Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 19.1.2020


Szene 47 – War das ein Suizidversuch? - 1971/72



Seit September 1967, seit meiner „Unterrichtsübernahme“ (vgl. Szene 042) gab es zwar wieder eine positive Grundstimmung in meinem Leben, die Schule absolvierte ich mit zunehmendem Erfolg, das Abi hatte ich in der Tasche und ebenso einen Studienplatz in Frankfurt, auch meine Stiefokurse liefen erfreulich. Eigentlich lief alles rund. Aber es gab da eine innere Unzufriedenheit, das Leben erschien mir leer, sinnlos. Ich empfand dukkha, existenzielles Leiden.

In diesen letzten Jahren des positiven Aufschwungs gab es immer wieder diese Momente, wo ich allem überdrüssig war, der Sinnlosigkeit ins Auge sah. Am schwierigsten war es am Bahnhof. Die Bahnsteigkante hatte immer dann eine magische Anziehungskraft, wenn der Zug einfuhr. Und wenn mir nicht bewusst gewesen wäre, dass ein Sprung vor den Zug absolut assozial sei, weil er entsetzliches Leid für dritte, unbeteiligte Personen bedeutet, ich weiß nicht, wie ich gehandelt hätte.

Ich hatte inzwischen den Führerschein und eine wachsende Vorliebe zum Alkohol. Manchmal wachte ich morgens verkatert auf, wusste nicht mehr, was am Abend zuvor war, wie ich hinterher nach Hause gekommen war und schlich mich ängstlich zur Garage – doch immer stand mein Auto, das Himbomobil, ein blauer Käfer, der zuvor meiner Mutter gehört hatte, unversehrt in der Garage. Vermutlich habe ich damals ein ganzes Geschwader von Schutzengeln beschäftigt.

Manchmal war ich so sehr des Lebens überdrüssig, dass ich Angst bekam, es käme zu einer Kurzschlusshandlung, die ich hinterher bereuen würde, wenn ich dann noch die Gelegenheit hätte, sie zu bereuen. Ich hatte daher (vermutlich war es schon im Jahr 1968) einen Beschluss gefasst. Wann immer in mir der Wunsch aufstieg, aus dem Leben zu scheiden, holte ich einen Stift und einen Zettel und schrieb auf: „Ich möchte mich umbringen, Großauheim den...“ es folgten Tag und Unterschrift. Ich hatte mir geschworen, dies nicht zu verwirklichen, wenn ich nicht zehn Tage hintereinander den gleichen Zettel mit dem jeweils aktuellen Datum unterschrieben hätte.

Auf die Idee hatte mich indirekt Franz, mein Großvater, gebracht (vgl. Szene 011 Franz). Er hatte gesagt: „Bubsche, wann de derr jemals es Lewe nemme willst, dann entscheid dich fers verhungern. Da haste genuch Zeit ders nochema annersder zu üwwerlesche.“ Das war eine weise Aussage. Stimmungen kommen und gehen. Man muss der negativen Stimmung die Chance geben zu vergehen. Und damals erschienen mir zehn Tage eine sehr lange Zeit.

Und wirklich, hin und wieder nahm ich mir einen Zettel und schrieb mir den Suizidentschluss auf. Manchmal noch am selben Tag, fast immer am folgenden, gelegentlich jedoch auch erst nach dem dritten Tag nahm ich den Zettel und verbrannte ihn. Auf Regen folgt Sonnenschein. Auf depressive Stimmungen Euphorie – und manchmal soff ich mir einfach nur das Leben schön.

So ging das einige Jahre lang bis in den Herbst 1971. Immer dann, wenn die Tage kürzer werden, das Jahr sich dem Ende zuneigt, immer im Oktober, wenn es kühl, stürmisch und garstig wird, sank meine Stimmung auf den Tiefpunkt. Durch Alkohol versuchte ich dies zu betäuben, aber sowie der Alkoholspiegel am nächsten Tag wieder sank, zeigte sich mir eine absolute Tristesse, Zeit nach der Flasche zu greifen oder meinen Suizidentschluss auf dem Zettel zu bekräftigen. Im Oktober 1971 war es zum ersten Mal zur vierten Unterschrift auf einem Zettel gekommen.

