Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 20.1.2020

Szene 52 – Im Kinderheim der hl. Elisabeth – 1961



Es war in der Zeit, die ich bereits andernorts als das Leben in der Hölle beschrieben habe, die Zeit zwischen dem Tod meines Vaters im Jahre 1958 und der Unterrichtsübernahme 1967 (vgl. Szene 042). Es war die Zeit, in der meine Mutter sich durch den Tod meines Vaters vom Leben betrogen fühlte und alle Projektionen auf mein Fortkommen richtete. Meine Mutter und ich, wir waren beide verzweifelt, sahen uns beide in einer Opferrolle, wenn auch die Leiden sehr unterschiedlich waren.

Sicher, so kann man sich denken, wäre es gut, wenn wir einmal einige Zeit auseinander wären. Mein Vater war beim Fernmeldeamt beschäftigt gewesen, damals einem Teil der Deutschen Bundespost, einer sehr großen Behörde. Und diese Behörde kümmerte sich um ihre Mitarbeiter und deren Angehörigen. So gab es die Möglichkeit für Waisen von Postbeamten, zu einer Art Kur geschickt zu werden, zu einer Kinderverschickung in ein Heim auf Zeit.

Und auch ich wurde auf diese Weise verschickt, für sechs Wochen nach Bad Soden im Taunus. Dort hatte die katholische Kirche ein Kinderheim, in das immer eine große Zahl Kinder für jeweils sechs Wochen kamen, abwechselnd einmal die Jungen und einmal die Mädchen. Von Ende April bis Anfang Juni wurde ich also „ins Heim verschickt“. Das klang nach Abenteuer: erstmals ohne irgendwelche Familienangehörige, ohne die Mutter, wegfahren. Bereits Wochen vorher musste alles vorbereitet werden. Jedes einzelne Kleidungsstück musste mit einem Namenschildchen gekennzeichnet werden, die in jeden Strumpf, in jedes Unterhöschen, in jeden Waschlappen usw. eingenäht wurden.

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Das Bild zeigt mich im Jahr 1961 (allerdings an anderer Stelle)

Ganz früh am Morgen kam ich am Frankfurter Hauptbahnhof an, lange vor der Hauptverkehrszeit. Ich sollte mich bei den Leuten von der Bahnhofsmission melden, die von meiner Ankunft unterrichtet waren. Das tat ich auch, gab dort mein Gepäck ab und ging dann auf Entdeckungsreise. Der Hauptbahnhof war ein riesiges Gebäude mit 25 Gleisen und auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof verkehrten zahlreiche Straßenbahnen. Allmählich erwachte der Hauptbahnhof, die zahlreichen Geschäfte darin öffneten, und die eiligen Pendler kamen in die großen Hallen geströmt. Ich fand das alles spannend, und in der Tat war es das mit Abstand Beste, was mir in diesen sechs Wochen widerfuhr.

Ich erinnere mich nicht mehr an die Fahrt nach Bad Soden, auch nicht, wie ich vom dortigen Bahnhof zum Heim kam. Dort ging es als erstes in den Schlafzahl. Es gab genauer gesagt zwei Schlafsäle, jeder für vierzig Knaben, alle zwischen zehn und vierzehn Jahre alt.

Dazwischen war ein Durchgang und von dort aus ging es ins Schwesternzimmer. Die Schwestern waren junge Frauen zwischen 20 und 30 Jahre alt, die ein strenges Regiment führten, wie das damals üblich war. Außerdem gab es noch die Schwester Oberin, die die Heimleiterin war und deutlich älter. Wir bezogen unsere Betten und mussten unser Hab und Gut abgeben. Jeder bekam einen Spind, wo sein Gepäck hereinkam, den Schlüssel dafür hatten nur die Schwestern. Auch mein Geld musste ich abgeben. Meine Mutter hatte mir Taschengeld mitgegeben, damit ich mir hin und wieder etwas kaufen könne, ein Eis oder so. Das Geld wurde eingezogen und notiert, wer wie viel dabei hatte. Ich erntete böse Blicke von den Schwestern, weil ich so viel Taschengeld dabei hatte, acht Mark für sechs Wochen.

Dann ging es zum Mittagessen. Was es am ersten Tag zu essen gab, weiß ich nicht mehr, aber an den Nachtisch kann ich mich erinnern: es gab Wackelpeterpudding von Dr. Oetker. Das fand ich toll. Bei uns zu Hause gab es nie Wackelpeterpudding, der aus einer glasigen, wackligen Masse, die scheinbar aus Kunststoff war, bestand und leuchtend rot, grün oder gelb war. Aber hin und wieder bekam ich welchen, wenn ich bei meiner Cousine Helga, die im gleichen Haus wohnte wie wir, zum Essen war.

