Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 14.1.2020

Szene 059 – Iwan Pjotrowich – ~1796 - ~1845



Iwan war der Liebling aller Einwohner des kleinen Dorfes Bolmir in Moskowien – jedenfalls als er noch ein Kind war. Der Lockenkopf war ein Wildfang und gleichzeitig immer zu Scherzen aufgelegt. Sein Vater arbeitete in den Stallungen des Bojaren, seine Mutter als Magd. Und natürlich ging der Knabe mit seinem Vater Pjotr Iljitsch täglich zu den Pferden, um diese zu versorgen. Stundenlang konnte er die Rappen mit der Bürste massieren, ohne dabei zu ermüden, es war für den Jungen gewissermaßen ein sinnlicher Genuss, so eng mit den starken Tieren verbunden zu sein. Ja, es hatte auch irgend etwas Meditatives, ein Ausdruck liebender Güte für die Pferde. Das Tragen von Wassereimern gefiel ihm weniger, aber gern fütterte er die Tiere.

Und ebenso gern wie er die Pferde bürstete, ließ er sich das Haar kämmen und bürsten, besonders gern von Olga, seiner großen Schwester. Manchmal, wenn er an ihrem Busen lehnte und sie ihm das Haar kämmte, fühlte er sich wie im Paradies.

Mit den anderen Jungen in Bolmir konnte er wenig anfangen, die waren ihm zu kampfeslustig und zu unstetig. Ganz anders war sein Verhältnis zu Natascha, der jüngsten Enkelin des Bojaren, welche die Pferde ebenso liebte wie er. Und wann immer sie nach ihm schicken ließ, um ihre Lieblingsstute fertig zum Ausreiten zu machen, freute sich der Junge, und er versäumte es nie, ihr einen kleinen Blumenstrauß an den Sattel zu binden.

Natürlich wusste Natascha, wie sie einen Stallburschen wie ihn zu behandeln hatte, aber insgeheim sehnte sie sich danach, ihm ebenso die Haare zu bürsten, wie sie das bei Olga gesehen hatte. Einmal, da war sie schon 14, stürzte sie vom Pferd und verletzte sich am Fuß. Sie schrie um Hilfe, und es war zum Glück Iwan, der ihr Jammern hörte und sie fand. Er sah nach ihrem Fuß und, als er diesen berührte, war das zwar einerseits schmerzhaft, aber doch so beglückend, dass sie wünschte, er würde seine Hände nie wieder wegnehmen.

Ich fürchte, ich kann nicht zurücklaufen,“ hauchte sie ihm entgegen. Iwan schaute unwillkürlich nach der Stute, als würde er überlegen, wie er sie dort hinauf befördern könnte.

Ich habe Angst, wieder aufs Pferd zu steigen. Kannst du mich nicht tragen, wenigstens ein kleines Stück?“ Sie schaute ihn mit schmachtenden großen Augen an.

Dieser Wunsch war das Schönste, was er sich hätte wünschen können, und gern erbot er sich ihr zur Hilfe an. Iwan war kräftig und er hob das schlanke Mädchen, als wäre sie eine zierliche Puppe. Sein linker Arm umfasste ihren Oberkörper und mit dem rechten trug er ihr Hauptgewicht, sie stützten ihre Beine, die von einem langen, dicken Kleid umhüllt waren, dennoch wurde ihr ganz heiß. Auch Iwan spürte eine große Hitze in sich aufsteigen.

Natascha tat jetzt, als suchte sie Halt, um nicht herabzufallen, aber eigentlich war es nur eine gespielte Ausrede, um ihre Arme um seinen Nacken legen zu können und sich so nicht nur festzuhalten, sondern dem Gesicht des jungen Mannes nahe zu kommen. Aus seinem Mund strömte Zwiebelgeruch, was ihr bei jedem anderen als unmöglich erschienen wäre, aber Natascha konnte sich in diesem Moment keinen schöneren, keinen würzigeren, keinen männlicheren Geruch vorstellen, als diesen zwiebelgeschwängerten Atem des Stallburschen.

