Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 20.1.2020

Szene 54 – Ein evangelischer Kindergarten – 1957



Kindergarten, das klingt hübsch. Evangelisch, das ist nicht so verbissen, aber schon ein bisschen spirituell, auf jeden Fall: etwas Gutes.

Nein, dieser Beitrag zeigt nichts besonders Schönes, es wird hier viel Problematisches aufgezählt. Dennoch richtet sich dieser Artikel keineswegs gegen Kindergärten, und schon gar nicht gegen die segensreichen Leistungen, die sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche in Kindergärten und anderen sozialen Einrichtungen leisten.

Dieser Artikel beschreibt nur die Vorkommnisse in einem einzigen Kindergarten. In dem Kindergarten, in den ich ging. Und zwar die Vorkommnisse in einer ganz bestimmten Zeit, im Wesentlichen in der Zeit von Ostern 1957 bis Ostern 1958, in welcher ich den Kindergarten besuchte. Ich ging dort nicht allein hin, meine Tante Anni brachte mich zum Kindergarten hin. Bei uns im Haus wohnte mein Onkel Ben, der Zahnarzt war und die Praxis seines Vaters Franz übernommen hatte, zusammen mit seiner Frau Anni und seiner Tochter Helga. Helga war acht Monate jünger als ich, ging aber bereits seit zwei Jahren in den Kindergarten. Außerdem gab es da noch Inge, die ein Jahr jünger war als ich und im Nachbarhaus wohnte. Wir drei spielten häufig zusammen. Und Tante Anni brachte uns mit dem Fahrrad zum Kindergarten. Eines von uns durfte im Kinderkörbchen am Lenker sitzen, eines auf dem Gepäckträger und das dritte stand auf der Gabel des Damenfahrrades, das Tante Anni schob. Nach einem Drittel des Weges wurde gewechselt. So kam jedes von uns auf einem Teil des Weges auf jeden der drei Plätze. Der Weg zum Kindergarten machte uns richtig Spaß.

Warum ich erst später als die beiden Mädels in den Kindergarten kam, hatte einen einfachen Grund. Helga und ich waren zwei Jahre zuvor einen Tag auf Probe dort. Ich durfte nicht wieder kommen, weil ich etwas ziemlich Schlimmes getan hatte: ich hatte ein Mädchen gebissen. Wie es dazu kam? Ich erzähle es.

Kindergärten waren damals Anstalten mit sehr klaren Regeln und einer ziemlich autoritären Art, diese Regeln durchzusetzen. Das ist nicht sonderlich verwunderlich, denn die Kindergärtnerinnen setzen das durch, was sie über Kindererziehung und Menschenführung gelernt hatten, und zwar beim BDM, dem Bund Deutscher Mädchen, der Nazi-Organisation, in der alle Mädchen ebenso gingen, wie Jungs in die HJ. Und natürlich war im Dritten Reich auch die Kindergärtnerinnen-Ausbildung nicht besonders emanzipativ, um es milde auszudrücken.

Ich war es gewohnt, immer mit Mädchen zu spielen. Helga und Inge waren meine Spielkameradinnen. Am häufigsten spielten wir Vater-Mutter-Kind und gerne auch mit Helgas Puppenstube. In dem Kindergarten gab es nicht nur eine kleine Puppenstube, sondern ein richtiges Puppenhaus, in das die Kinder hereingehen durften, unter anderem mit einer Puppenküche. Das fand ich äußerst interessant, durfte ich doch immer meiner lieben Großmutter, die mich genau so erzog, wie alle kleinen Mädchen (!) im 19. Jahrhundert erzogen wurden, in der Küche helfen.

Oh, eben habe ich etwas Falsches geschrieben. Ich schrieb, die „Kinder“ durften in das Puppenhaus gehen. Dann wäre das Problem nicht aufgetreten. Es war vielmehr so, dass nur die Mädchen dort herein durften.

Das war so etwas von gemein! Ich fühlte mich zu Unrecht ausgegrenzt. Heute würde man sagen: ich fühlte mich sexistisch diskriminiert. All diese Wut, diese Verletztheit, diese Ungerechtigkeit konnte ich natürlich mit drei Jahren noch richtig artikulieren, aber ich konnte sie sehr genau empfinden! Ich beschloss mich über das Verbot hinwegzusetzen. Also beobachtete ich, wann die Kindergärtnerinnen anderweitig beschäftigt waren, und schmuggelte mich in die Puppenküche ein.

Fräulein, da ist ´n Junge im Puppenhaus!“ krisch eines der Mädels, die Dagmar. Ich wollte diese Denunziation einerseits unterbinden, andererseits die Denunziantin ob ihres schändlichen Tuns bestrafen, war allerdings gut dressiert: „Mädchen schlägt man nicht!“, so hatte ich gelernt. Ich hielt die Regel ein. Von Beißen war ja nichts gesagt worden. Und so hatte ich für zwei Jahre Hausverbot.

Erst 1957 durfte ich wieder in den Kindergarten. Natürlich hatte man mir eingebläut, dass ich nichts im Puppenhause zu suchen hätte, auch wenn das ungerecht sei. Außerdem wusste ich jetzt, dass man Mädchen nicht nur nicht schlägt, sondern auch nicht beißt, kratzt, tritt oder auf andere Art traktiert.

Ich hatte Besserung gelobt. Dennoch war der Kindergarten für einen freiheitsliebenden jungen Menschen alles andere als ein idealer Ort. Gut, ich gehörte nicht zu denen, die böse Worte sagten, die wurden von den Kindergärtnerinnen auf besondere Weise bestraft. Wer ein schmutziges Wort sagte, hatte seinen Mund beschmutzt, also musste der gesäubert werden. Und wie säubert man ein schmutziges Körperteil? Mit Seife, also wurde der Mund dieser Kinder bis ins hinterste Eck mit Seife gereinigt.

Aber das war nicht mein Problem. Schwieriger war es schon, nicht zur Unzeit zu reden. Wer redete, wenn reden verboten war, dem musste der Mund geschlossen werden. Also holte die Kindergärtnerin Nadel und Faden, um den Mund zuzunähen. Beim ersten Mal ließen sich die Fräuleins noch durch Bitten und Jammern davon abhalten. Beim zweiten Mal musste der Delinquent mindestens einen Einstich zu spüren bekommen, um von seinem schändlichen Tun der freien Rede zu lassen.

Im Zweifelsfall lief ich jetzt immer mit zugehaltenem Mund herum und grunzte die Kindergärtnerinnen an. Allerdings war Herumlaufen gar nicht geschätzt, jedenfalls nicht während des Frühstücks, während des Stuhlkreises und zu einigen anderen Zeiten. Also wurde ich mit Stricken an den Stuhl gefesselt. Anfangs. Sobald die Kindergärtnerinnen mitbekommen hatten, dass ich an Höhenangst litt, wurde ich auf die Brüstung am oberern Ende der Säule im Kindergartenraum gesetzt. Tatsächlich zappelte ich hier nicht, schließlich riskierte ich damit meinen Absturz.

Noch heute tritt Panik in mir auf, wenn ich mich durch ein Kleidungsstück gefesselt fühle.


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