Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 22.1.2020

Szene 083 – Die Autoknacker von Bulgarien



Auszug aus meinem Pilgertagebuch während meiner Wanderung Richtung Indien, es war der 104. Tag meiner Wanderung, und ich war inzwischen in Bulgarien von der Donau aus übers Balkangebirge in die Ebene von Sofia gelangt.

Der 104. Tag hatte eine kleine Vorgeschichte. Üblicherweise gönne ich mir einmal wöchentlich einen Ruhetag, einen No-Go-Day. Der war zwischen dem 103. und 104. Tag. Grund dafür war einmal, dass ich jetzt neun Tage hintereinander gewandert bin, aber auch, dass ich mich auf die neuen Streckengewohnheiten einstellen will. Von hier an werde ich nämlich für das restliche Bulgarien eine ähnliche Bahnwanderung machen wie letztes Jahr in Kroatien.

Ich werde für einige Tage an einem Standort Quartier nehmen, von dort einen Tagesmarsch weit gehen, dann mit der Bahn zu meinem Quartier zurück fahren und am nächsten Morgen mich wieder dorthin begeben, wo ich die Wanderung tags zuvor abgebrochen hatte. Als erstes Standquartier hatte ich mir Sofia ausgesucht, die bulgarische Stadt mit dem schönen griechischen Namen, der auf Sanskrit prajna heißt und auf Deutsch "Weisheit". Sofia liegt zwar nicht genau auf meiner Strecke, denn Elin Pelin liegt bereits einen Tagesmarsch östlicher, aber in Sofia gibt es zahlreiche Hotels und hier beginnt die Bahn Richtung Plovdiv, also dorthin, wo mich mein Pfad alsbald führen wird. Und da ich letztes Jahr mit der Undurchsichtigkeit des bulgarischen öffentlichen Verkehrs schon meine Erfahrung gemacht hatte, wollte ich mich an diesem Ruhetag darüber informieren. Über die Internetseiten der bulgarischen Bahn und einen Internetdienst für öffentlichen Verkehr in Bulgarien war nämlich nichts Verwertbares herauszufinden. Allerdings konnte ich mir über die Internetseiten der Deutschen Bahn die Zugverbindungen in Bulgarien ausdrucken; fragt sich nur, ob sie stimmen. So habe ich also an dem Ruhetag als erstes versucht, den Hauptbahnhof von Sofia zu finden, was mir schon einmal nicht gelungen ist - weder durch Suche nach Landkarten noch mit dem Navigationssystem des Hinayana. Über die Einzelheiten der dabei entstandenen Problematik möchte ich mich hier gar nicht auslassen. Mein nächster Versuch war dann, die Bahnhöfe von Elin Pelin und dem Ende der nächsten Etappe, Vakarel, mittels des Hinayana zu finden und auf Fahrpläne abzusuchen.

Der Bahnhof von Elin Pelin liegt gar nicht in Elin Pelin, sondern in einem Ort mit dem bezeichnenden Namen Gara Elin Pelin, und ist sechs Kilometer entfernt; laut Karte zwar nur zwei Kilometer, aber da rechnen sie von Ortsschild zu Ortsschild, und diese Schilder stehen weit außerhalb der Ortschaft. Vorsichtshalber wollte ich mir die Strecke zwischen Elin Pelin und Vakarel ansehen, ich hatte da so eine dunkle Ahnung.

Das war auch gut so, denn die Streckenführung ist sehr gut getarnt, sodass ich mich zweimal verfranzt habe, einmal mit einem Umweg von 10 km, ich landete wieder in Gara Elin Pelin. Gut, dass mir das mit dem Hinayana passiert ist und nicht beim Gehen in dem erwarteten Regen.

Beim dritten Versuch habe ich in Lesnovo endlich den richtigen Abzweig gefunden. Normalerweise weist mir ja Google-Maps in der Fußgänger-Funktion breite Asphaltstraßen zu, mitunter auch Quasi-Autobahnen, diesmal war es jedoch anders: erstmals seit über 1000 km schickte es mich auf einen Feldweg, das Hinayana hat ganz schön gegrummelt, mich aber dennoch brav transportiert. Es gab auf etwa sieben Kilometer einen Weg, der nur aus zwei ausgefahrenen Spurrillen bestand und der Grasnarbe dazwischen. Meist jedoch konnte ich die Spurrillen nicht benutzen, denn die schweren Traktoren hatten diese so tief ausgefahren, dass mein Auto aufgesetzt hätte, also benutzte ich als Reifenspur in der Regel den mittleren Grasstreifen mit dem einen Reifen und den Rand neben der Fahrbahn mit dem anderen. Ein paar Male hatte ich dennoch Bedenken, aber der Fahrzeugboden hat zum Glück nicht ein einziges Mal aufgesetzt. Plötzlich war jedoch ein Wassergraben oder ein Bach im Weg. Ob ich dadurch kann? Wie tief ist das wohl? Und ist der Boden vielleicht so schlammig, dass ich stecken bleibe?

