Halter getropft, die Kerzen darein gestellt und diese dann auf dem Kranz befestigt. Jetzt kamen noch allerlei Verzierungen dazu, Schleifchen, kleine künstliche Fliegenpilze und ähnliches. Dann kam der Adventkranz-Ständer, der als roten Holz war, unten eine Stabilisierungsscheibe hatte, auf dem ein langer roter Stab nach oben ging, der am oberen Ende eine Kugel hatte, die kreuzförmig eingeschnitten war. Nun wurde mit vier roten Bändern, die von goldenen Fäden durchzogen waren, der Kranz an dem Ständer befestigt, eine diffizile Arbeit, an der ich mich nur mit Hilferufen wie: „Pass auf, Mama!“ und „Oh, nein, nicht schon wieder!“ beteiligen konnte. Zu guter Letzt war aber der Adventskranz gelungen, wie jedes Jahr, und konnte auf dem Wohnzimmerschränkchen seinen Platz finden.
Unser Wohnzimmer war sehr klein, etwa 10 qm, auf der linken Seite war eine Schiebetür, die zum „Herrenzimmer“ ging, ein Raum der nur zu besonderen Gelegenheiten benutzt wurde, zu Feiern etwa – und natürlich für Weihnachten. Noch aber war die Schiebetür verschlossen. Neben der Schiebetür auf der Fensterseite stand der Fernseher, eines dieser ersten Geräte, ein Standfernseher. Vor den Fenster stand der Sessel meines Vaters, neben ihm an der rechten Wand kam zunächst der Radioschrank mit dem Radio, dann die Couch, danach kam ein Eckschrank und dann, neben der Tür mein Spielzeug-Schrank. In der Mitte des Zimmers stand ein ganz kleiner viereckiger Sofatisch, Kantenlänge etwa 60 cm, darunter eine Ablage – logischerweise in gleicher Größe. In diesem Zimmer wurde das Abendessen eingenommen, denn es war das „beheizte“ Zimmer. Da wir zu viert waren, mein blinder Vater, meine Mutter, die liebe Großmutter und ich, war auf dem Tisch nicht wirklich allzu viel Platz, notfalls wurden eben auch Dinge auf der Ablage unter dem Tisch abgestellt; man war damals auch mit dem Raumangebot längst nicht so verwöhnt wie heute, und das obwohl wir zur gehobenen Mittelschicht zählten.
Der nächste Tag war der 1. Adventssonntag und ich begann natürlich den Tag wie immer in der Weihnachtszeit: zuerst zu meinen Hausschuhen. Welche Überraschung! Ein Adventskalender! Ein Adventskalender war damals etwa im DIN-A-4-Format, hinter jedem Türchen war ein farbiges Bild: ein Ball, eine Puppe oder etwas Ähnliches. Was sie damals kosteten, weiß ich natürlich nicht, denn die brachte ja der Nikolaus oder die Adventsengelchen. Aber in den 60er Jahren, als ich welche für meine Schwester kaufte, kosteten sie 60 Pfg., das weiß ich noch. Natürlich durfte noch kein Fensterchen aufgemacht werden, der 1. Dezember war ja erst tags darauf. Aber es war klar: Weihnachten rückte immer näher – allerdings hatte der Nikolaus wieder keinen Weihnachtsbaum gebracht, Mist.
Diesen Tag verbrachte ich damit, meinen Wunschzettel zu malen. Ich überlegte, was ich mir alles wünschen sollte und malte es auf. Ich glaube allerdings heute nicht mehr, dass darauf viel zu erkennen war, aber meine Mutter nahm sich das Blatt vor und ich erzählte ihr, was da alles drauf war, es waren natürlich alle die Spielsachen, die ich bei anderen Kindern oder in den Schaufenster gesehen hatte.
Gegen 17 h war es dunkel, wir schlossen die Läden und der Adventskranz wurde auf den Tisch gestellt. Meine Mutter holte das 14 kg schwere Tonbandgerät und die Spule mit den Weihnachtsliedern. Plötzlich hörte man ein Glöckchen klingeln. „Horst, schau doch mal nach, da hat irgend etwas vor der Tür geklingelt.“ Ich ging hin und entdeckte das, was ich entdecken sollte: „Mama, Mama, ein Adventsteller mit ganz vielen Sachen!“ Tatsächlich stand dort ein Adventsteller mit Plätzchen (Genau die, die wir für die Advents-Englein gebacken hatten!), mit Lebkuchen, mit Nüssen, zwei Äpfeln und zwei Orangen. Alles wurde ins keine Wohnzimmer getragen, es passte kaum noch neben den Adventskranz.
