Horst,
der
Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl
aller Wesen – Geschichte eines
europäischen Buddhisten - Stand
Zugegebenermaßen klingt der Titel dieses Vortrages schon ziemlich stark. Aber ich muss zugeben: ich habe wirklich Wirtschaftswissenschaften studiert. Wie das kam, habe ich bereits an anderer Stelle erläutert (Szene 032 - RotZWirt), ich möchte es an dieser Stelle nicht wieder tun.
Tatsächlich ist die Wirtschaftswissenschaft und hier insbesondere die Betriebswirtschaftslehre in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu so etwas wie einer „Macht des Bösen“ geworden.
Das war sie nicht immer. „Ökonomie“ ist die Lehre vom Haushalten. Mit seinen Ressourcen klug hauszuhalten, ist natürlich etwas sehr Vernünftiges. Seine Mittel so einzuteilen, dass sie den größtmöglichen Nutzen stiften, das war ursprünglich der Gedanken des Wirtschaftens.
Noch in den Studienunterlagen meines Vaters aus den späten vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts findet sich der „Nutzen“ als der zentraler Begriff der Wirtschaft. Ein Vierteljahrhundert später, als ich studierte, war er nicht mehr der zentrale Begriff, aber dieser Terminus spielte nach wie vor eine Rolle. In den heutigen Schullehrbüchern suche ich den Begriff leider vergebens.
Dass ich mit Schullehrbüchern in Wirtschaftslehre zu tun habe, liegt daran, dass ich Handelslehrer bin, also an beruflichen Schulzentren Wirtschaft unterrichtete. In meinen Fachoberschulklassen gab es zuletzt sechs Lehrgänge, darunter nur einen einzigen zur Volkswirtschaftslehre, alle anderen zur BWL. Der Lehrgang 1 – wohl laut Ministerium der Wichtigste – lautet: Marketing, also: wie kann ich den Leuten das andrehen, was sie weder brauchen noch wollen. Der Lehrgang 6 steht vermutlich an letzter Stelle, damit er wegen der Abschlussprüfung nur noch kurz behandelt werden kann, es ist der zur Volkswirtschaft, zum Verständnis, wie Wirtschaft Nutzen für eine große Gemeinschaft stiftet.
Natürlich bemühte ich mich – so gut es in diesem Rahmen geht – den Schülern eine kritische Distanz zum Zeitgeist, zur Gierwirtschaft, zu vermitteln. Ich selbst war 2001 bereits seit vielen Jahren auf einer Teilzeitstelle, ich arbeitete montags bis mittwochs, dann hatte ich genug verdient, um den Rest der Woche davon leben zu können, den Dharma praktizieren und ihn auch weitergeben zu können.
Ich bin Buddhist: jeden Morgen vor der Meditation zitiere ich die fünf ethischen Vorsätze, deren dritter in der positiven Formulierung lautet: „Mit Stille, Schlichtheit und Genügsamkeit läutere ich mich.“ Und natürlich bemühe ich mich diesen Satz nicht nur zu rezitieren, sondern auch einigermaßen glaubhaft umzusetzen, im Denken, Reden und Handeln.
Ich habe mir eingebildet, mich aus dieser Fixierung auf Geld einigermaßen befreit zu haben. Habe ich gedacht. Bis mich zwei Träume eines anderen belehrten. Der erste Traum war erschreckend, der zweite verstörend. Im Traum wurde mir ein Spiegel vorgehalten. Ich möchte dies hier berichten.
Anfang dieses Jahrhunderts hat Dhammaloka, ein sehr erfahrenes Mitglied des Buddhistischen Triratna-Ordens, in Essen ein Seminar abgehalten, in dem es um unser Verhältnis zum Geld geht. Das, so dachte ich mir, klingt interessant. Ich hoffte Anregungen zu bekommen, die ich vielleicht im Schulunterricht umsetzen könnte. Dass ich selbst mein Verhältnis zum Geld geklärt hatte, dass es für mich nur mehr noch eine marginale Rolle spielte, schien mir klar. Seit etwa zehn Jahren war ich Buddhist, arbeitete nur noch auf Teilzeit, hatte mein Auto und mein Haus an die Mutter meiner Kinder überschrieben, lebte bescheiden in meiner kleinen Mansardenwohnung, die aus dem Sperrmüll möbliert war, ich brauchte nicht viel.