Es war die größte Freude, die ich in der ganzen Zeit über das Essen hatte. Es gab sogar jeden zweiten Tag Wackelpeterpudding. Es war eine gute Übung im Gossenschen Gesetz über den sinkenden Grenznutzen: beim ersten Mal riesige Freude, bei zweiten Mal – also am übernächsten Tag, immer noch große Freude. Zwei Tage später abermals Freude. Nach zwei Tagen: aha, Wackelpeterpudding. Am Sonntag gab es Kuchen: ein dünner Teig mit einer riesigen Schicht Wackelpeterpudding. Das Zeug schmeckte eigentlich nach nichts, außer süß und Chemie. Und fast täglich grüßte der Wackelpeter, der uns inzwischen zu den Ohren herauskam.

Dr. Rudolf August Oetker, der Seniorchef des Konzerns, hatte seinen Alterssitz in Bad Soden, nur 100 m vom Kinderheim entfernt. Offensichtlich hatte die Schwester Oberin ihn irgendwann einmal wegen einer Spende angeschrieben und er hatte daraufhin angeordnet, dem Heim jede Woche eine Gigant-Packung Wackelpeter- Puddingpulver zu schicken. Nach vier Wochen bekamen wir den Patriarchen sogar zu sehen. Er hatte Geburtstag und alle Knaben mussten dort antreten und „Zum Geburtstag viel Glück!“ singen. Die Oberin bedankte sich artig für die großen Mengen an Wackelpeter-Pudding, die „die Augen der Kinder immer zum Strahlen bringen“ würden. Ja, beim ersten Mal – inzwischen würg --- aber natürlich musste immer alles brav aufgegessen werden, schon mal wegen der armen hungernden Negerkinder in Afrika, die sich glücklich preisen würden...

Am dritten Tag im Heim stellte ich brav den Antrag, eine frische Unterhose und frische Strümpfe anziehen zu dürfen, schließlich hatte ich von beiden jeweils 20 Einheiten für die sechs Wochen dabei. Der Antrag wurde angelehnt. Drei Tage später sei Samstag, das sei der Tag zum Kleiderwechseln, ich bekäme keine Extrawurst gebraten. Als ich ein Argument anbringen wollte und einen Satz mit „Aber...“ begann, gab es ein Donnerwetter. Am nächsten Tag durfte ich nicht mit auf den Spielplatz, sondern musste 100 Mal schreiben: „Ich soll dem Fräulein nicht widersprechen, das gehört sich nicht.“

Dummerweise habe ich dabei in der fünften Zeile ein Wort vergessen. Also noch 200 Mal den Satz. Papier hatte ich ja genug dabei. Meine Mutter hatte mir genug zum Schreiben mitgegeben und mich gebeten, ihr jeden zweiten Tag zu schreiben. Daraus wurde jedoch nichts. Geschrieben wurde mittwochs, die ersten drei Sätze diktierte eines der Fräuleins, dann durften wir noch zwei Sätze selbst schreiben. Anschließend mussten die Briefe dem Fräulein zur Zensur vorgelegt werden. Uns wurde eingbläut, dass wir nichts zu schreiben hätten, „wodurch sich unsere Eltern Sorgen machen könnten“... In der ersten Woche wurden mein Brief zerrissen. Ich machte mir furchtbare Vorwürfe, dass meine Mutter gar nichts von mir hören würde. In Zukunft habe ich nur noch geschrieben, was die Zensur mit Sicherheit passieren ließ.

Ich war im Heim ziemlich unbeliebt. Die meisten Knaben fand ich meinerseits ungemein blöde und prollig, auch sehr aggressiv. Ich selbst sah mich als Pazifisten, der niemals einen anderen Jungen schlagen würde. Leider verstanden die anderen nicht, dass es ritterlich wäre, einen solchen Pazifisten nicht zu schlagen. Das machte mich ziemlich wütend, und ich zeigte ihnen meine Verachtung verbal, das war das Metier, in dem ich mich auskannte. Sprache konnte ich wie ein Florett einsetzen, gelegentlich auch wie ein Degen, und da auf einen groben Klotz ein grober Keil gehört, setzte ich auch das verbale Schwert ein, was ich allerdings für gewaltfrei hielt, schließlich verletzte ich niemanden körperlich. Leider kämpften die anderen auf eine andere Art. Also gefiel ich mir darin, wann immer der Spielplatz oder das Fußballfeld drohte (und damit eine Prügelorgie zu meinem Nachteil), eine Verbalinjurie in Anwesenheit eines der Fräuleins loszulassen, sodass ich wieder eine Strafarbeit aufbekam. Manche Sätze durfte ich bis zu 500 Mal schreiben! Und in der Zeit musste ich nicht mit den anderen zum Spielen – Gott sei Dank!

