Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 30.1.2020


Szene 093 – Die Wiederentdeckung von Maria Alm



1966 war ich erstmals mit meiner Mutter, der lieben Großmutter und meiner Schwester in Maria Alm. Wir waren seit 1960 jedes Jahr zweimal in den Alpen, meist in Österreich, jeweils in der Oster- und den Herbstferien, denn in der Nebensaison war es billiger. Unser Nachbar, Herr Penderok, ein pensionierter Eisenbahner, hatte die Zeitschrift der Bahn, und in dieser annocierten Vermieter aus dem Alpenraum. Man schrieb diese dann mit einer „Postkarte mit Rückantwortkarte“ an und fragte, ob man im erwünschten Zeitraum ein Zimmer mieten konnte. Zuvor musste ich alle Annoncen durchschauen und alles, was unter einer gewissen Preisgrenze lag, anstreichen. Ich glaube diese Grenze lag damals bei 3,50 DM (resp. 24 öS) pro Übernachtung mit Frühstück. Dann sah meine Mutter das von mir Angestrichene durch und entschied, wo angefragt wurde.

Manchmal fuhren wir jedoch auch „aufs Gratewohl“ los, dann ging es morgens spätestens um 6 h los, weil wir ja noch rechtzeitig ankommen wollten, so gegen 16 h, um dann Vermieter abzuklappern. Einmal waren wir auf diese Art in St. Georgen in einem Wirtshaus untergekommen. Als man dort pro Nacht 6,50 DM verlangte, war meine Mutter ganz schön erschrocken, zumal man ihr sagte „der Kaffee ist nicht dabei“, was meine Mutter für „ohne Frühstück“ hielt. Sie wollte am nächsten Tag auch gleich weiter. Dann jedoch stellte sich heraus, dass nicht das Frühstück gemeint war, sondern der Nachmittagskaffee: wir hatten tatsächlich für 6,50 DM die Vollpension im Gasthof gebucht. Es war das einzige Mal, dass wir Vollpension hatten. Dieser Urlaub war für mich außerdem denkwürdig, weil in diesem Gasthof auch ein Theatersaal war. Einmal wurde hier ein Bauernschwank aufgeführt und ich durfte den Soufleur machen, der in einem Soufleurkasten hinter einer muschelförmigen Verkleidung unterhalb der Bühne saß.

Ein anderes Mal wurde hier eine Hochzeit gefeiert – und das ganze Dorf kam, wir waren auch eingeladen! Und dann gab es im Hause noch eine Tanzlehrerin, die mir einen privaten Tanzkurs im Theatersaal gab. Es war wohl das letzte Mal, dass ich in diesem Leben freiwillig getanzt habe.

Doch in diesen Herbstferien des Jahres 1966 waren wir nicht in St. Georgen, sondern in Alm (heute heißt es: Maria Alm), das liegt südlich von Berchtesgaden, bei Saalfeld. Dieser spezielle Urlaub war vor allem dadurch besonders, dass wir während des schönsten Altweibersommers hinkamen und das gute Wetter genossen. Dann eines Abends spielten wir Karten in Gastsaal des Wirtshauses, in dem wir wohnten, als jemand behauptete, es würde schneien. Wir hielten dies zunächst für einen Scherz. Wenig später kam jedoch ein Mann mit Flocken auf den Schultern herein. Wir gingen zur Tür: tatsächlich, alles war weiß. In dieser Nacht fielen 30 cm Schnee, und wir fanden uns plötzlich im Winterurlaub wieder. Meine Schwester und ich genossen es und bauten auf dem Dorfplatz einen Schneemann, meine Mutter war weniger erfreut, denn unser VW-Käfer hatte nur Sommerreifen. Allerdings war das nicht das einzige Problem, denn in der Nacht gingen von unserem Gasthof Dachlawinen ab und begruben das Auto unter sich. Am nächsten Tag waren die Kühlerhaube und das Autodach eingedrückt. Damals war das aber noch kein Fall für die Versicherung, vielmehr kam der Sohn des Wirtes und schlug von innen mit der Faust solange dagegen, bis das Blech wieder eine ähnliche Form hatte wie ehedem.

