Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 5.1.2020

Szene 42 Unterrichtsübernahme - 1967



Als ich das erste Mal meine Lebensgeschichte im Rahmen meines Ordinationsprozesses in England erzählte, überschrieb ich die ersten drei Kapitel so:

Boyhood in Heaven (1951-1958

Down to Hell (1958-1967) und

Back in Heaven again.

Der Übergang von der Phase 1 zur Phase 2 bildete das einschneidende Erlebnis des Todes meines Vaters (am 3. Oktober 1958) und die Konsequenzen auf die Familie. Ich habe an anderer Stelle bereits darüber berichtet (u.a. in Szene 017 – Ruth). Ein ebenso einschneidendes Erlebnis brachte die Wende von der Phase 2 zur Phase 3. Diesen Übergang kann ich genau datieren, nämlich auf den 17. September 1967 und diese Szene (042) soll den Hintergrund hiervon ausleuchten. 

Die Phase 2 war, so habe ich bereits ausführlich berichtet, geprägt von den Projektionen meiner Mutter, dass ich der Träger der Familienerfolgsgeschichte und der Karriere dieser Familie sein sollte - und von meiner Verzweiflung, damit umzugehen. Von mir wurden höchste Schulleistungen gefordert, ich aber fühlte mich total überfordert. Ich wurde bestraft - und flüchtete in eine Art ungewollte Verweigerungshaltung. Ich war in einer Zeit, als nur 10 % der Schüler Abitur machten, auf die Hohe Landeschule geschickt worden, die sich für eine Eliteanstalt hielt. Ich war dort allerdings nur ein durchschnittlicher Schüler – und das in einer Schule, in der man davon ausging, das zwei Drittel aller Schüler in der Mittelstufe ausgesiebt werden müssten.

Daher bekam ich, sobald sich meine Leistungen irgendwo verschlechterten, und das war in den sprachlichen Fächern, Nachhilfeunterricht. Das war entsprechend teuer und belastete meine von der Witwenrente lebende Mutter. Um so höher waren die Erwartungen an den Erfolg des Nachhilfeunterrichts einerseits - und meine unbewussten Widerstände andererseits. Misserfolg war aus diese Weise vorprogrammiert.

Bereits in der fünften Klasse – damals hieß das noch Sexta – bekam ich Nachhilfe in Englisch, wo meine Leistungen nur mit "ausreichend" bewertet wurden. In der siebten Klasse – damals der Quarta – kam Latein dazu, das (nicht nur) in dieser Schule als das Horrorfach schlechthin galt – und auch von dementsprechenden Lehrern mit den entsprechenden Methoden unterrichtet wurde.

Ich stand von Anfang an auf einer 5 (mangelhaft). Dies änderte sich auch trotz der Nachhilfe in den folgenden Jahren nicht. Dazu kam, dass mein 9. und 10. Schuljahr, sog. Kurzschuljahre waren, denn damals wurde der Schuljahresbeginn in Hessen von Ostern auf den Sommer verlegt, weshalb zwei Schuljahre – bei unvermindertem Lernstoff – in 15 Monaten zu bewältigen waren. Hatte ich anfangs noch bei älteren Schülern Nachhilfeunterricht (die Kosten betrugen dort zwischen 3 und 5 DM), so kamen jetzt Studenten (Preis 11 DM/h) und ein Studienrat (Dr. Havekoss, Preis 13 DM/h) zum Einsatz. Meine Widerstände aber wuchsen, ich machte Dienst nach Vorschrift, bemühte mich, alle Anweisungen so stark wie möglich misszuverstehen, brachte damit meine Nachhilfelehrer schier zum Verzweifeln, und ich versuchte Übersetzungen möglichst in Gedichtform zu bringen. Schrieb Julius Caesar in De Bello Gallico: "Sunt item, quae appellantur alces", so übersetzte ich: "Es gibt auch welche / die heißen Elche".

Es nimmt nicht wunder, dass dies irgendwann schief gehen musste, und so kam, was kommen musste: im Jahr 1967 wurde ich nicht versetzt. Die Hintergründe hiervon habe ich in Szene 009 ("Ein ganzer Kasten Bier") beschrieben. Trotz Nachhilfemarathon in den Sommerferien rasselte ich mit Pauken und Trompeten durch die Nachprüfung in der zweiten Septemberwoche. Heute möchte ich sagen: Gott sei Dank!

Meine Mutter war verzweifelt und es kam zu einer Besprechung zwischen ihr, den beiden StudentInnen (einem Paar), die mir Nachhilfe gaben, und mir. Meine Mutter sagte, sie sei am Ende, was hätte sie alles investiert und: vergebens. Die Nachhilfelehrer stellten fest, dass ich bockig und von Widerständen erfüllt sei. Nun war es an mir, Stellung zu nehmen.

"Ihr gebt mir schließlich auch keinerlei Chance zu zeigen, was in mir steckt. Ich muss beständig zu diesem blödsinnigen Nachhilfeunterricht und dort total stupide Aufgaben erledigen, die mir die ganze Zeit rauben. Auf diese Art komme ich überhaupt nicht dazu, sinnvoll und planvoll zu üben und Erfolg versprechend zu arbeiten!"

Das verschlug nun allen die Sprache. Die Nachhilfelehrer waren – verständlicherweise – empört: "Wir können es ja einmal ein, zwei Monate ausprobieren, wohin das führt." - Und meine Mutter wollte, dass ich zu diesem Vorschlag Stellung nähme.