Klar, seitdem ich dieses makabre Spiel trieb und beobachtete, dass ich den Zettel spätestens am dritten Tag vernichtete, war mir klar gewesen, dass irgendwann einmal vier Unterschriften auf einem Zettel sein würden. Aber ebenso wie es nur alle zwei, drei Monate vorkam, dass ein Zettel zwei Unterschriften trug und nur ein oder maximal zweimal im Jahr vorkam, dass dort dreimal mein Name prangte, so erwartete ich, dass eine vierte Unterschrift nur alle zwei, drei Jahre erscheinen würde und eine fünfte vielleicht einmal in zehn Jahren. So nahm ich achselzuckend am vierten Tag wahr, dass meine Depression eben etwas länger dauerte und erwartete die Kehrtwende für die nächsten Stunden. Doch pünktlich um Mitternacht suchte ich meinen Zettel, um die fünfte Unterschrift darunter zu setzen.

Am nächsten Tag war ich um Mitternacht bereits betrunken entschlummert, aber sowie ich am Morgen mit einem Kater aufwachte, suchte ich meinen Zettel um – ziemlich krakelig – das sechste Autogramm darauf zu setzen. Eine tiefschwarze Stimmung legte sich auf mein Gemüt. Mir schwante, dass es diesmal länger dauern würde, vielleicht zu lange. Und ich begann darüber nachzudenken, welches Mittel mich aus diesem Leben befördern sollte.

Als ich am nächsten Tag die siebte Unterschrift geleistet hatte, saß ich stundenlang vor meinem Zettel und grübelte über zwei Fragen nach: wie? Und: warum? Ich war doch so sicher, dass ich mit der 10-Tage-Frist eine ausreichende Sicherung vor Kurzschlusshandlungen eingebaut hatte, entsprechend dem Rat meines Großvaters. Oder war der Großvater doch weiser? Hatte er mit „verhungern“ nicht eine noch deutlich höhere Hürde gesetzt?

Spontan griff ich zum Zettel, auf dem vor den sieben Daten und den sieben Unterschriften stand: „Ich möchte mich umbringen,“ und ergänzte nach dem Komma „und zwar durch verhungern.“ War das ein Rückzieher? Andererseits gönnte ich mir keine Auszeit. Ich schüttete die bereitstehende restliche Ernährung für diesen Tag – sie bestand ausschließlich aus Apfelwein – in die Toilette.

Als mich am nächsten Tag meine Mutter ansprach, ob ich schon etwas gefrühstückt hätte, antwortete ich: „Nein, ich habe beschlossen zu verhungern.“ „Ach so!“ antwortete sie. Bei mir musste man schließlich mit jedwedem Unsinn rechnen, und sie ergänzte: „Es kann auch gar nichts schaden, wenn du etwas abspeckst.“

Damit hatte sie recht. Ich war kein Riese. Das letzte Mal, dass meine Körpergröße gemessen wurde, war bei der Musterung: 169 cm. Seitdem hatte ich nicht mehr nachgemessen und gab trotzdem meine Größe mit 1,70 m an. Das klingt besser. Zwar hatte ich den Eindruck den einen Zentimeter nicht wirklich gewachsen zu sein, aber nachdem ich nicht nachgemessen hatte, konnte ich mir selbst (und den anderen) vormachen, es seien 170 cm. Und – egal ob 169 oder 170 – mein Gewicht war mit 84 kg eindeutig zu viel, noch dazu bei einem jungen Mann von gerade einmal 20 Jahren.

Ich aß also nichts. Das ging so einige Tage. Meine liebe Großmutter ermahnte mich zwar immer wieder: „Du musst doch was essen, Junge!“ Meine Mutter war pragmatischer, sie besorgte mir Vitaminpillen.

Ich dachte nach, ob ich die nehmen solle. Nun, sagte ich mir, ich habe mich fürs Verhungern entschieden, weil ich sowohl aus dem Leben scheiden will, als auch die Möglichkeit haben möchte, es mir doch nochmal ander zu überlegen, wie es die Empfehlung meines Großvaters war. Die Vitamintabletten können das Verhungern nicht verhindern. Aber wenn ich es mir doch noch anders überlegen sollte, wäre es fatal, dauerhafte Schäden davon getragen zu haben. Also schluckte ich die Pillen.

Wenige Tage später machte mich meine Mutter auf einen Artikel aufmerksam, in dem etwas über Vergiftungen bei Hungerkuren stand: minimaler Stuhlgang sei nötig. Ich entschied mich, mir morgens auf dem Weg zur Uni ein trockenes Brötchen zu kaufen – maximal täglich eines.

Großmutter war jedoch ernsthaft besorgt: „Junge, das tut dir nicht gut.“ Ich jedoch, ein großer Anhänger von Statistiken, erwiderte. „Großmutter, das tut mir sehr gut, ich habe nur noch 79,6 kg, wenn ich weiterhin gleich viel pro Tag abnehme, bin ich am 21. Februar 1973 verschwunden!“ „Verschwunden?“ Großmutter sah mich entsetzt an. „Ja, liebe Großmutter, das ist der Tag an dem ich von 0,03 kg auf minus 0,14 kg abnehmen würde, was ja nicht geht, daher werde ich da einfach verschwinden“, strahlte ich sie an. Die liebe Großmutter wandte sich voller Grausen ab.