Mir allerdings ist dieser Urlaub noch aus einem anderen Grund in Erinnerung. Bis dahin war ich immer mit den anderer spazieren gegangen, was nicht allzu ambitioniert war. Man nannte es zwar „Wandern“ aber die liebe Großmutter war schon so etwas wie der limitationale Faktor. Die Frau war in diesem Urlaub 82 Jahre alt geworden und trug immer Schuhe mit (mäßig) hohen Absätzen. Natürlich waren die „Wanderungen“ nie weiter als vielleicht sechs, sieben Kilometer. Diesmal aber ging ich allein weiter! Ich war jetzt alt genug, dass man annahm, ich würde den Weg zurück finden. Und so machte ich am letzten Spätsommertag (vor dem Wintereinbruch) eine längere Wanderung. Zurück gekehrt fiel mir auf, dass ich irgendwo meinen Wanderstock verloren hatte, den ich selbst geschnitzt mit allerlei geometrischen Mustern verziert hatte. Ich ging noch einmal zurück und überlegte, wie man denn beim Wandern seinen Stock verlieren kann. Mir erschien die einzig logische Erklärung zu sein, dass das auf der Wiese gewesen sein muss, wo ich ausgerutscht und hingefallen war. Ich fand die Stelle, jedoch nicht meinen Stock. Ich schaute mir den Platz genau an und entdeckte eine schmale Spur niedergedrückten Grases, kaum mehr als 1 cm breit – hier musste mein Stock geflohen sein! Ich verfolgte die Spur über die Alm und fand tatsächlich 100 m weiter das vermisste Utensil.

Und alle diese Ereignisse lagen jetzt, im Winter 2002/2003, schon mehr als 35 Jahre zurück. Und doch erinnerte ich mich eines Tages daran. Ich kam von der Volkshochschule in Hanau, wo ich einen buddhistischen Kurs gab, und fuhr mit dem Bus nach Hause. Ich lebte damals allein in meiner kleinen Stube in der Mansarde des Hauses, das mir früher einmal gehörte (vgl. Szene 066-Hausbesitzer). Im Bus fand ich einen Prospekt von einem Reiseunternehmen: Emmel-Reisen. Ich erinnerte mich: Mitte der 50er Jahre war meine liebe Großmutter, nachdem ihr Ehemann verstorben war, mehrfach mit diesem Busreiseunternehmen unterwegs, damals war sie Anfang 70. Ich war zwar erst Anfang 50, aber ebenso allein wie damals meine liebe Großmutter und hatte auch kein Auto. Vielleicht sollte auch ich mit Emmel-Reisen in den Urlaub fahren? Ich nahm den Prospekt, stieg am Großauheimer Rochusplatz aus und ging „zum Lotz“ ein Gasthaus, das ich in diesem Jahr wiederentdeckt hatte (vgl. Szene 39 – Die Sache mit dem Rumpsteak).

