Horst,
der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines
europäischen Buddhisten - Stand
Szene 058 - Erinnerung an die Nacht des Schreckens
Wir schreiben den 4. Juli 2017, ich bin auf meiner Pilgerwanderung zu den deutschen Triratna-Zentren, habe einige Übernachtungen in einer günstigen Pension im Nordschwarzwald gebucht. Gerade bin ich angekommen, Frau Hügelmann, die Pensionswirtin, begrüßt mich: „Kennen Sie sich hier aus, waren Sie schon einmal hier?“
„Nein, Frau Hügelmann, in diesem Ort war ich noch nie. Aber warten Sie – vielleicht war ich schon einmal hier in der Nähe, ich habe da ein Schild gesehen: Wildbad. Gibt es im Schwarzwald mehrere Wildbad?“
„Nein, nur das eine!“
„Dann war ich vermutlich schon einmal hier, vor einem halben Jahrhundert, 1956 oder 1957. Gibt es dort einen Sommerberg?“
„Ja, klar, da ist der Sommerberg!“
„Ach, dann muss da das Kriegsblinden-Hotel gewesen sein.“
„Ja, genau, da war ein Hotel vom Kriegsblinden-Verein!“
Plötzlich wurde ich wieder mit einer Episode aus meiner Vergangenheit konfrontiert.
Und ich weiß noch genau: der Wäschewagen kam ihr entgegen, ein Kleinlaster, der die schmutzige Wäsche des Hotels zur Wäscherei transportierte. Das war in ihren Augen – und natürlich auch in meinen Ohren, ich war schließlich Ohrenzeuge davon – eine ziemliche Herausforderung. Mein blinder Vater aber saß mit stoischem Gesichtsausdruck und verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz. „Ruth, das schaffst du. Nur keine Hektik, jeder hat mal mit Fahren angefangen, der Kerl im Wäschewagen auch. Lass dich von dem im LKW nur nicht ins Bockshorn jagen. Und wenn du dreimal zurücksetzen musst, bevor du die Kurve bekommst, dann setzt du eben dreimal zurück. Was soll´s? Blamage? Quatsch – morgen fragt danach kein Mensch mehr. Und wenn doch, dann ist er ein Idiot!“
Auf diese Art unterstützte mein immer sehr selbstsicherer Vater seine manchmal etwas sehr nervöse Frau. In der restlichen Urlaubszeit betrachtete meine Mutter übrigens jede Woche zweimal die Künste des Wäscheauto-Fahrers, immer dienstags und freitags, sie versäumte es nie. Und siehe, der musste bis zu sieben Mal rangieren, um die Kurve zu bekommen! Allerdings ging es dabei auch jeweils um Zentimeter (meine Mutter behauptete: um Millimeter, aber das war übertrieben).
Das
Kriegsblindenhotel am Sommerberg war das zweite Haus dieser Art, das
wir besuchten: vier Wochen Urlaub mit meinen Eltern, das war toll!
Schon im vorigen Jahr waren wir im Harz, in Braunlage. Das war mein
erster Urlaub mit meinen Eltern. Meine Mutter hatte damals Bedenken,
ich könne nicht „urlaubstauglich“ genug sein. Damit meinte sie,
ich wäre vielleicht noch nicht angepasst genug, eine gute Figur –
im Sinne des bürgerlichen Verhaltensideals - zu machen. Also bekam
ich mit nur drei Jahren Benimmregeln eingetrichtert. Wie nimmt man
sich Gemüse formvollendet aus einer Schüssel? Mit welcher Hand
ergreift man die Serviette? Wie drapiert man sie auf seinem Schoß?
Um Himmels Willen niemals den Mund damit abwischen! Wie löst man eine
Forelle von ihren Gräten, damit es formvollendet aussieht und nicht
wie ein Kampf mit dem toten Tier? Diese und viele andere bürgerliche
Benimm-Kunststückchen bekam der kleine Horst (auf dem Bild im Jahre
1957) eingetrichtert – und
er wollte darin auch richtig gut sein!
Als es in den Urlaub nach Braunlage ging, war der kleine Horst prima dressiert. Wie ein kleines wohlerzogenes Äffchen hatte ich alle Benimmregeln abgespeichert.
Und doch lief schon die erste Mahlzeit total schief. Nicht etwa, weil ich die Regeln nicht gut genug beherrschte – im Gegenteil: weil ich sie verabsolutiert hatte.
Wie saßen mit einem Berufskollegen meines Vaters an einem Tisch. Einem OLG-Direktor mit seiner Frau. Doch kaum hatte die Mahlzeit begonnen, sah ich - ein dreijähriger Knirps - die Frau OLG-Direktor mit entsetzten Augen an und belehrte sie: „Aber meine Dame! Kartoffeln schneidet man doch nicht!“
Ja, das war damals gegen die Etikette. Und ich war so stolz darauf es zu wissen und wollte doch nur behilflich sein, dass sich die Frau Direktor nicht blamiert...
Aber irgendwie habe ich meine Mutter damit nicht wirklich glücklich gemacht...
Das
Hotel in diesem Jahr in Wildbad lag übrigens auf halber Höhe am
Sommerberg. Oben auf dem Berg war auch ein Hotel, das Hotel
Sommerberg. Und von Wildbad zum Hotel Sommerberg (und damit auf den
Sommerberg) führte eine Zahnradbahn. Es gab genau eine
Zwischenstation, nämlich bei unserem Kriegsblinden- hotel. Und
natürlich benutzten die Blinden und ihre Familien immer die
Zahnradbahn, um vom Ort zu ihrem Hotel oder eben auch auf die Spitze
des Berges zu gelangen.