Und dann kam das Seminar. Es war nicht einmal das, was wir im Seminar machten. Es war vielmehr das, was sich in meinem Kopf abspielte, oder besser in meinem Unbewussten. Und das kam im Traum hoch. Ich lag des Nachts auf einer Matte im Keller der buddhistischen Zentrums (ich war ja so genügsam!) – und dann geschah es. In meinem Traum. Es gab da diesen Sack. Und darin regte sich etwas und wollte heraus. Natürlich assoziiert man dabei, „die Katze aus dem Sack lassen“, also das bislang Verborgene sichtbar werden lassen. Aber es war keine Katze. Es war ein Zombie.
Nun mag es
Leute
geben, die von Zombies träumen, weil sie sich mit entsprechenden
Filmen auseinandersetzen, sie sich reinziehen. Ich habe niemals
einen
solchen Film gesehen, auch kein entsprechendes Buch gelesen, mir
ist
nur der Begriff „Zombie“ für einen „Untoten“, einen „zum
Leben erweckten Toten“ bekannt. Und da war dieser Zombie, er lief
mir nach, er war wieder aus dem Sack gelassen. Und dieser Sack sah
ziemlich genau so aus wie die Geldsäcke, die ich als Kind in Comix
von Dagobert Ducks Geldspeicher gesehen hatte. Und es war nicht
irgendein Untoter. Er sah genau aus wie Wim Duisenberg (Bild), der
damalige Präsident der Europäischen Zentralbank, auch als Mr. Euro
bekannt.
Es war der schrecklichste Traum, den ich seit Jahrzehnten hatte, weniger wegen des Inhalts als vielmehr wegen der Tatsache, dass der Geist des Geldes, des Monetären, dieser Gierwirtschaft, offensichtlich nicht, wie ich geglaubt hatte, tot war, sondern wie ein Zombie sein Unwesen trieb - in mir. Und es ist immer erschreckend, wenn wir in den Spiegel schauen und unser wahres Antlitz erkennen.
Nun, das war der erste Traum. Der zweite war noch viel verwunderlicher. Es war im Spätsommer 2001, ich kam gerade von der Schule, und an diesem Tag war ich aus unerfindlichen Gründen plötzlich wahnsinnig müde. Wie in Trance ging ich in meine kleine Dachwohnung, zog die alte Matratze, die mir als Bett diente, hinter dem Bücherregal hervor und fiel vor Müdigkeit erschöpft darauf. Was mich plötzlich so auslaugte, war mir nicht klar, aber irgendetwas zog Kraft von mir ab. Und wieder träumte ich.
Ich war in einer großen, mir fremden Stadt. Ich hatte keine Ahnung wo, aber es musste irgendwo im westlichen Ausland sein, es war keine der unseren fremde Kultur.
Und ich wusste
nur
eines: ich musste zurück, denn sie war in Gefahr. Sie
war doch mein Lebensinhalt. Und jetzt war dieses Chaos in der
Stadt.
Überall Polizei und Feuerwehrautos und Krankenwagen, eine riesige
Hektik. Und irgendwo, dort vorne, so wusste ich, war sie,
meine Kirche. Fast alle Menschen kamen mir entgegen, ich musste
aber
doch in die andere Richtung. Zum Glück ließen mich die Leute
einigermaßen durch, sie versuchten mir, einem Schwerbehinderten,
auszuweichen. Selbst die Polizisten, die dieses rot-weiße (oder
gelb-schwarze?) Flatterband über die Straße zogen, um irgend etwas
abzusperren, ließen mich passieren, einer rief noch etwas, aber
ich
hörte nicht darauf, ich verstand es auch nicht, es war in einer
anderen Sprache. Ich lief so rasch ich konnte - ich, ein kleiner
verwachsener Mann mit meinem humpelnden Gang und immer nach unten
gedrückt von der Last meines großen Buckels. Ich drängte vorwärts,
musste mich doch darum kümmern, musste doch zu meiner Kathedrale!
