Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 14.02.20

Szene 103 – Die Operation - 1959

Im Jahr zuvor war mein Vater an Krebs gestorben. Die Krankheit hatte überall im Körper Metastasen gebildet, der Auslöser aber war vermutlich Kehlkopfkrebs infolge des Zigarrenrauchens. Das, was allerdings sichtbar war, waren Hautkrebsgeschwüre. Nun im Frühjahr 1959 badete mich meine Muter, wie das freitags immer der Fall war. Sie nahm entsetzt Veränderungen an der Haut auf meinem Rücken fest und in ihr schrillten die Alarmglocken: „Soll mir jetzt nach meinem Ehemann Heinz auch noch der kleine Horst genommen werden?“

Selbstverständlich suchte sie unmittelbar darauf einen Dermatologen auf, der nur bestätigen konnte, dass dort in der Tat irgendwelche Geschwüre waren, die operativ entfernt werden mussten. Also wurde umgehend ein Termin in der Uniklinik in Frankfurt ausgemacht.

Ich wurde dort eingeliefert, in die Kinderklinik. Es war ein langer Gang mit vielen Einzelzimmern, die obere Hälfte der Wände war aus Glas, sodass die Schwestern immer sehen konnten wenn ein Kind aus dem Bett aufstand, also zum Beispiel, wenn sich das Mädchen nebenan auf ihr Bett stellte, um einen Blick auf mich zu erhaschen. Oder umgekehrt. Ich muss allerdings sagen, dass mir die Micky-Maus-Heftchen, die mir meine Mutter brachte, viel interessanter erschienen. Ich hatte an einem Tag gleich drei davon bekommen!

Am folgenden Tag wurde ich in ein anderes Gebäude gebracht; hier wurde ich den Studenten in einem Hörsaal vorgestellt. Der Professor erzählte irgendwelches unverständliches Zeug und einige Studierende durften mich dann begucken und meine Geschwüre anfassen, anschließend ging es in den Operationssaal.

Man sagte mir ich bekäme jetzt eine Spritze, dann würde ich einschlafen und hinterher, wenn ich wieder aufwachte, sei alles erledigt. Es war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich etwas einfach glaubte, nur weil es ein Arzt sagte.

Ich bekam also die Spritze, der Arzt und eine Frau, vielleicht eine Assitenzärztin oder eine Schwester, den Unterschied kannte ich damals noch nicht, sowie drei Studenten und eine Studentin waren anwesend.Dann kam der Chirurg mit einem Skalpell. Ich sagte: „Ich schlafe aber noch gar nicht.“

„Das macht nichts, du bist schon betäubt und wirst nichts spüren.“ Dann musste ich mich auf den Bauch legen und die Frau wischte mit einem feuchten Tuch über die Geschwüre an meinem Rücken. „Ich kann aber noch spüren, was sie da machen“, sagte ich. Die Studenten sahen den Chirurgen, der der Professor aus dem Hörsaal war, fragend an. „Das bildet der sich nur ein, das kommt bei Kindern öfter vor“, beschwichtigte er seine Studenten.

Dann nahm er das Skalpell und stach neben einem Geschwür in die Haut: „Hilfe, nein, ich kann alles spüren!“ schrie ich. Unsinn sagte der Arzt. Sowie ich er mich wieder mit dem Skalpell stach, schrie ich erneut auf: „Hilfe! Hilfe!!! Ich spüre doch alles!“ Das Skalpell – bzw. der es führende Arzt zuckte zurück. Jetzt schauten die Studenten doch ziemlich erschrocken. Der Arzt sah sich um: „Dann machen wir es eben anders.“

Er ging weg und holte ein elektrisches Gerät. Es bekam Strom von einer Steckdose, vorne waren zwei Matallbolzen wie bei einer Zange, die etwa 6 cm auseinander standen, dazwischen war ein verbogener Draht, das Ganze sah ähnlich aus wie eine Steinschleuder nur viel feiner, viel filigraner; der Draht erinnerte an den Glühdraht einer Glühbirne. Prüfend schaltete der Arzt das Gerät vor unseren Augen kurz ein, der Draht vibrierte und das Gerät gab ein Summen von sich.