Obwohl das Mädchen mit jedem Schritt etwas schwerer wurde, kam ihm nie der Gedanke, sie abzusetzen, und er trug sie den ganzen weiten Weg bis fast zum Samok, dem burgartigen Gebäude, in der die Familie des Bojaren lebte. Dort sah er zu seinem Entsetzen ihren Vater mit einem Bediensteten reden und er wollte das Mädchen gerade absetzen, als auch ihr gestrenger Vater sah, was da geschah.

Das ist ja wohl...“ entfuhr es ihm, und er umfasste unwillkürlich seine Peitsche fester. Iwan setzte das Mädchen ab: „Sie ist vom Pferd gestürzt und verletzt!“ erklärte Iwan. Und Natascha, die sah, wie erbost ihr Vater war, begann zu jammern: „Oh Gott, es tut so weh, Vater, hilf mir!“

So musste sich der Vater seiner Tochter zuwenden, doch er wurde auch ihres schmachtenden Blickes zu diesem lockigen Bauernlümmel gewahr: „Wir sprechen uns später, du...“ er vollendete den Satz vor seiner Tochter wohlweislich nicht.

In diesem Moment kamen Reiter von Westen angeritten, sie riefen: „Der Feind steht schon 20 Werst von hier und die Truppen des Zaren können unmöglich hier sein, bevor die Franzosen uns erreichen.“

Tatsächlich erreichten die Truppen Napoleons am nächsten Tag Bolmir und requirierten alles, was sie brauchen konnten: die Pferde, die Vorräte für den Winter. Nataschas Vater hatte seine Tochter und die anderen Familienmitglieder mit Wagen nach Moskau evakuieren lassen. Aber eines vergaß er nicht: dass dieser Schönling Iwan Pjotrowich seine Tochter angefasst hatte. Am nächsten Tag ließ er seine ganze Wut an dem jungen Mann aus, dieser erhielt 20 Peitschenhiebe auf den nackten Oberkörper. Iwan wurde ohnmächtig. Der Patron aber ließ einen Eimer Wasser über ihm ausschütten und sagte: „Das war nur der Anfang, das machen wir jetzt jeden Tag. Du wirst deine dreckigen Finger nie wieder an eine Dame aus guten Hause legen, du Nichtsnutz.“

Iwans Mutter versorgte die Wunden und weinte bitterlich: „Dieser verdammte Bojar wird unseren Iwan umbringen.“ Und auch Pjotr Iljitsch war sich der Gefahr bewusst. Er überlegte angestrengt, dann nahm er sich seinen Sohn vor:

Iwan, ich kann dich verstehen, aber es war dumm von dir. Du weißt doch wie diese verdammten Adligen sind. Und jetzt, wo sie ihre Pferde und ihre Vorräte an die Franzosen verloren haben, wird er noch aggressiver sein. Iwan, du hast nur eine Chance: verschwinde von hier. Egal wohin. Junge, ich bitte dich um deiner selbst willen: Rette dich.“

Die Mutter packte ihm einiges von ihren versteckten Vorräten ein und im Morgengrauen verschwand Iwan Pjotrowich. Er sollte seine Eltern nie wieder sehen.

Es war wenige Wochen später. Iwan fror im Wald, als er von fern Lärm hörte, der immer mehr anschwoll. Er ging zum Waldrand. Eine große Menge von Menschen, von Pferden und von Wagen wälzte sich gen Westen.

Die Stute hielt die Nüstern in den Wind, diesen Geruch kannte sie, das war der vertraute Geruch eines lieben Menschen aus Friedenszeiten, sie warf den Offizier auf ihrem Rücken ab und rannte in die Richtung, aus der dieser Geruch kam, drei, vier weitere Pferde taten das gleiche und rannten auf Iwan zu.