Es waren viel
Läden in der Straße, die meisten hatten wie in Frankreich Markisen
zum Schutz vor der Sonne, und ich fühlte mich auch von diesen
Markisen etwas geschützt vor den brennenden Papieren, die da
herabfielen und vor den herabprasselnden Steinen. Ich musste doch
vorwärts, um die Glocken zu läuten. Immer verzweifelter rannte
ich,
musste doch zu meiner Kathedrale. Jetzt fielen schon nicht mehr
nur
Papierfetzen und Steine herab, sondern auch Menschen klatschten
von
oben auf die Straße, manche brennend. Einer versuchte mich
zurückzurufen: „Du kannst da nicht hin, Quasimodo, es ist zu
spät…“, doch ich rannte weiter – bis ich klatschnass
geschwitzt erwachte.
Ich fühlte mich total benommen. Ich stand auf, konnte mich kaum auf den Beinen halten. Wieso war ich, Horst Gunkel, der Glöckner von Notre Dame gewesen? Wie betäubt verließ ich die Wohnung, ging die Treppe hinab. Eine Wohnung tiefer trat mein Sohn aus der Tür: „Hast Du es schon gehört?“
„Wieso, was?“ frug ich.
„Es ist Krieg!“ stieß mein Sohn hervor. Ich war noch immer total benommen.
„Wieso Krieg, was meinst Du. In Israel oder wo?“ ver-suchte ich das Nächstliegende, das Plausibelste zu unterstellen.
„Nein: Richtig
Krieg. Amerika wird angegriffen, in Washington, in New York, das
Pentagon ist schon zerstört, das World
Trade Center liegt in Schutt
und Asche.“ Ich schob ihn beiseite, ging in seine Wohnung zum
Fernseher: „Wer greift Amerika an?“
„Das weiß man nicht.“
Und da sah ich die Bilder: das World Trade Center, ein Turm brannte, in den anderen klatschte gerade ein Flugzeug. Aber was mich in diesem Moment viel mehr erschütterte, war die Silhouette diese Bauwerkes, zwei große Türme auf einer Insel oben nicht spitz, sondern flach, wie abgeschnitten: die Silhouette von Notre Dame.
Da stand es, das Symbol des Kapitals: das World Trade Center, riesig groß wie der Turm zu Babel, aber mit einer Silhouette wie die Kathedrale von Notre Dame. Und ich bin sein buckliger Glöckner.
Ein Glöckner ist einer, der die Leute zum Gottesdienst ruft, zum Götzendienst für unser Wirtschaftssystem, für die Gierwirtschaft.
Ich wusste absolut nicht was ich schockierender finden sollte, den Angriff aufs World Trade Center, oder den auf mein Selbstverständnis als buckliger Glöckner von Notre Dame, dem Diener einer satanischen Wirtschaft vermutlich letzteren.
Nachtrag
am 16.04.2019:
Ich muss sagen, dass mich der gestrige Brand der Kathedrale von Notre Dame doch ziemlich erschüttert hat, denn dadurch erhält der Traum noch eine besondere Note, fast so als hätte er erst heute stattgefunden, also nachdem ich sowohl von den Angriffen aufs World-Trade-Center als auch vom Brand in der Kathedrale von Notre Dame gehört habe und hätte dies zum Anlass genommen, diese Szenen im Traum zu verknüpfen. Tatsächlich aber wusste ich damals weder von dem einen noch vom anderen Ereignis.