„So das nehmen wir jetzt, da kannst du absolut nichts spüren!“ sagte der Arzt zu mir und wandte sich dann an die Studenten: „Konnte er zwar vorher auch nicht, aber das Skalpell muss ihn wohl erschreckt haben.“

Ich wurde wieder auf den Bauch gedreht. Ich konnte das Summen hören und kurz darauf spürte ich den Schmerz. Ich schrie auf und wand mich, wollte nur noch weg. Der Arzt zuckte zurück. „Das ist Unsinn, der kann absolut nichts spüren. Ich brauche zwei Leute um den widerspenstigen Kerl festzuhalten.“ Die Frau und einer der Studenten hielten jeweils einen Arm von mir, um mich auf dem Operationstisch zu fixieren, dann wieder ein kleiner Schnitt, mein Aufschrei, mein Aufbäumen. „Nein, nicht doch, ich bin nicht betäubt, ich kann doch alles spüren!“

„Das kann nicht sein! Der spürt nichts! Sicher erschrickt er sich nur, wenn er das Summen des Gerätes hört!“

„Aber“, meldete einer der Studenten seine Bedenken an, „er hat nicht beim Summen aufgeschrien, sondern erst in dem Moment, als Sie die Wunde berührt haben, Herr Professor.“ - Dieser schaute den Studenten wütend an, seine Augen verengten sich, dann fauchte er: „Das kann nicht sein.“ Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, griff er zur ultima ratio: alle Anwesenden, die Frau, die Studentin und die drei Studenten mussten mich festhalten, zwei Leute an den Armen, eine Person an den Beinen, einer drückte mein Gesäß heruter und einer die Schultern. Dann wurde die Vivisektion fortgesetzt.

Bei jederm Schnittansatz schrie ich auf, bäumte mich auf, jammerte, brüllte, wollte fliehen – und jedes Mal zuckte der Arzt zurück und machte dann einen weiteren Versuch. Zwischendurch wurde noch zweimal der Aufsatz auf dem Schneidegerät ausgetauscht.

Vermutlich hätte ich keine Chance gehabt zu berichten, wie lang diese Tortur dauerte, wenn nicht direkt vor mir, über der Tür des OPs eine Uhr gehangen hätte. Die Betäubungsspritze hatte ich kurz nach 11 h bekommen, die Operation begann um 11.15 h und sie dauerte bis genau 12.00 h. Ich wurde sage und schreibe eine dreiviertel Stunde bei vollem Bewusstsein operiert.

Hinterher saß ich erschöpft und weinend auf dem Operationstisch. Die Schwester kam mt Nadel und Faden, um die Wunden zuzunähen: „Ich muss dir die frischen Wunden jetzt zunähen. Das kann noch ein bischen Stechen, tut aber nicht sehr weh.“ Ich sah sie mit sehr gemischten Gefühlen an. Sie ging hinter mich. Ich sagte: „Fangen Sie schon an!“ Sie daraufhin: „Ich habe schon angefangen zu nähen.“ Ich wunderte mich: „Komisch, ich spüre doch gar nichts“ Und nach einer Pause: „Sicher fängt die Spritze jetzt an zu wirken.“

Kurz darauf war sie fertig. Ich durfte aufstehen. Auf dem weg zur OP-Tür brach ich zusammen. Hörte noch die Schwester rufen: „Schnell, einen Krankenwagen.“ Dann war ich weg. Als ich wieder aufwachte lag ich in meinem Bett in der Kinderabteilung, meine Mutter stand vor mir. „Mama, wie spät ist es?“ - „Kurz vor halb zwei, mein Spätzchen, du hast tief geschlafen.“

***

Soweit die Geschehnisse damals. Eine Woche später war ich bei meinem Onkel Albert in Rasdorf (Rhön), der Landarzt war, meine Wunden mussten versorgt werden. „Ja, was ist denn das? Was hat denn der da gemacht? Lauter winzig kleine Schnittchen, immer nur einen Millimeter.“ „Ja“, klärte ich Onkel Albert auf, „weil es so weh tat, habe ich mich immer vor Schmerzen gewunden, und dann hat er immer neu angesetzt, eine dreiviertel Stunde lang.“ Der Onkel schüttelte den Kopf.

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Noch eine Anmerkung: Wenn ich heute eine Zahnbehandlung habe und eine Spritze bekomme, dauert es immer zwischen 20 Minuten und einer Stunde, bis die Betäubung wirkt.


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