Der November ging ins Land, und wie immer um diese Jahreszeit tauchten Nüsse, Mandarinen, Lebkuchen und jede Menge Plätzchen auf, die in der Wohnung auf Tellern aufgestapelt wurden. „Willst du nicht mal einen Bissen von diesen neuen Nürnberger Lebkuchen probieren, die haben dieses Jahr ein neues Rezept, viel würziger, es kann ja ruhig ein ganz kleiner Bissen sein?“ schlug meine Mutter vor. Ich nahm den Lebkuchen in die Hand und schnüffelte daran: „Ja, Mutter, du hast recht, ich kann es ganz deutlich riechen. Mein Geruchsinn hat sich in letzter Zeit geschärft!“ Ich sprach´s und legte den Lebkuchen zurück.

Als nächstes versuchte meine Mutter es einige Tage später mit einem neuen Trick: sie hatte einen Tokayer gekauft, damals meinen Lieblingswein, doch auch hier blieb ich standhaft. Die Weihnachtszeit focht mich nicht an und ich widerstand auch dem Weihnachtsschmaus. Ich hatte kein Problem mich dazuzusetzen und genoss den Anblick essender Menschen. Mein Trübsinn von Ende Oktober, Anfang November war verschwunden, seitdem ich verkündet konnte, dass ich nicht erst im Februar 1973 verschwinden würde, sondern seitdem ich diesen Termin sukzessive vorverlegen konnte. Meine aktuelle Gewichtsabnahme zeigte mein Verschwinden inzwischen im Dezember 1972 an, nicht einmal mehr ein Jahr, bis mein Gewicht auf 0,0 kg wäre!

Silvester wurde begangen, wir stießen mit Sekt an, ich jedoch trank nur Mineralwasser. Und war guter Dinge: „Wie schön noch ein letztes Mal den Jahreswechsel mit euch feiern zu können!“

In den ersten Januartagen war meiner Mutter ein neuer Gedanke gekommen, wie sie mich beeinflussen könnte. Ich hatte inwischen die 70-kg-Marke unterschritten und meine Kleidung war natürlich viel zu weit. „Horst, jetzt, Anfang Januar, ist Kleidung am günstigsten. In zwei Wochen beginnt der offizielle Winterschlussverkauf, aber jetzt nach dem Weihnachtsgeschäft wird alles schon runtergesetzt. Wir sollten die Gelegenheit nutzen und ins Nord-West-Zentrum fahren.“

Also begaben wir uns in dieses neue große Einkaufszentrum im Norden Frankfurts. Und siehe da, meine Mutter kaufte mir jede Menge tolle modische Kleidung: Einen engen hellen Anzug, eine Hose mit modisch engen Hosenbeinen, die sich nach unten ganz weit trompetenförmig öffneten, dazu einen modernen Blazer. Eine in verschiedenen Blautönen gestreifte, modische und etwas hippiehafte Hose, dazu papageienhaft schreiende Hemden und andere Akzessoirs mehr. Ich sah aus wie Sergant Peppers Lonely Hearts Club Band. Natürlich spekulierte sie, dass ich auf diese Weise bei Mädels gut ankäme und so wieder Lebenslust bekäme. Und in der Tat fühlte ich mich darin sehr wohl. Und wirklich bekam ich inzwischen auch erste Aufmerksamkeit von jungen Frauen, die sich sonst nicht für mich interessiert hatten.

Mein Ehrgeiz lag jedoch in meinen Körperertüchtigungen, einer Art „Spätsport“ mit dem ich abends versuchte alle möglichen statistischen Bestwerte zu bekommen – um positive Erlebnisse zu generieren, vor allem für den Fall, das an diesem Tag das Gewicht nicht weiter gesunken ist, oder gar mein Verschwinden um einige Tage später zu erwarten wäre.

Und in der Tat, wurden meine Gewichtsabnahmen geringer. Anfang Februar musste ich das tägliche Brötchen streichen. Im Laufe des Februars aber wollte mein Körper nicht mehr abnehmen. Also reduzierte ich die Wasserzufuhr. Maximal einen Liter pro Tag gestand ich mir zu! Als auch dies keinen Erfolg hatte, reduzierte ich auf 0,5 Liter. Inzwischen dachte ich den ganzen Tag nur noch daran zu trinken, so quälte mich der Durst. Das kannte ich in Bezug auf Wein früher schon, jetzt jedoch bezog sich der Wunsch auf Wasser. Und schon wieder nichts abgenommen, rein gar nichts. Mein Verschwindedatum war inzwischen wieder von November auf Dezember gestiegen. Also 0,25 Liter Wasser. Erfolglos!