Mira, das bist ja du!“ staunte Iwan als er die Lieblingsstute von Natascha auf ihn zurennen sah. Mühelos ließ sich das verängstigte Tier von ihm an die Zügel nehmen, auch die anderen Pferde, die allesamt früher von seinem Vater und ihm betreut worden waren, blieben in seiner Nähe, selbst als der Offizier mit seinem Adjutanten angeritten kam.

Der Offizier sprach ihn an, der Adjutant, offensichtlich ein Russe, übersetzte. „Du scheinst dich auf Pferde zu verstehen. Bei uns sind die verdammten russischen Gäule bockig, hast du Lust als Pferdeknecht mitzukommen?“

Und so wurde Iwan Pjotrowich Ende 1812 Teil der kaiserlichen Armee, als Pferdeknecht. Iwan konnte es so einrichten, dass er für die Pferde des Gestüts seines früheren Bojaren zuständig war. Bei den anderen Stallknechten waren diese bockig, doch zu Iwan, der sie stundenlang gestriegelt hatte, hatten sie Vertrauen. So erwarb sich Iwan den Ruf eines Pferdeflüsterers. Und als am 14. Dezember das Pferd von Napoleons Adjutanten bei der Überquerung der zugefrorenen Njemen an der polnischen Grenze stürzte, sich ein Bein brach und erschossen wurde, suchte dieser sich ein neues Pferd und entschied sich für Mira, Nataschas früherer Lieblingsstute. Die anderen Pferde von ihrem Hof wurden als Packtiere verwendet und so kam es, dass Iwan den Rest von Napoleons Rückzug aus Russland in unmittelbarer Nähe des Kaisers verbrachte.

Anfangs hatte er Hochachtung für den großen – aber körperlich sehr kurz geratenen – Eroberer, doch allmählich lernte er die anderen Seiten des jähzornigen Mannes kennen und so hatte er mehr und mehr den Eindruck, einem Wiedergänger des Bojaren zu dienen. Dennoch blieb er in kaiserlichen Diensten – wo hätte er denn sonst hingehen sollen? Erst im folgenden Jahr, nach der Völkerschlacht bei Leipzig, entschied sich Iwan, nach einer Gelegenheit zu suchen, um sich abzusetzen.

Der Feldherr wurde zusehens unberechenbarer. Als sie zum Beispiel während des Rückzuges im Kinzigtal durch das Haitzer Tor in Gelnhausen ritten und eine Kanone mit dem Rad am Tor hängen blieb, sodass das Rad absriss, flippte der Kaiser wieder einmal aus: „Merde! Ich befehle, dass dieses Tor noch heute abgerissen wird! Morgen früh erwartet ich von Ihnen Vollzugsmeldung“, wandte er sich an seinen Adjutanten. Dann nahm er Quartier in der Stadt.

Der Adjutant begab sich zum Bürgermeister von Gelnhausen, Iwan im Schlepptau, und unterrichtete ihn vom Willen des Kaisers. Der Bürgermeister war entsetzt. Sie gingen zum Haitzer Tor, einem alten mächtigen aus Buntsandstein errichteten Turm der Stadtbefestigung. Dort entspann sich ein Disput. Der Bürgermeister sprach zum Glück Französisch und der Adjutant konnte Iwans Russisch übersetzen.

Bürgermeister: „Es ist absolut unmöglich, das Tor in nur einem Tag abzureißen, ich habe gar nicht genug Leute dafür. Außerdem wurde an dem Tor jahrelang gebaut und es bietet unserer Stadt seit 500 Jahren Schutz vor Räuberbanden und im Krieg – und nun soll es abgerissen werden, nur weil irgend so ein Idiot zu dumm war, die Kanone in der Mitte durchs Tor fahren zu lassen.“

Adjutant: „Ich sehe ihr Problem, Maire. Aber ich bin nun einmal meinem General zu Gehorsam verpflichtet, und der hat gesagt: das Tor muss weg, heute noch!“