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Also ausgestiegen, die Reserve-Wanderstiefel angezogen, die ich immer im Hinayana mitführe, und ausprobiert. Ich ging nicht nur einmal durch, sondern an verschiedenen Stellen, die Spurbreite meines Fahrzeugs berücksichtigend. Es schien zu klappen, es gab eine Passage, die nicht tiefer als 20 cm war, ziemlich weit links, aber nicht ganz links, denn dort ist es so schlammig, dass das Hinayana bestimmt stecken bleiben würde. Ich fuhr ein Stück zurück, um Anlauf zu nehmen, und fuhr im ersten Gang möglichst hochtourig durch. Das Wasser spritzte rechts und links deutlich höher auf, als das Hinayana ist, und ich fühlte mich an Fotos meiner Tochter Kohlrübchen erinnert, wie sie in Afrika mit einem Geländewagen Bäche durchquerte. Es hat aber funktioniert und ich habe mich herzlich bei meinem verdienstvollen kleinen Fahrzeug bedankt.

Der Bahnhof in Vakarel war leicht zu finden, er war genau da, wo die Karte ihn verzeichnete. Es gibt dort sogar einen Aufenthaltsraum, eine Gaststätte und einen (geschlossenen) Fahrkartenschalter. Und - welch Wunder - eine Tafel, die so etwas Ähnliches wie einen Fahrplan darstellte, die Abfahrtzeiten wichen auch nicht mehr als 10 Minuten von dem ab, was die DB-Internetseite angegeben hat. Also das schien zu funktionieren. Vorsichtshalber suchte ich auch noch den Bahnhof von Elin Pelin auf, bei dem die Abfahrtszeiten allerdings weniger korrelierten, aber hier will ich ja auch nur aussteigen.

Mein Hotel in Sofia ist übrigens ganz super eingerichtet, es gibt sogar die Möglichkeit Wäsche wachen zu lassen (sonst habe ich das - vor allem mit den Socken, aber auch mit T-Shirts - immer im Waschbecken erledigt, aber bulgarische Waschbecken haben keinen Abflussstöpsel). Auch gibt es hier ein schönes Frühstück, zwar auch wieder ziemlich fleisch-, wurst- und eierhaltig, aber es gibt auch Honig, Käse und jede Menge Wasser- und Honigmelonenstücke. Heute Mittag habe ich auch das ausgezeichnete Restaurant getestet, zunächst eine leckere kalte Suppe auf Joghurtbasis mit klein gehackten Gurkenstücken, ebensolchen Walnüssen und Knoblauch, das Ganze verziert mit Dill. Hinterher hatte ich etwas, dass (vegetarischer) Sach hieß und auf einer Tonpfanne geröstetes Gemüse ist, dass noch brutzelnd auf den Tisch kommt und ganz lecker schmeckt (4,68 lv), dazu hatte ich als Beilage Kartoffelpüree gewählt (1,35 lv), das alles in einem Nobelrestaurant, in dem gestern Abend noch eine Hochzeit ausgerichtet worden war und das dafür hergerichtet war wie in einem Hollywoodfilm.

(...)

Soweit zur Vorgeschichte, dass dieser Tag eine Nachgeschichte haben würde, und dass die genau dort beginnen würde, wo ich das Hinayana am Morgen gegen 8.30 h parkte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich war vielmehr froh, dass es noch nicht regnete. Immer wenn der Wetterbericht bislang eine Regenwahrscheinlichkeit zwischen 5 und 9 Prozent vorausgesagt hatte, hat es geregnet. Warum sollte es also heute, da die Regenwahrscheinlichkeit mit 83 % angesagt ist, nicht trocken bleiben? Einzig die Tatsache, dass ich meinen Pilgerhut nicht finden konnte, trübte den Morgen, also ging ich mit dem reichlich albern aussehenden chinesischen Papierhut, der nicht wirklich dadurch besser wurde, dass ich ihn einmal in die Waschmaschine steckte, los.