Neue Restriktionen: nur noch 10 Schluck Wasser pro Tag. Erfolglos! Dann eben künftig nur noch neun! Und? Reduktion auf acht, davon fünf den Tag über, drei Schluck vorm Zubettgehen, sonst kann ich wegen des Durstes nicht schlafen.

Weitere Reduktion. Eine erste Gewichtsabnahme stellte sich erst ein, als ich nur noch drei Schluck Wasser am Tag trinken durfte. Herrlich – ich erlaubte mir wieder 0,25 l, erneute leichte Gewichtsreduktion – ich durfte wieder ein Liter trinken, konnte dann die Wasserration ganz frei geben.

Exkurs: Ich weiß, dass das nicht sehr hilfreich war. Aber es hatte noch einen besonderen Effekt, wie ich inzwischen weiß. Der bekannte Ernährungsexperte Rüdiger Dahlke wurde einmal gefragt, was er denn von der Theorie hielte, dass es Leute gäbe, die sich nur von Licht ernährten. Dazu muss man wissen, dass zu der Umstellung auf angebliche Lichtnahrung nicht nur ein Essensentzug, sondern auch ein systematischer Wasserentzug erfolgt. Nach dieser Rosskur kann man angeblich nur von Licht leben.

Dahlke berichtete, er sei auch mit dieser Theorie konfrontiert worden und habe sie selbst ausprobiert. Ergebnis seines Selbstversuchs: Das ist Unsinn, allerdings kommt man nach der Umstellungsphase mit deutlich weniger Nahrung aus. Für ihn hätte es aber noch einen anderen Nebeneffekt gehabt: seitdem müsste er auf sein Gewicht achten. Der Körper hätte auf den extremen Flüssigkeitsentzug mit Anlegen von Fett- und Wasserreserven reagiert. Daher müsse er jetzt immer seine Nahrungszufuhr kontrollieren, weil jede Kalorie mehr nicht verbrannt, sondern gespeichert würde. Mir scheint ich habe das gleiche fatale Experiment gemacht und muss seitdem beständig mein Gewicht kontrollieren oder nehme sofort zu. Ende des Exkurses.

Meine Gewichtsabnahme setzte sich damals, nachdem ich den Wasserentzug stoppte, aber weiter auf Nahrung verzichtete weiter fort, und ich unterschritt im Laufe des Frühlings die 60-Kilo-Marke, machte jedoch keine Anstalten, nicht mehr auf mein „Verschwinden“ hinzuarbeiten. Allerdings erlaubte ich mir ab Mai wieder eine kleine Menge Nahrung (½ Dose weiße Bohnen und ein Viertel Rotwein pro Tag). Meine Mutter versuchte weiter, mir Lebensfreude einzuhauchen und unterstützte mich ideell und finanziell, als es darum ging einen Campingbus, das spätere Carstle, zu kaufen (vgl. Szene 040).

Und ich muss auch sagen, dass der Wunsch zu „verschwinden“ immer geringer wurde. Da war einerseits noch dieses existentielle dukkha, andererseits wechselte mein Hunger allmählich zu „Lebenshunger“, ich war so hungrig auf ein erfreuliches, weltliches Leben wie niemals sonst in meinem Leben.

mIm Sommer fuhr ich mit dam Carstle nach Großbrittanien. Inwischen hatte ich meine Nahrungszufuhr bereits auf eine ganze Dose weiße Bohnen und zwei pints of bitter ale gesteigert. Während meiner Reise verliebte ich mich im schottischen Inverness heftig in Moira (Bild), wir verbrachten 12 wunderschöne Tage miteinander. Eine Umsetzung des Wunsches auf Lebensfreude, die sich schon im Frühjahr immer wieder mit kleinen Verliebtheiten angekündigt hatte.

Und im Laufe des August 1972 war jedes Verlangen aus dem Leben zu scheiden verschwunden. Mein Lebenhunger war jetzt riesig.

Allerdings war auch meine spirituelle Veranlagung, die ich als Jugendlicher hatte, verschwunden. Bereits mit 18 hatte dieser Prozess eingesetzt. Drei Themen hatten Spiritualität verdrängt, und zwar zeitlich in dieser Reihenfolge 1. Autos/Mobilität, 2. Karriere/ Berufswahl/Stiefo und 3. Mädchen/ Familienplanung.

Es sollte noch 20 Jahre dauern, bis sich meine spirituelle Ader wieder vehement zurück meldete.


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