Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 15.1.2020

Szene 37 – Grasmücke, *1957



Ich verbrachte die schönsten Jahre meiner Jugend als Einzelkind. Das war die Zeit in den 50er Jahren, als mein Vater noch lebte. Aber weder wollte ich ein Einzelkind sein, noch wollten das meine Eltern. Wir alle drei wünschten uns Zuwachs, und wir waren uns einig: ein Mädchen sollte es sein. Nach meinem Wunsch ein kleines, schutzbedürftiges Wesen, wie die Vögel, die auf der Großauheimer Waldwiese wohnten. Daher hatte ich ihr auch schon den Namen einer dort heimischen Vogelart gegeben: Grasmücke. Meine Mutter nahm jedoch an, dass sie keine Kinder mehr bekommen könne, deshalb hatte sie mir voreilig zugesagt: wenn ich ein Schwesterchen bekäme, würde sie ihm den Namen geben, den ich ihr ausgesucht hatte: Grasmücke.

Im Frühjahr 1957 wurde es dann offenbar: Ruth, meine Mutter war wieder schwanger – und wenn es tatsächlich ein Mädchen würde, so solle sie Grasmücke heißen. Es war allerdings gerade zu dieser Zeit, da sich meine Eltern von dem Gedanken an ein zweites Kind verabschiedet hatten, denn der kalte Krieg wurde allmählich bedrohlicher, und meine Eltern, die sich in der Kampagne gegen den Atomtod engagierten, befürchteten das Schlimmste. Tatsächlich überboten sich die Großmächte, allen voran die USA und die Sowjet-Union, nahezu wöchentlich damit, immer neue, immer größere Atom- und Wasserstoffbomben zu zünden, und zwar – wie damals noch üblich – in der Atmosphäre. Dies führte zu einer Gefährdung schon in Friedenszeiten, nämlich durch den radioaktiven Fallout, den weltweiten Niederschlag radioaktiver Isotope.

Am 9. Dezember war es so weit, meine Mutter war ins Krankenhaus gekommen. Im Gegensatz zu mir sechs Jahre zuvor wurde meine Schwester nicht zuhause geboren, sondern im Hanauer Stadtkrankenhaus. Mittags kam der Anruf: ja, ich habe ein Schwesterchen. Dann fuhren wir, Heinz, die liebe Großmutter und ich, ins Krankenhaus, sahen meine Mutter und das winzige Baby, eine kleine, schutzbedürftige Grasmücke!

Zur Feier des Tages fuhren wir mit dem Taxi nach Hause. Ich war noch nie mit dem Taxi gefahren, und mein Vater entlohnte den Fahrer für die Fahrt von der Kreisstadt Hanau in das Industriestädtchen Großauheim mit einem riesigen Geldstück: 5 DM, er ließ sich nicht einmal Wechselgeld heraus geben!

Einige Tage später kam auch meine Mutter nach Hause – nicht jedoch die kleine Grasmücke. Das Kind hatte einen Geburtsfehler, eine sog. Gaumenspaltung, konnte nicht normal ernährt werden, vertrug aus physischen Gründen weder eine Milcheinspritzung aus der Mutterbrust noch aus einem herkömmlichen Fläschchen. Das Phänomen der Gaumenspaltung trat damals leider sehr häufig auf, viel häufiger als zuvor und jemals später. Diese Häufung ist vermutlich auf die damals hohe ionisierende Strahlung zurück zu führen, die durch die Atomtests in der Atmosphäre verursacht wurden.

Mitte Januar gingen wir wieder ins Krankenhaus: zur Nottaufe, das Ableben meiner kleinen Schwester war in den nächsten Stunden zu erwarten. Wir bekamen das Baby, das jetzt, nach sechs Wochen, leichter war als bei der Geburt, zum Sterben mit nach Hause. Mir wurde das damals natürlich so nicht gesagt.

So begann das Jahr 1958. Meine Mutter sagte später, wenn ihr jemand zu Anfang des Jahres gesagt hätte, dass wir „in diesem Jahr noch einen Sarg in das Haus bekämen, ich hätte nur genickt und gesagt, wir hätten nicht mehr für den Säugling tun können“. So erzählte es mir meine Mutter später unter Tränen. Nie hätte sie erwartet, dass das Kind überleben würde und dafür ihr Ehemann stürbe. Dafür? Möglicherweise glaubte sie, dass die Gebete ihres Ehemannes erhört wurden, dass er sich lieber opfern würde, wenn nur das Kind lebe.

Auf jeden Fall starb über das Jahr mein Vater, während die kleine Grasmücke überlebte. Das Mädchen wurde mit einem Fläschchen mit Spezialschnuller gefüttert, denn es bestand immer die Gefahr, dass Nahrung aufgrund der Gaumenspaltung in die Lunge geriet, dort vereitere und das Kind umkäme. Eine Operation sei derzeit nicht möglich, erst in zwei bis drei Jahren, wenn Grasmücke dann noch lebe.