Dort bestellte ich mir ein Glas Rotwein und studierte den Prospekt. Ein Ort fiel mir besonders auf: Maria Alm. Konnte das der Ort Alm sein, in dem ich mehr als ein Drittel Jahrhundert zuvor erstmals allein gewandert war, wo ich meinen geschnitzten Stock verloren und wiedergefunden hatte? Ich sah mir die Bilder an. Tasächlich, da war die große Kirche mit dem markanten grünen Dach. Emmel-Reisen fuhr dort mit einem Reisebus hin. 14 Tage Fahrt und die Übernachtung mit Frühstück waren nicht teurer als normalerweise 14-Tage Übernachtung ohne Fahrt. Toll! Wenn es dort nur halb so schön war wie in meiner Erinnerung, musste das ganz prima sein. Und ich würde nach mehr als 35 Jahren das Wandern wieder entdecken. Eigentlich war Wandern bis dahin nie mein Fall gewesen. Aber ich hatte gerade ein Buch über das Leben des Buddha gelesen, lauter Geschichten aus dem Palikanon, nacherzählt von Saddhaloka, das Buch hieß „Encounters with Enlightenment“- Ich hatte dieses Buch übersetzt und die Geschichten (mit Saddhalokas Erlaubnis) ins Internet gestellt (http://www.gelnhausen-meditation.de/ stories.html). Eine Geschichte beschrieb die Zeit, als der Buddha beschlossen hatte, ein religiöser Sucher zu werden, die Zeit bis zu seiner Erleuchtung. Dieses Kapitel (http://www.gelnhausen-meditation.de/wanderer.html) hieß: „Der Wanderer“. War ich nicht auch ein solcher Sucher, der auf dem Pfad des Buddhas wanderte? Stünde es mir nicht auch an, dort weiter zu machen, wo ich 35 Jahre zuvor aufgehört hatte? Als spirituell aufgeschlossener junger Wanderer? Ich buchte selbstverständlich diese Reise.

Und tatsächlich: es war wunderschön in Maria Alm. Es war gerade so, als hätte mir eine höhere Macht diesen Prospekt zugespielt. Ein unbewusster Wunsch von mir hatte Ratnasambhava, der Buddha mit dem wunscherfüllenden Juwel Cintamani in der Hand, der mir im Jahr zuvor erschienen war (vgl. Szene 056 – Ratnasambhava erscheint) genutzt, um mir meine wichtigste Praxis auf dem Pfad nahe zu bringen, das Wandern! Mein neuer Zugang zur Lehre des Buddha begann 2003 in Maria Alm, meine Lehr- und Wanderjahre! Noch heute ist dies meine bevorzugte Praxis und auch im Monat März 2018 brach ich erneut auf, diesmal von Meditation am Obermarkt, dem Ort, an dem jetzt die Buddhistische Gemeinschaft Gelnhausen sitzt, zum Buddhistischen Tor Berlin.

bIm Vorfeld meiner Reise hatte ich mir die ersten Wanderschuhe meines Lebens gekauft. Meine erste größere Tour ging zum Hundstein, es war herrlich. Ich baute allmählich eine Wanderkondition auf und genoss es, in der Natur zu sein. Es war so unwahrscheinlich schön, dass es mir sehr leid tat, dies mit niemandem anderen teilen zu können. Bei einem Solitary mehrere Monate danach stellte ich mir in der ersten Phase der metta bhavana, der Meditation der liebenden Güte, in der es um die Entfaltung positiver Emotion geht, vor, wie ich wieder auf diesen Bergwanderungen bin, denn dabei stieg in mir äußerst positive Emotion auf. In den weiteren Phasen stellte ich mir andere Personen vor, denen ich diese Schönheit auch zeigen wollte. Meine liebe Großmutter beispielsweise, die zwar nicht auf die Berge wandern konnte, aber ich nahm sie in den Arm und flog mit ihr hoch. Oder die junge Frau, die mir am Tag vor dem Solitary in Guhyaloka erstmals begegnet war (vgl. Szene 071 - Guhyaloka).

Und das Erstaunliche war: tatsächlich, zwei Jahre später (2005) war ich mit eben dieser Frau auch hier in Maria Alm, hingefahren mit Emmel-Reisen, und untergebracht in einem Zimmer der gleichen Pension wie 2003. Ratnasambhava, der Buddha mit dem wunscherfüllenden Juwel Cintamani, hatte mir auch diesen Wunsch, den ich mir niemals eingestanden hätte, erfüllt. (Das Bild zeigt sie dem Wanderweg zwischen dem Baleitenkopf und Rohrmoos nahe Maria Alm.)


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