Ich ging also meinen mir von der gestrigen Vorexkursion bereits vertrauten Weg aus Elin Pelin in östliche Richtung nach Lesnovo, wo ich in einer netten, modern eingerichteten Gaststätte am Ortsplatz ein kleines Eis aß und ein Schweppes trank, anschließend ging es den gestern vorerforschten Feldweg entlang.

(…)

Bald nach dem Ort kam ich auf die N 8, die eine große Vergangenheit hat, denn sie war als Verkehrsachse Sofia - Plovdiv einmal Teil des berüchtigten Autoput, der Transitstrecke der türkischen Gastarbeiter in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Ländern auf ihrem jährlichen Treck in die alte Heimat. Aber bereits seit den frühen achtziger Jahren gibt es hier eine Autobahn und so ist die N 8 heute nur noch eine breite Straße, die schon einmal bessere Tage gesehen hat, mit recht spärlichem Verkehr. Sie geht meist parallel zur Bahnlinie, hier, wo es gebirgig ist, überquert die gewundene Straße mehrfach die Bahn.

So gab ich mich weiter der satipatthana, den vier Grundlagen der Achtsamkeit hin, die heute im Mittelpunkt meiner Praxis standen. Im Rahmen der Körperachtsamkeit ist es gut, bei jedem Schritt darauf zu achten, wie ich gehe und wohin ich trete. In Anbetracht der vielen Fahrbahnunebenheiten und manchmal auftauchenden metertiefen Löcher macht es auch Sinn, dass ich meine Schritte so wähle, dass ich mit dem richtigen Fuß die problematische Stelle passiere, dabei die Körperbewegungen durchaus mit dem synchronisiere, was ich vor mir sehe, von vorne kommen und von hinten hören kann, daher erschrecke ich inzwischen auch nicht mehr so, wenn jemand von hinten dicht an mir vorbeifährt und dabei kräftig hupt. "Ach, diese Sorte Wesen", kommt mir dann nur noch in den Sinn, und ich verstehe auch, warum die wilden Hunde hier so einen großen Bogen um die Menschen machen; die werden auch bereits ihre Erfahrungen mit dieser Spezies gemacht haben.

Als zweite Grundlage der Achtsamkeit ist es gut, die vedana zu betrachten, also festzustellen, welche Reize zu positiven oder negativen Empfindungen führen, ohne sich durch diese Empfindungen zu unbewussten oder ungewollten Reaktionen hinreißen zu lassen. Als drittes beachte ich auch immer wieder meinen Geist, frage mich also: ist er wach, achtsam, träge oder wie auch immer. Und schließlich sind es die Geistobjekte, die ich betrachte, angefangen bei den störenden, den Hindernissen, also frage ich mich zum Beispiel, ob da ein Element von Aufgeregtheit in mir vorhanden ist oder beispielsweise von Abneigung, und wenn ich so etwas entdecke, bemühe ich mich, die geeigneten Gegenmittel zu ergreifen, also zum Beispiel zu kontemplieren, wohin mich dieses Hindernis führen wird. So betrachte ich alle Geistobjekte bis zu den besten, der Erleuchtungsfaktoren, also zum Beispiel, ob da Achtsamkeit, Ergründung der Realität oder Gleichmut in mir vorhanden ist, und wenn nicht, bemühe ich mich diesen noch nicht oder zu schwach vorhandenen Faktoren mit geschickten Mitteln zum Entstehen bzw. zum Wachsen zu bringen.

Heute war so ein Tag, an dem es mir leicht fiel, alle diese vier Grundlagen gewissermaßen spielerisch, nicht formalisiert, einzuüben, also nutzte ich diese Gelegenheit.

In Vakarel waren wieder Pilzsammler dabei, die Ausbeute des Tages in PKWs zu verladen, um sie auf den Markt in der Hauptstraße zu bringen. Ich kam am dortigen Bahnhof so pünktlich an, dass es mir gerade noch gelang, eine Fahrkarte zu kaufen, schon fuhr der Zug ein, ein schöner moderner Zug, wie ihn bei uns auch die Hessische Landesbahn betreibt. Es gab sogar akustische und optische Anzeigen zum nächsten Halt, sehr schön.

Auf der sechs Kilometer langen Strecke zwischen Gara Elin Pelin und Elin Pelin war eine Unfallgedenkstätte, die mir schon gestern beim Vorbeifahren aufgefallen war, vier Kreuze für Unfallopfer, garniert mit allerlei Autotrümmern. Heute besah ich mir die Stelle näher. Diese Menschen starben hier vor genau sechs Tagen. Wie verschwindend klein sind demgegenüber die Probleme, die mich an diesem Tag noch erwarten sollten.

