Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 14.1.2020

Szene 53 – Evelyn Wood – 1968



Ich war wieder der Stolz meiner Mutter geworden. Nach meiner „Unterrichtsübernahme“ (Szene 042) im letzten Jahr hatten sich meine schulischen Leistungen grandios gebessert. Meine Mutter sah, was ich leisten konnte, und dass ich meine Entwicklung selbst in die Hand nehmen konnte. Und natürlich waren ihre Phantasien, was meine Karriere anging, wieder zurück gekehrt. Aber sie hatte gelernt, dass sie bei mir mit Zwang nichts erreichen konnte, dass dieser vielmehr kontraproduktiv war. Also hatte sie sich darauf verlegt, mir Chancen zu bieten, die mein Selbstbewusstsein weiter aufbauten und mir eine Karriere ermöglichten.

Sie hatte wieder einmal etwas gelesen, das nach phänomenalen Leistungen aussah: Dynamisches Lesen. In Frankfurt war jetzt der erste deutsche Ableger eines amerikanischen Instituts gegründet worden, das die Steigerung der Lesegeschwindigkeit versprach. In einem nur zehnwöchigen Kurs würden die Teilnehmer (von Teilnehmerinnen sprach man damals noch nicht) ihre Lesegeschwindigkeit um das Drei- bis Vierfache steigern können. Natürlich fehlten in der Werbung des „Institute Reading Dynamics – Evelyn Wood Inc.“ auch nicht die Berechung, wie viel diese Steigerung der Lesegeschwindigkeit den Unternehmen, die ihre Manager dorthin schickten, an Kosteneinsparungen ermöglichte - und auch nicht wie die Karrierechancen der so ertüchtigten Manager stiegen.

Meine Mutter war bereit, die Kosten 700,-- DM zzgl. der gerade neu eingeführten Mehrwertsteuer (also 777,-- DM brutto) zu bezahlen. Das entsprach damals ziemlich genau dem Monatseinkommen eines Facharbeiters. Aber natürlich wendete sich der Kurs nicht an Facharbeiter, sondern an Manager und Verwaltungsbeamte des Höheren Dienstes. Wir waren 22 Kursteilnehmer, darunter 20 Personen aus dem mittleren und höheren Managment, ein Student und ich.

Es wurden mittels handgeführter Augenbewegungen, die beim Lesen nicht dem Zeilenmuster folgten, „Apperzeptionen des Inhaltes ohne die Subvokalisierung beim Lesen“ eingeübt. Die Idee war, dass der Leser normalerweise unbewusst ebenso wie beim Vorlesen die Satzmelodie tonlos aufsagt und daher die Sprechgeschwindigkeit die Lesegeschwindigkeit determiniere. Dieses Verhaltensmuster musste gebrochen werden. Dazu gab es einmal wöchentlich einen dreistündigen Abendkurs, bei dem dies schrittweise eingeübt wurde, außerdem täglich Hausaufgaben (ein Buch pro Tag mit 150 – 250 Seiten bei einer Wortanzahl von etwa 300-400 Wörtern/Seite in der erlernten Art zu lesen und eine Zusammenfassung zu schreiben) außerdem wurden jedesmal Veständnistests gemacht.

Ich habe wirklich hart geackert, ich habe meinen ganzen Ehrgeiz darein gesetzt, mich mit den Managern zu messen. Ich habe nie wieder so konzentriert geabeitet – auch nicht in der Meditation – denn die Art der Konzentration, die ich damals übte, war eine hart erzwungene Konzentration. Während meiner Hausaufgaben schwitzte ich wie Sau. Ich saß täglich zwischen 2 und 2,5 Stunden an den Aufgaben. Meine Anstrengung konnte man mit der Waage messen. In dieser Zeit, in diesen gut zwei Stunden, nahm ich jedesmal zwischen 2 und 3 kg ab, dadurch dass ich Schweiß abgab und durch die höhere Leistung mehr Kalorien verbrauchte. Natürlich nahm ich das gleiche Gewicht in den Stunden danach wieder zu, denn ich hatte daraufhin einen wahnsinnigen Durst und Hunger.

Auf diese Art habe ich härter gearbeitet als irgend einer der Manager im Kurs. Meine Erfolge bei den Leistungsüberprüfungen waren jetzt immer mindestens die zweithöchsten. Aber das genügte mir nicht, ich wollte der Beste sein.

Also nutzte ich die Schwachstellen in der Leistungmessungen. Schaffte jemand 500 Worte pro Minute und beim anschließenden Test beantwortete er 90% der Fragen richtig, so ergab das 500*90% = Lesequotient 450. Schaffte jemand 800 Wörter und löste 80% der Fragen richtig, so ergab das 800*80%=LQ 640. Wenn ich also 1000 Wörter las und nur 70% richtig hatte, ergab das LQ 700. Da man etwa ein Drittel Fragen auch ohne Textverständnis mit Logik lösen, bedeutete das bei einer Leseleistung von 1500 Wörtern und tatsächlich verstandenen 60% (plus ein Drittel von 60% aufgrund der Logik richtig gelösten Fragen = 80%) mal 1500 Wörter einen LQ von 1200. Ich nutzte diese Schwachstelle des Systems. Natürlich bemerkten dies auch einige andere Kursteilnehmer und kritisierten das System, mich focht das jedoch nicht an: ich bewegte mich im Rahmen der Regeln - ebenso wie ein gesetzeskonformer Manager, der alle juristischen Schlupflöcher nutzt. Ätsch!

Am Ende des Kurses hatte ich einen LQ von 2950 und somit meine Lesegeschwindigkeit nicht nur um das Drei- bis Vierfache, sondern – laut Zertifikat - um das 22,5fache gesteigert.

Ich muss wohl nicht sagen, dass dies weitgehend ohne praktischen Nutzen war, denn gerade Sach- und Fachbücher muss man sehr intensiv studieren. Durch das Verfahren von Evelyn Wood konnte man zwar möglicherweise die semantische Dekodierung auf das Vierfache steigern, aber mit Sicherheit nicht die syntaktische. Und ein belletristischer Genuss war diese Art des Lesens auch nicht.

Aber das Zertfikat schmeichelte (trotz des Wissens um mein Getrickse) meinem Ego – und dem meiner Mutter.

Ein besonderes Erfolgserlebnis hatte ich jedoch noch dadurch, dass ich eine Technik verfeinerte. Wir sollten unsere Protokolle in einer Form niederschreiben, die man heute als „mindmap“ bezeichnet. Ich habe dieses Verfahren damals in einer Art weiterentwickelt, dass ich noch zahlreiche Symbole einfügte und den Querästen unterschiedliche Bedeutungen beimaß, je nachdem, ob sie am Ende des Hauptastes (Folgen) oder seitlich von diesem (Beispiele, Aufzählungen) abgingen. Ich wurde gebeten, ein Formular zu unterzeichnen, womit ich dem Institut die Rechte, dies zu nutzen, übertrug. Ich handelte dafür einen nachträglichen Kursrabatt von 25% heraus. Ich war sehr solz auf meinen Deal. Meine Mutter jedoch meinte, ich hätte mehr herausschlagen können.

Was mir aber wichtiger war als das Geld, war dass die Manager im Kurs, die wegen meiner Quotientenregel-Ausnutzung genörgelt hatten, auf diese Weise sahen, wer denn hier der Kreativste war. - ICH war der absolute EGO-KING!
(Und damit dabei von jedweder spirituellen Ausrichtung weg und auf die Schiene der Effizienz zu geraten, einem Irrweg, dem ich dann sehr lange folgte, mehr als zwei Jahrzehnte lang.)


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