Dann durfte sich jeder ein erstes Plätzchen nehmen, anschließend wurden Weihnachtslieder gesungen. Da wir alle ziemlich unmusikalisch waren (und die Großmutter und ich schrecklich unmusikalisch), war die Sache mit dem Tonband nötig. Das Band spielte die Lieder und wir sangen kräftig mit. Meine liebe Großmutter so falsch, dass meine Mutter abwechselnd den Kopf schüttelte oder an die Decke schaute. Ich fand, die liebe Großmutter sang schön – schön laut jedenfalls.
In dieser Art vergingen die Tage bis zum ersten Höhepunkt der Adventszeit, dem Nikolaustag. Das war ein ganz wichtiger Tag, denn an diesem Tag kam der heilige Mann persönlich. Man musste allerdings immer ziemlich lange warten, bis er erschien. Die Zeit wurde zum Glück dadurch erträglicher, dass es Lebkuchen, Plätzchen und Nüsse gab. Und wenn mir die Zeit doch zu lang wurde, setzte ich mich beim Papa auf den Schoß und ließ mir ein Märchen erzählen.
Natürlich hatte ich ein kleines Weihnachtsgedicht auswendig gelernt, ein Vierzeiler, denn der Nikolaus, das weiß man ja, will immer ein Gedicht vorgetragen haben, sonst lässt er seinen Sack zu, und man kann sogar ein paar mit der Rute übergezogen bekommen. Und dann muss man noch über die Rute springen, um so unter Beweis zu stellen, dass man artig genug war.
Ich hatte meinen Papa gefragt, was denn sei, wenn man es nicht schafft über die Rute zu springen. Mein Vater machte ein ernstes Gesicht, winkte mich nah an sich heran, hielt die Hand vor den Mund und flüsterte mir ins Ohr: „Wenn man nicht drüber springen kann, Horst, dann bleibt man daran hängen.“ Ich machte erschrocken große Augen und stellte mir vor, wie ich an der Rute kleben bleibe, die Nikolaus sie über die Schulter wirft und mich dann irgendwo hin mitnimmt, wo ganz bestimmt alle bösen kleinen Jungen hinkommen. Niemand hatte mir so etwas je erzählt, aber allein schon die ernste Aussage meines Vaters: „Wenn man nicht drüber springen kann, Horst, dann bleibt man daran hängen“, hatte bei mir diese Ängste ausgelöst.
Doch da - plötzlichen ein großes Stampfen im Hausflur – das Warten hatte sich gelohnt! Der Nikolaus war da! Meine Mutter öffnete ihm die Tür: „Komm rein Nikolaus.“ Da war er. Der Nikolaus war ziemlich groß, was vielleicht auch daher kam, dass er die hohe Bischofsmütze trug. In seiner Hand hatte er den mächtigen Bischofsstab, unter dem Arm ein dickes Buch und auf dem Rücken einen Sack. In seinem Gürtel steckte die Rute.
„Du bist doch der Horst“, sagte er und berührte mich leicht mit der Rute. „Ja, schon...“ - „So, so, Hors,t und warst du auch immer artig?“ - „Naja, Nikolaus, also meist schon, aber manchmal habe ich auch nicht gleich gehört, wenn mich die Mama gerufen hat. Aber eigentlich fast immer war ich ganz lieb.“
„Na, dann werde ich mal schauen, was mir die Englein berichtet haben“, sagte der heilige Mann mit bedeutungsschwerer Miene. Er schlug sein Buch auf „Harald, Helga, Helmut, Hiltrud, Horst – da haben wir ihn ja.“ Und dann las der Nikolaus alle meine guten Taten, aber auch einige kleine Missetaten vor. „Na, so richtig Schlimmes ist nicht dabei, aber so ein paar Sachen, die müssen schon noch besser werden bis nächstes Jahr.“ „Ja. Nikolaus, ich verspreche es.“ „Dann sag mal dein Gedicht auf.“ Ich tat es, Mama musste mir nur einmal ein ganz kleines bisschen helfen.