"Ein oder zwei Monate genügen nicht, um aufzuholen, was ich durch die unseligen Nachhilfestunden in vier Jahren versäumt habe. Dafür brauche ich auf jeden Fall vier Monate, das ist bis Mitte Januar. Am 31. Januar gibt es Zeugnisse, dadurch kann jeder die Resultate objektiv sehen. Ich schlage vor, wir treffen uns unmittelbar nach den Zeugnissen wieder, um die Ergebnisse meiner `Unterrichtsübernahme´ durch mich selbst zu bewerten."

Am meisten staunte ich selbst über mich. Ich, der jahrelang gedemütigt worden war, der herumalberte, weil er keine effektivere Widerstandform wusste, war selbstbewusst aufgetreten! Ich führte das darauf zurück, dass ich mich in den letzten Jahren zunehmend mit revolutionärer Literatur befasst hatte. Auf jeden Fall akzeptierten alle meinen Vorschlag. Die Nachhilfelehrer in der sicheren Erwartung, dass ich total scheitere, meine Mutter klammerte sich daran, wie an einen rettenden Strohhalm, und ich, weil ich allen beweisen wollte, was in mir steckt.

"Unterrichtsübernahme", dieses Wort hatte ich in meiner oben zitierten kleinen Ansprache verwendet und "Unterrichtsübernahme" ist auch der Titel dieser Szene. Und eben dieses Wort war das erste, was ich aufschrieb, als die Aussprache mit den Nachhilfelehrern vorbei war. Ich war in mein Zimmer gegangen, hatte mein Nachhilfe-Hausaufgabenheft vorgenommen, einen dicken Strich unter alles bisherige gezogen und darunterunter geschrieben:

rot

Unterrichtsübernahme!
17. Sept. 1967 

und dazu eine wunderschöne Rote Fahne gemalt.

Bandiera rossa la trionferà
Bandiera rossa la trionferà
Bandiera rossa la trionferà
Evviva comunismo e libertà.

Und wie in dem Reim des italienischen Arbeiterliedes "Avanti popolo" bedeutete das, was ich da gerade erreicht hatte, für mich libertà, Freiheit.

Ja, ich wusste, dies würde ein harter Kampf. Ich hatte versprochen in vier Monaten aufzuholen, was ich in vier Jahren versäumt hatte. Und ich machte sofort einen Plan. Einen ganauen Plan, wie viel Zeit ich in den Kernbereich "Latein" investieren würde, und welche Übungen ich dazu machen würde, wie viel Zeit für die übrigen Unterrichtsfächer aufgewendet würde – und wie viel Zeit ich für "weitere Bildungsarbeit" aufwenden würde.

Für letzteres veranschlagte ich, der Bildungsbürger, 50 % der Zeit, und sehr zur Verwunderung meiner Mutter belegte ich vhs-Kurse und Kurse an anderen Erwachsenbildungsanstalten in so unterschiedlichen Dingen wie "Kunst am Um-bruch vom Mittelalters zur Neuzeit", "Literatur der DDR", "Ethnologie", "Gruppen- psycholgie" oder "Italienisch für Anfänger".

Im Oktober wurde eine Lateinarbeit geschrieben. Nachdem ich vier Jahre lang nie etwas besseres als eine 5 bekommen hatte, war diese Arbeit erstmals eine 4 – nur drei Wochen nach der Unterrichtsübernahme! Im Dezember kam die zweite Lateinarbeit – eine 2. Und im zweiten Schulhalbjahr gab es weitere zwei Lateinarbeiten. Ich bekam beide Male die Note 1. Inzwischen hatte ich mich auch in eine Auseinandersetzung mit der Schulleitung begeben: ich wollte erreichen, dass es Latein ab Klasse 11 als Wahlpflichtfach gäbe und ich so noch tiefer ins ehemalige Horrorfach eindränge. Auch in diesem Kampf habe ich mich schließlich durchgesetzt. Sic!

Unmittelbar nach dem Halbjahreszeugnis trafen sich meine Mutter, die beiden Nachhilfelehrer und ich verabredungsgemäß zur Begutachtung meines Zeugnisses. In der Tat stand in Latein jetzt eine 3. Auch in allen anderen Fächern ging es nicht bergab, nur eine einzige 4 stand im Zeugnis: in Sport. Die Nachhilfelehrer waren äußerst überrascht, um nicht zu sagen entsetzt. Diese Zusammenkunft war jedoch nicht nur mein Triumpf. Nein, meine Mutter triumphierte mit: sie hatte es doch immer gewusst: der Horst kann Karriere machen. Gut, er ist zwar etwas eigen, man darf nicht versuchen ihn zu etwas zu zwingen, aber wenn man ihn machen lässt, dann scheint er alles zu schaffen, was er sich in den Kopf gesetzt hat.

Und so erfolgte gewissermaßen ein Pardigmenwechsel. Ich war nicht mehr der, der von seiner Mutter mit Gewalt zu etwas gezwungen werden musste. Die Peitsche funktioniert bei "dem Menschen" nicht. Also stieg meine Mutter von Peitsche auf Zuckerbrot um. Was immer ich wollte, es fand Unterstützung durch meine Mutter.

Die Phase 3 meines Lebens hatte begonnen: 

Back in Heaven again!


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