Das
Fenster unseres Zimmers lag auf der Seite, auf der die Zahnradbahn
fuhr, sodass wir aus unserem Zimmer immer die Bahn sehen konnten, was
ich sehr interessant fand. Es war ein wirklich großes Zimmer –
jedenfalls kam es mir so vor. Das Ehebett meiner Eltern war zwischen
der Eingangstür, vor die man abends die Schuhe stellte, damit sie
über Nacht geputzt wurden, und dem Fenster zur Zahnradbahn. Es gab
aber auch noch ein großes Fenster zum Tal hin und eine Tür zum
Balkon. Dort stand mein kleines Bettchen. (Das Bild zeigt meinen Vater,
die liebe Großmutter und mich während dieses Urlaubs im Schwarzwald.)
Aber einmal die Woche gingen meine Eltern zum Tanz nach Wildbad. Dann war ich allein und wartete auf sie. An diesem Abend durfte ich im Bett meiner Mami schlafen. Von dort aus konnte man immer die Zahnradbahn fahren sehen. Abends fuhr sie alle halbe Stunde. Das letzte Mal um 22.30 h. Spätestens mit dieser Bahn würden meine Eltern wieder kommen. Zweimal hatten wir diese Übung bereits praktiziert, und natürlich war ich immer längst entschlummert, wenn meine Eltern zurückkamen und ich in mein Kinderbettchen umgebettet wurde.
Aber in dieser Nacht sollte alles anders sein. Schon am ganzen Abend kribbelte es in meinem Körper. Und dann war die Abendbeleuchtung ganz komisch, irgendwie gelblich. Im Laufe des Abends hörte man heftigen Donner. 21 h, jetzt wurde es ganz dunkel, bis auf das Wetterleuchten. Doch dann kam das Gewitter immer näher. Es ging inwischen Schlag auf Schlag. Ich hatte große Angst. Manche Schläge waren echt unheimlich. Das war, wie ich zags darauf sehen konnte, immer dann, wenn der Blitz in einen Baum einschlug und dieser von der plötzlichen Erhitzung explodierte: die Rinde wurde abgesprengt, weil das Wasser darunter augenblicklich verdampfte, und die Borke zerriss. Meist wurde auch noch der Stamm gespalten. Es war ein Höllenlärm.
Ein Schlag klang noch irgendwie anders – metallisch und so endgültig. Das war, wie ich später erfuhr, der Einschlag in das Türmchen des Sommerberghotels, der die Turmuhr zersprengte. Ich zitterte wie Espenlaub und die Zeit verging einfach nicht, obwohl ich den Wecker meiner Mutter genau vor meine Augen hatte und die ruckhafte Bewegung des Sekundenzeigers halb ängstlich, halb hoffnungsvoll verfolgte.
Allerdings waren auch die letzten beiden Zahnradbahnen nicht mehr gefahren. Wenn man ganze drei Jahre alt ist, ist die Zeit von 21.00 h bis 22.30 h verdammt lang. Ich hatte den Wecker direkt vor meine Augen. Fünf Sekunden waren schon eine Ewigkeit – wie denn dann erst Stunden!
Als das Donnergrollen stärker wurde, sind meine Eltern aus dem Tanzlokal heraus gegangen: „Schnell, wir müsse hoch zum Horst, der Junge hat doch sicher wahnsinnige Angst.“ Jetzt begannen dicke Tropfen herab zu fallen. Während meine Eltern sich bemühten, zur Talstation der Zahnradbahn zu kommen, brach der Wolkenbruch vollends los. Meine Mutter streifte die Tanzschuhe ab und ihre Wanderschuhe über, das Wasser stand inzwischen zentimeterhoch auf der Straße. - Endlich kamen die sorgengeplagte Mutter und der blinde Vater im Laufschritt bei der Talstation der Bahn an.
„Nein, heute fährt keine Bahn mehr völlig unmöglich, viel zu gefährlich.“
„Der Zick-Zack-Weg!“ rief Heinz, mein Vater.
Der Zick-Zack-Weg war eine Abkürzung, um die endlose lange gewundene Straße zu vermeiden. Er ging von Wildbad zum Hotel hoch. Allerdings war das ein Trampelpfad, kein befestigter Weg. Ein Weg über Gestrüpp und Baumwurzeln, er ging durch den Wald und war natürlich bei Nacht nicht beleuchtet. Selten ging jemand den Weg aufwärts, da benutzte man lieber die Bahn. Abwärts bei gutem Wetter, das konnte man einmal machen. Nie wäre jemand auf die Idee gekommen, ihn bei Nacht zu beschreiten. Und mit Sicherheit nicht bei einem Wolkenbruch.
„Heinz, das geht nicht, ich kann dich in der Dunkelheit nicht führen!“
„Ruth, du musst mich nicht führen. Folge einfach mir, achte darauf, wo ich hintrete und tritt genau dorthin“, rief Heinz und war schon voran geeilt.
Meine Mutter berichtete später: „Keine Ahnung, wie der blinde Heinz das gemacht hat. Ja, wir waren den Weg schon zwei-, dreimal abwärts gegangen und sogar schon einmal nach oben. Aber dieser Weg hat ganz viele Windungen, heißt nicht umsonst Zick-Zack-Weg. Er ist voller Wurzeln und war total vermatscht, aber der Heinz ist mit schlafwandelerischer Sicherheit vorangeeilt. Mir ein Rätsel, wie er das schaffte, ohne zu stürzen, ohne hinzufallen, einfach phänomenal. Ein Glück, dass es dauernd blitzte, sonst hätte ich ihm unmöglich folgen können...“
„Da seid ihr ja endlich. Ich dachte schon, ihr kämt nie wieder, Mama... Lasst mich bitte, bitte nie wieder allein.“
Sie gelobten es.