2Denn leider hatte der 104. Tag nicht nur eine Vor- sondern auch eine Nachgeschichte. Nach 27 km kam ich also wieder in Elin Pelin in der Ulitsa Novoseltsi an und wie immer freute ich mich, als ich mein kleines Auto so brav am Straßenrand stehen sah. Als ich jedoch einstieg, musste ich feststellen, dass die rechte vordere Seitenscheibe eingeschlagen war, außerdem, dass das Schloss der Beifahrertür zerstört ist und dass versucht wurde diese aufzuhebeln. Gestohlen war offensichtlich nichts außer einem USB-Stick, also weder das Autoradio, noch das Navi, noch das Tablet, das (verpackt) auf dem Beifahrersitz lag. Ich fuhr sofort zur örtlichen Polizei um eine Anzeige aufzugeben und rief meine Tochter Wendy an, damit diese sich an meine Autoversicherung wendet.

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Was mich positiv überraschte, war, dass in mir keine Wut, kein Groll über die dummen Jungs aufstieg, die das getan hatten. Es gelang mir tatsächlich die Sache mit Gleichmut zu betrachten. Die einzige andere Emotion, die in mir aufstieg, war seltsamerweise Mitgefühl für das Hinayana, obwohl ein Auto eigentlich doch gar nichts fühlen kann und Mitgefühl daher eine unpassende Emotion wäre. Aber vielleicht hat ja ein körper-  loses Wesen seinen Wohnsitz im Hinayana genommen, wie ein Einsiedlerkrebs im Schnecken- haus.

Der kleine Polizist am Eingang der örtlichen Polizeidienststelle holte den Dienststellenleiter, der etwas Englisch sprach, sich den Schaden besah und mir mitteilte, wenn ich eine polizeiliche Aufnahme für die Versicherung brauchte, dass dann ein Protokoll aufgenommen werden müsste und dass sie Ermittlungen anstellen müssten. Für die Protokollierung müsste ein kompetenter Übersetzer geholt werden und das Ganze würde etwa vier Stunden dauern, so geschah es dann auch.

Die Englischlehrerin des Ortes wurde geholt, eine nette junge Frau von nicht einmal 30 Jahren, dann kam die vernehmende Beamtin, Inspektor St. Viele formale Dinge mussten geklärt werden mit meinem Reisepass, meiner KFZ-Zulassung und der grünen Versicherungskarte, was alles gar nicht so einfach war, da die Formulare offensichtlich in Deutschland ganz anders aussehen als man das hier gewohnt ist, und alles musste in andere Schriftzeichen übersetzt werden, deren Lautbedeutungen im Deutschen, Englischen und Bulgarischen unterschiedlich sind. Alsdann musste ein Kurzprotokoll und ein ausführliches Protokoll erstellt werden.

Am Ende bekam ich dennoch noch nichts ausgehändigt, denn die Protokolle seien Ermittlungsergebnisse und nur für den Dienstgebrauch, außerdem natürlich in bulgarischer Sprache, kyrillischer Schrift und - wie das hier üblich ist - handschriftlich. Die Inspektorin versicherte mir aber bereits morgen ein verwertbares Dokument für meine Versicherung zu erstellen, ich könnte dieses dann am übernächsten Tag abholen, allerdings nur nachdem ich eine Gebühr von 2,50 lv eingezahlt hätte und darüber einen Bankbeleg vorlegen könnte.

Die Englischlehrerin zeigte mir noch, bei genau welcher Bank in genau welcher Filiale ich - wenn die Banken wieder offen haben, es war inzwischen 21 h - meine Einzahlung tätigen könne. Das muss so sein, weil die Polizei von Elin Pelin dort ihr Konto hat, allerdings gäbe es keine Kontonummer, und nur in dieser Filiale wüssten sie dann, wo sie den Betrag gutschreiben sollten. Ich bekam auch einen Zettel in bulgarischer Sprache mit, den ich auf der Bank nur vorzeigen müsste, damit die wissen, was zu tun ist, denn es sei unwahrscheinlich, dass man dort englisch spräche. Als wir bei der Bank ankamen, musste ich schmunzeln, dass die Polizei darauf bestand, dass es hier geschehen müsse, der Name der Bank war Bul-Bank, Humor haben sie ja bei der bulgarischen Bullerei.


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