Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 15.1.2020

Szene 038 – Wandern auf der Erde



Es war im Sommer 2014, als ich während meiner Pilgerreise Richtung Bodh Gaya nach nunmehr 2960 km in den Großraum Istanbul gelangte. Am Vortag hatte ich die größte Haftanstalt der Türkei in Silivri passiert, wo nach dem Putschversuch 2016 angebliche Gülen-Anhänger inhaftiert wurden. 

KZ

Gefangenenlager Silivri, hier: Wohngebäude der Bewacher, die KZ-artig anmutenden Baracken befinden sich hinter der Moschee

An diesem Tag damals jedoch ging es nur noch im Verstädterungsgebiet entlang. Hier ein Auszug aus meinem Tagebuch:

Als der Wecker um 3 h morgens klingelte, stand ich pflichtbewusst auf – jetzt würde es noch nicht so heiß sein! Dennoch muss ich sagen, dass es auch einmal toll wäre - sagen wir - sechs Stunden schlafen zu können und dann um 7 h ein Frühstück einnehmen zu können, aber schließlich habe ich keinen Urlaub, sondern bin auf dem Pfad!

Die heutige Wanderung ließ sich wunderschön an, um 4.15 h (Pilgerzeit) war ich unterwegs, die Dunkelheit war jetzt kein Problem mehr, denn inzwischen bin ich in der urbanen Agglomeration angekommen, deren Herz Istanbul ist. Den größten Teil des Tages konnte ich in Sichtweite des Marmara-Meeres gehen, was eine positive Stimmung verursachte.

(Oh, der Muezzin ruft zum Gebet: Ich nehme das als Signal, dass es Zeit ist, die buddhistischen Zufluchten und Vorsätze zu rezitieren!)

Und tatsächlich, so entfremdet der stetige Asphalt unter den Füßen, die hohen Gebäude auf beiden Seiten, der gleichförmige Geräuschpegel der nahen Straße D-100 und der allenthalben weggeworfene Plastikabfall wirken, ich bin doch fast den ganzen Tag mit Mutter Natur in Kontakt gewesen. Da waren des Morgens die überall noch herumliegenden schlafenden netten Hunde, das Palaver der erwachenden Krähenschwärme in den Bäumen, die doch recht zahlreichen Bäume selbst, das Gras, das zwischen dem Verbundpflaster durchwuchs, das Meer, der Himmel, die aufgehende Sonne, die einzelnen Wölkchen, der Wind auf meiner schweißbedeckten Haut und das Feste unter meinen Füßen. Ja, das war sie selbst, verformt, aber doch unverkennbar, unsere Mutter, die Erde, unser wunderbarer Planet, die Mahasattva-Bodhisattva Gaia, unsere Große Mutter, die Gleichmut in Perfektion ausstrahlt ob des ach so häufig törichten Verhaltens ihrer Milliarden Kinder!

Es ist herrlich auf ihr zu gehen, jeder Schritt ein heiliger Akt in Dankbarkeit für unsere Große Mutter Gaia, die uns alles gibt! Unser ganzer Körper besteht aus Erdelement von der Erde, unserer Mutter. Auch das Wasserelement in unserem Körper stammt von unserer Mutter, dem blauen Planeten Erde, und natürlich auch das Luftelement in uns, und um uns, das wir fortwährend austauschen, es ist Bestandteil der Erdatmosphäre. Selbst das Hitzeelement in uns haben wir nur durch die Wärme auf unserem Planeten und natürlich aufgrund der Verbrennung unserer Nahrung in unseren Muskeln, der Nahrung, die uns unsere Mutter Mahasattva-Bodhisattva Gaia zur Verfügung gestellt hat. Und ich kann es nicht beweisen, aber ich habe die starke Vermutung, dass unser Geist, unser Bewusstsein, Teil eines größeren Bewusstseins ist, von dem ich annehme, das unsere Mutter, von der wir alle abstammen, Träger dieses Bewusstseins ist. Gaia - ein bewusstes Wesen.

Nun könnte man einwenden, dass das, was ich da schreibe, was sich mir in meiner Gehmeditation aufdrängt (offenbart?), nicht buddhistisch sei, sondern pantheistisch. Es ist mir allerdings völlig egal, welches Etikett man darauf klebt. Der Buddha hat empfohlen genau hinzusehen, wie die Dinge sind, er hat keine Dogmen verkündet, sondern ist als Wanderer mit offenen Augen, offenem Geist und offenen Herzen durch die Welt gegangen. Und so wie der Dharma in allen Ländern, in denen er ankam, Elemente dortiger Weisheit aufgenommen hat, so wird er auch im Westen eine Aufnahme westlichen, aufgeklärten und wissenschaftlichen Denkens erfahren. Und so wie der Dharma in allen Ländern neue Symbole, Begriffe und Bilder entwickelt hat, so bin ich auch davon überzeugt, dass in wenigen Jahrhunderten, vielleicht schon in Jahrzehnten, die Figur der Mahasattva- Bodhisattva Gaia, der Großen Mutter, von Buddhistinnen und Buddhisten verehrt werden wird. Welchen genauen Namen und welches Bild dafür stehen wird, weiß ich natürlich nicht, aber dass es so – oder doch so ähnlich - sein wird, davon bin ich felsenfest überzeugt.

Und mit jedem Schritt, den ich auf dieser wunderbaren Erde tue, mit jedem Atemzug mit dem ich die Luft unserer Mutter aufnehme und mit jedem Schluck Wasser, den ich trinke, wächst diese Überzeugung. So wird Gehmeditation zur Vipassana-Meditation. So entstehen kleine Tröpfchen von Erkenntnis, Mini- Elemente von Wissen und Sicht, wie die Dinge wirklich sind. Und das ist der Grund, warum ich diese Praxis, das achtsame Gehen des Pfades, so liebe.

Für diese Stunden des freudigen Sehens und Staunens in Dankbarkeit bin ich gerne bereit, die kleinen Unbequemlichkeiten in Kauf zu nehmen, die auf dem Pfad nicht ausbleiben. Mögen die Beschützer weiterhin ihre hilfreiche Hand so großzügig schützend und so gnädig über den kleinen Pilger Horst halten wie bisher.

Euch allen Glück und den Segen, die guten Gaben unserer Großen Mutter genießen zu können! Svaha!


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