Iwan Pjotrowich, in dem schon immer ein kleiner Schelm steckte und der zuvor in einer Gelnhäuser Kaschemme den Geschichten vom berühmten Gelnhäuser Schelmen Simplizissimus gelauscht hatte, kam ein Idee: „Nun, ehrwürdige Herren, mir scheint das Problem lösbar. Der General sagte, das Tor müsse weg. Er hat nicht gesagt, das „Haitzer Tor“ müsse weg. Seht ihr hier neben dran dieses hässliche alte Holztor des Hauses Haitzer Gasse 1? Es müsste doch ein leichtes sein, dieses Tor einzureißen. Und dann könntet Ihr morgen früh Napoleon wahrheitsgemäß berichten: das Tor ist eingerissen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“

Der Bürgermeister strahlte, der Adjutant war zunächst zögerlich, sah jedoch dann, das dies die einzig mögliche Variante war, also stimmte er zu. „Voila“, sprach Iwan, die Sprache seiner derzeitigen Herrschaft benutzend, und mit einem Fußtritt zerstörte er das hölzerne kleine Hoftor.

Dann gingen sie zur Schenke: „Wirt, einen großen Krug Wein für den klugen Russen“, strahlte der Bürgermeister. Und während Iwan langsam und genüsslich den herrlichen Gelnhäuser Wein trank, der ihm wesentlich besser mundete als der heimische Wodka, entschied er sich, bei nächster Gelegenheit abzuhauen und statt in Schlachten zu ziehen sich nur noch Wein, Weib und Wein zu widmen.

Und wenn ihr wieder einmal in Gelnhausen am Haitzer Tor vorbei kommt, dann freut euch, dass Iwan Pjotrowich, mein Ur-Ur-Urgroßvater, dieses Bauwerk gerettet hat.

Kurz darauf, es war die Nacht vor der Schlacht bei Hanau, machte sich Iwan auf und davon, er schwamm über den Fluss Main und verwischte so seine Spur. Er hatte vom Krieg die Nase voll und wollte endlich das Leben genießen.

Zwischen Klein Auheim und Hainstadt traf er auf einen Schäfer. Iwan, der inzwischen etwas Deutsch gelernt hatte, fragte den ziemlich betagten Mann, ob er nicht einen Gehilfen gebrauchen könne. Dieser besah sich den jungen, kräftigen Burschen und stimmte zu. Und Iwan machte seine Sache gut. Er war nicht nur beim Schäfer beliebt, sondern auch bei den Schafen und den beiden Schäferhunden. Als der alte Schäfer drei Jahre später starb, lag es nah, dass Iwan die Aufgabe des Auheimer Schäfers jetzt übernahm.

Und da er noch immer ein hübscher junger Mann mit einem heiteren Gemüt, einem schelmischen Wesen und einem lustigen Lockenkopf war, ist es nicht verwunderlich, dass er alsbald der Schwarm aller Frauen und Mädchen in der Umgebung wurde. Man sagt, der Ausdruck „Schäferstündchen“ sei ihm zu verdanken. Ob das stimmt, weiß ich nicht, möglich ist es durchaus, denn er verdrehten nicht wenigen weiblichen Wesen den Kopf ebenso wie seinerzeit der Bojarentochter Natascha.

Und so kommt es, dass nicht nur ich sein Nachkomme bin, sondern ganz viele Menschen aus der Gegend um Auheim, Krotzenburg und Hainstadt. Er zeugte in den folgenden Jahren 13 Kinder mit zwölf Frauen.

Ich staunte nicht schlecht, als mir während meines Studiums mein Freund Gerd (vgl. Szene 086) aus Hainstadt anvertraute, er habe einen Ur-Urgroßvater, der Russe gewesen sei, als Schäfer zwischen Auheim und Hainstadt gelebt habe und nicht weniger als 13 Kinder von zwölf Frauen hatte.

(Anmerkung: Der Anfang der Geschichte - bis zum Auftauchen Napoleons - ist fiktional.)


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