„Dann wollen wir doch mal sehen, ob du über die Rute springen kannst!“ Es gelang, vermutlich weil der Nikolaus die Rute, während ich sprang, bis auf den Boden absenkte.
„Dann wollen wir doch mal sehen, was ich für euch habe.“ Meine Mutter bekam eine Tüte Erdnüsse, die liebe Großmutter einen Beutel Mandarinen. „Und das ist für dich, Heinz“, sagte der Nikolaus und reichte meinem Vater, der es natürlich nicht sehen konnte, einen Packen Anmachholz. Mein Vater griff zu, tastete und sagte: „Aber Nikolaus, das ist ein Packen Anmachholz, was soll ich denn damit?“ - „Darauf kannst du herumkauen, Heinz, damit du nicht immer die Streichhölzer anknabbern musst, wenn du dir eine Zigarre angezündet hast!“ Mein Vater lachte laut auf. Auf diese Art hatte meine Mutter, die natürlich die Berichte für den Nikolaus geschrieben hatte, ihm zu verstehen gegeben, dass er nicht auf den Streichhölzern herumkauen soll.
Und dann – endlich – griff der Nikolaus erneut immer wieder in die Tüte und holte Sachen für mich heraus. Ich war überglücklich. Der Nikolaus aber ging aus dem Haus, stieg in seinen Käfer und fuhr fort.
In dieser Weise durchlebte ich alljährlich die Adventszeit, in der kein Tag verging, an dem es nicht die Botschaft gab: es weihnachtet sehr. Aber ganz ernst mit Weihnachten wurde es am 21. Dezember. Ich kam ins kleine Wohnzimmer und da war sie: die Weihnachtsabsperrung!
Es gab da diese Schiebetür zwischen dem Esszimmer und dem gewöhnlich abgesperrten „Herrenzimmer“. Diese Schiebetür war gewöhnlich geschlossen, zwei große, verschiebbare Türen mit einem nicht wirklich durchsichtigen Glaseinsatz, ähnlich wie bei Badezimmertüren. Dadurch konnte man zwar nicht viel sehen, aber durch den Schlitz zwischen den beiden Schiebetürflügel hätte man ohne weiteres durchgucken können. Nicht aber jetzt: Ein großes weißes Tuch, auf der andern Seite, im Herrenzimmer, befestigt, verdeckte die Scheiben und auch den Schlitz dazwischen. Und es war klar: das Christkind, begleitet von den Advents-Englein, die durch das Fenster hereinflogen, bereitete alles weihnachtlich vor. Manchmal hörte man sogar ein Glöckchen klingeln! Es war ja sooooo spannend!!!
Am 22. Dezember war dann der Weihnachtsbaum, der zuvor im Garten stand, plötzlich verschwunden! Entsetzt berichtete ich das meiner Mutter, die mich aber tröstete: der stünde jetzt im Weihnachtszimmer, wie das Herrenzimmer von jetzt bis zum Dreikönigstag hieß. Mutter wusste, dass der Baum jetzt dort war, denn sie war die einzige, die ins Weihnachtszimmer durfte, um den Englein bei der Vorbereitung zu helfen.
Und dann kam der längste Tag des Jahres, der Heilige Abend. Ich war immer ganz aufgeregt. Was würde mir das Christkind wohl bringen? Und: wie sollte man wohl die Zeit bis zum Abend herum bringen? Mutter schlug vor, ich sollte doch die Lego holen, die ich letztes Jahr zu Weihnachten bekommen hatte, und ihr daraus ein schönes Haus bauen.
Ja, es gab damals schon Lego, allerdings nur in sehr rudimentärer Form. Es gab Steine mit 1, 2, 4, 6, 8 und 20 Knöpfen und eine Basisplatte. Ach ja, es gab auch vier verschiedene Fenster, sonst nichts. Und die Steine hielten noch lange nicht so gut wie heute, wenn man sie aufeinander setzte, denn sie waren innen ganz hohl, hatten also dort noch nicht die Innereien, die heute für stabilen Halt sorgten. Also baute ich meiner Mutter ein solches Haus.