Am schlimmsten war das Cowboy- und Indianerspiel, das eines Tages veranstaltet wurde. Ich wurde gefangen und der Lupo, so hieß er wegen seiner Größe und seiner weichen Birne, musste mich bewachen. Ich wurde an Händen und Füßen gefesselt und geknebelt. Das Knebeln war das Schlimmste, denn es war Mai, und ich hatte Heuschnupfen. Ich fürchtete zu ersticken. Außerdem wurde mir ein Strick um den Hals gelegt, der Strick wurde über einen Ast gelegt und der Lupo hatte ihn festzuhalten. Der Mund verstopft und der Strick recht eng um den Hals: bis heute kann ich es nicht haben, wenn mich jemand am Hals berührt.

Die anderen gingen weg, um woanders zu spielen, und der Lupo hielt den Strick in der Hand. Er machte sich einen Spaß daraus, den Strick immer einmal etwas anzuziehen, dass ich mich auf die Fußspitzen stellen musste, um noch einigermaßen Luft zu bekommen. Nur um Himmelwillen nicht heulen, das würde den kleinen Freiraum der in meiner linken Nasenhöhle, die weniger stark geschwollen war als die rechte, womöglich auch noch schließen. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit – und ich konnte dem Lupo nicht gut zureden, schließlich war ich geknebelt. Es war die Hölle.

Dann ertönte das Klingelzeichen zum Essen. Lupo überlegte, dann machte er den Strick an einem Ast fest und ging. Ich war allein im Wäldchen, konnte nicht rufen, konnte nur warten. Was, wenn ich die ganze Nacht hier bleiben müsste? Außerdem war die Schlaufe um den Hals so eng, dass ich nicht nur durch die Nase, sondern auch durch den Hals kaum Luft bekam. Ich versuchte durch Schluckbewegungen den Strick um Millimeter zu erweitern. Aber schlucke mal, wenn du einen Knebel im Mund hast, der den Speichel absorbiert!

Etwa eine Stunde später kam eines der Fräuleins, denn es war aufgefallen, dass ich fehlte. Ich wurde befreit. Lupo erhielt einen nicht allzu heftigen Tadel: „Der arme Junge versteht ja gar nicht, was er angerichtet hat.“ Und ich musste 200 Mal schreiben: „Ich soll keine anderen Leute provozieren.“

Ich machte beim Schreiben in diesen Satz natürlich extra Fehler herein, ich wollte nicht wieder heraus zum Spielen. Also noch 300 Mal diesen Satz schreiben. Wieder fehlerhaft. Noch 400 Mal. Irgendwann kam die Oberin und stellte fest, dass diese Strafe bei mir nicht verfing. Sie hatte sich etwas anderes ausgedacht: Mir wurde für den Rest der Zeit der Wackelpeterpudding gesperrt. Hurra!

In der zweiten Woche machten wir eine Wanderung, und zum Schluss kamen wir an einem Kiosk vorbei. Hier durfte sich jeder etwas für 10 Pfannig kaufen. Hinterher bekam jeder 60 Pfennig von seinem Konto abgezogen, schließlich musste das Geburtstagsgeschenk für Dr. Oetker noch finanziert werden.

Nicht für alle von uns war es im Elisabethenheim jedoch gleichermaßen unangenehm, vermutlich am wenigsten für den René, das war der älteste von uns, der war als einziger schon vierzehn. Und während wir alle abends schon in unserem großen Schlafsaal lagen und uns mit der Bitte meldeten, noch zur Toilette zu dürfen - immer nur drei Leute gleichzeitig, niemals durften alle, die wollten - in dieser Zeit durfte René zu den Schwesiern ins Zimmer und diese streicheln. Die Schwester Elisabeth konnte sonst nicht einschlafen.

Es gäbe noch viel zu erzählen vom Elisabethenheim, aber all das war nicht lustig. Ich denke es gibt doch einen Eindruck davon, wie es in manchen Kinderheimen der fünfziger und frühen sechziger Jahre zuging, mit einem Personal, das selbst in der Nazizeit erzogen worden war.

Manchmal, wenn ich etwas von Skandalen in den Heimen oder auch bei anderen Institutionen für Kinder in der damaligen Zeit höre, sei es bei kirchlichen Institutionen oder bei anderen, fühle ich mich sehr an mein Leiden im Elisabethenheim erinnert.

Meine Mutter erzählte später immer wieder einmal davon, wie ich total eingeschüchtert nach Hause gekommen sei und den Mund nicht aufgemacht hätte, um irgend etwas zu berichten: Angst. Ich sei einsilbig gewesen. Bei meinem Empfang gab es Kuchen. Völlig ohne Wackelpeter, leckerern Kuchen von meiner Großmutter. Diese fragte, als ich andächtig davor saß: „Na, Horst, willst du denn heute kein zweites Stück Kuchen?“

Daraufhin hätte ich sie mit leuchtenden Augen angesehen: „Ja, darf ich denn?“ - Das Heim hatte in mir Spuren hinterlassen.


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