„Da kann es aber herein regnen“, sagte sie, „das hat ja kein Dach.“ - „Aber mehr Steine habe ich nicht, damit kann ich kein Dach bauen.“ - „Na, dann nimm doch die Platte, die du unten hast und mach daraus ein Haus mit Flachdach, einen Bungalow.“ - „Aber, Mama, das geht doch nicht, dann halten die Steine unten doch nicht?“ Mutter schaute mich einen Moment an, dann fragte sie: „Hast du dran gedacht, dir vom Christkind eine zweite Legoplatte zu wünschen, als du deinen Wunschzettel gemalt hast?“ Ich wurde bleich. „Mama, das habe ich vergessen.“ Mutter hatte eine neue Idee: dann hole doch den Trix-Metallbaukasten und baue damit etwas. Jetzt wurde mir ganz übel. Ich wollte doch unbedingt noch Eckträger, wie sie in dem Beipackzettel abgebildet waren, die fehlte mir auch noch für das, was ich bauen wollte – und auch die hatte ich auf meinem Wunschzettel vergessen. Mist! Missmutig saß ich in der Ecke.
„Mama hast du Zeit mit mir zu spielen?“ - „Aber Horst, du siehst doch, dass ich mit der Oma das Weihnachtsessen für morgen vorbereiten muss, die Gans nehmen wir doch gerade aus, dann muss sie angesengt werden, damit die Federkiele, die noch feststecken, abbrennen. Aber du kannst doch mal das Struwwelpeter-Buch holen und mir vorlesen.“ Das war in der Tat eine gute Idee. Ich konnte natürlich noch nicht lesen, aber wenn ich die Bilder sah, fielen mir die Texte, die ich oft genug vorgelesen bekommen hatte, wieder ein.
Zum Mittagessen gab es – wie an Heiligabend bei uns üblich, nur eine Suppe. Da nachher bei der Weihnachtsfeier genug Plätzchen,Lebkuchen, Nüsse, Schokolade und Früchte gegessen wurden, wäre ein anderes Essen unsinnig gewesen, daher gab es Gänseklein-Suppe, eine Suppe mit dem kleingeschnittenen Herzen, dem ebenso zugeschnittenen Magen und der „Gorschel“, dem Hals der Gans, das waren die Halswirbel und die daran befestigten Halsmuskeln. Außerdem war etwas Suppengrün und ein paar dünne Nudelchen in der Suppe.
Während Mutter und Großmutter die „Küche fertigmachten“, also abspülten und aufräumten, durfte ich fernsehen: „Wir warten aufs Christkind“ gab es von 14 bis 16 Uhr, darin traten alle die Figuren aus der Kinderstunde der ARD auf, also z. B. Teddy Teddybär und die Mumins aus der Augsburger Puppenkiste. Gegen 15 Uhr kam auch Vater nach Hause, der an Heiligabend, so wie auch an den Samstagen, nur halbtags arbeiten musste, es gab ja jetzt die 44-Stunden-Woche.
Und bald darauf wurden die Rollläden geschlossen. Es war draußen zwar noch nicht dunkel, aber so konnte man Abend simulieren und die von mir sehnlichst erwartete Weihnachtsfeier konnte beginnen. Alle vier Adventskerzen brannten, dazu noch mehrere andere in Kerzenständern auf dem Fernseher, auf dem Schränkchen, auf dem Radioapparat. Die „bunten Teller“ standen bereit mit Plätzchen, Lebkuchen, einem Lebkuchen-Hexenhaus, Äpfeln, Apfelsinen, Feigen, Nüssen und Schokolade-Nikoläusen – es war der schönste Tag des Jahres.
Im Weihnachtszimmer waren noch die Adventsenglein und bereiteten alles vor, und wir sangen für sie Weihnachtslieder – begleitet von dem Weihnachtstonband auf dem schweren „Reporter-Tonbandgerät“, das mein Vater sonst benutzte, wenn er juristische Schriftsätze zu diktieren hatte. Als das Lied „Heute Kinder wird’s was geben“ erklang ging Mutter über den Flur ins Weihnachtszimmer, um den Englein bei den letzten Vorbereitungen zu helfen. Das weiße Tuch verschwand. Plötzlich wurde der Weihnachtsbaum entzündet, wie man durch die Milchglasscheiben sehen konnte. Wir hatten damals schon elektrische Christbaum-Beleuchtung, was sonst nicht üblich war, aber meine Mutter meinte, das sei bei einem kleinen Kind und einem blinden Mann absolut angebracht.
„Mach´s gut Christkind! Ja, bis zum nächsten Jahr!“ hörte ich meine Mutter sagen, anschließend schloss sie das Fenster des Weihnachtszimmers, wo sich das Christkind mit dem Klingeln eines Glöckchens verabschiedete. Der erste Flügel der Schiebetür wurde geöffnet – und dort stand er, der Weihnachtsbaum „bis an die Decke“, die Wunderkerzen versprühten Funken, die Kugeln ließen diese widerspiegeln, ebenso das Lametta, die vielen kleinen Dinge die daran hingen, winzige Trompeten, Kugeln mit schneebedeckten Landschaften und Schlitten fahrenden Kindern, ganz oben die Christbaumspitze mit sechs silbernen Glöckchen und unter dem Weihnachtsbaum die Krippe mit allem was dazu gehörte, mit dem Jesuskind, Maria und Joseph, Ochs und Esel, am Rande die heiligen drei Könige und oben auf dem Stall der Komet.
Als das Lied verklungen war, durfte ich das Weihnachtszimmer betreten. Ich fühlte an den Geschenken, diejenigen, die sich nach Stoff anfühlten, legte ich zur Seite, griff nach einem festen Päckchen und öffnete es: ein Bilderbuch „Vogelhochzeit im Märchenwald“, dann das nächste Päckchen, es enthielt Lego! Und zwar nicht nur die fehlende zweite Bodenplatte, sondern einen kompletten zweiten Kasten. Und auch ein weiteres Geschenk enthielt die Erweiterungsversion des „Trix-Metallbaukastens“, sogar mit den Eckträgern! Das Christkind wusste viel besser Bescheid, was ich mir wünschte, als ich selbst!
Und dann war da noch ein ganz komisches Päckchen. Ich öffnete es: Miniaturversionen von Dinge, die ich aus dem Haushalt kannte: Persil-Waschpulver, IMI-Scheuerpulver, Sanella-Margarine, Lauterbacher Strolch-Camambert, Erdal-Schuhcreme usw. „Was soll denn das. Wozu soll denn das gut sein?“ wandte ich mich an meine Mutter. „Sieht aus wie für einen Spielzeug-Kaufladen. Aber du hast ja gar keinen Kaufladen! Vielleicht bekommt deine Cousine Helga ja einen Kaufladen, dann kannst du mit ihr zusammen spielen.“ Jetzt erinnerte ich mich: genau ich hatte einen Spielzeug-Kaufladen im Schaufenster gesehen, hatte darüber mit Helga gesprochen und wir wollten uns beide einen wünschen, und ich hatte den auch auf meinen Wunschzettel gemalt!
„Naja,“ sagte meine Mutter, „sicher hat die Helga den Kaufladen und du dieses Sachen, damit sie dich mitspielen lässt. Du hast ja so viele andere Sachen bekommen, da konnte ja nicht auch noch ein Kaufladen dazu kommen.“ Das klang logisch, aber es stimmte mich nicht wirklich froh.
Inzwischen machte auch die liebe Großmutter ihr Weihnachtsgeschenk auf, eine Strickjacke und nun sollte Papa seine Geschenke öffnen, zuerst das kleine, es enthielt eine Packung Sumatra-Zigarren, dann das große. „Du, Ruth“, wandte er sich an Mutter, „ich glaube, das ist gar nicht für mich, da ist ein Zettel dran.“ Mutter sah nach: tatsächlich, das war... und sie nahm das große Betttuch von dem Gegenstand, der dort auf dem Esszimmertisch stand. Ein riesig großer Kaufladen, viel größer und schöner als der im Schaufenster.
Ich war überglücklich. Und meine Mutter war froh: es war ihr wieder gelungen, das Weihnachtsfest, das große Mysterium in wunderschöner Weise für den kleinen Horst zu arrangieren.
Danke Mutter!