Meine arme kleine Schwester. Die ersten sechs Wochen ihres Lebens, die so wichtigen, verbrachte sie nicht bei ihrer Mutter und ihrer Familie, sondern im sterilen Krankenhaus. Man kann sich vorstellen, was das für Wirkungen auf die Empathie dieses armen Säuglings gehabt haben musste. Um so mehr freuten wir uns, sorgten wir uns, um das kleine Mädchen, als es endlich nach Hause kam. Doch schon nach wenigen Monaten wurde ihr die Mutter erneut entrissen. Das Sterben meines Vaters, von Heinz, oder besser gesagt: Ruths hoffnungsloser Kampf um sein Überleben, erforderte jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit. Doch dieser Kampf war vergebens. Ruth fiel in ein Loch, wurde depressiv, sah sich als vom Leben betrogen an, zog sich in sich selbst zurück.

Das hatte natürlich Auswirkungen auf uns Kinder. Ich war verzweifelt, suchte Aufmerksamkeit, indem ich herumalberte und skurile Sachen sagte. Grasmücke konnte die Probleme nicht sprachlich verarbeiten. Sie stand plötzlich nicht mehr im Mittelpunkt. Frieda, die liebe Großmutter, sorgte jetzt für die kleine schutzbedürftige Grasmücke.

Erst ganz allmählich kehrte in Laufe der nächsten Jahre wieder so etwas wie Normalität in die Familie ein. Aber Ruth war dabei weiter depressiv, reizbar, fühlte sich vom Leben verraten (bgl. Szene 017). Psychologische Betreuung gab es damals noch nicht. Im Sommer 1960 machten wir alle, meine Mutter, beide Großmütter, Grasmücke und ich einen Urlaub am Alpenrand, bei Kiefersfelden. Es war ein wunderschöner Urlaub, der erste gemeinsame Familienurlaub nach dem Tod meines Vaters. Er sollte nach dem Willen meiner Mutter für Grasmücke besonders schön sein, denn bald danach würde sie ins Krankenhaus kommen. Das Mädchen war damals noch keine drei Jahre alt.

Grasmücke wurde ins Frankfurter Bürgerhospital gebracht, wo sie die für kleine Kinder unvorstellbar lange Zeit von sechs Wochen verbringen musste. Doch das Schlimmste dabei waren die Umstände, wie man damals mit kleinen Kindern umging. Grasmücke wusste nicht, worauf sie sich einlässt und ihr gegenüber durften auf Anweisung der Ärzte auch keine Andeutungen gemacht werden. Meine Mutter gab das fröhliche, den Erwachsenen vertrauende Kind dort ab. Die Chefärztin, Prof. Dr. Mahler, nahm sie in Empfang und sagte zu Grasmücke: „Weißt du, wir lassen die Mama jetzt einmal hier, und ich zeige dir, wie es bei uns in diesem großen Haus aussieht.“ Grasmücke ging freudig mit der ihr fremden Frau mit – ganz ohne zu fremdeln. Was danach geschah, weiß niemand genau. Grasmücke kann sich nicht erinnern und von uns war niemand dabei.

Die Operation war erfolgreich, aber das kleine Kind musste weitere sechs Wochen in der Klinik bleiben. Wir durften nicht zu ihr. Es hieß, das Wiedersehen würde dazu führen, dass das Kind zu ihrer Mutter wolle und bei deren Weggehen schreien würde. Dadurch würden die Operationsnähte wieder aufplatzen, die Folgen könnten katastrophal sein. Zwar fuhren wir zweimal wöchentlich ins Bürgerhospital nach Frankfurt, aber wir durften nicht zu meiner Schwester. Lediglich durch ein kleines abgedunkeltes Fenster konnte Mutter in das Krankenzimmer sehen, wo zahlreiche Kleinkinder lagen. Grasmücke war am Bett fixiert. Sie hatte Arm-Manschetten an, damit sie sich nicht ins Gesicht fassen konnte, außerdem war sie festgebunden, fixiert. Damit sie nicht immer schrie, war sie vermutlich auch mit Psychopharmaka sediert.

Die Tortur hielt sechs Wochen an, dann bekamen wir Grasmücke zurück. Aber das Kind, das jetzt wieder bei uns einzog, war nicht mehr das fröhliche Mädchen von unserem Sommerurlaub in Kiefersfelden. Grasmücke hatte sich verändert, sie war misstrauisch geworden, hielt Distanz zu allen: zu ihrer Mutter, zu mir, selbst zur lieben Großmutter. Sie wollte sich auf nichts mehr einlassen, witterte überall unbekannte Gefahren, war störrisch geworden. Die ärgsten Phänomene gingen zwar in der nächsten Zeit zurück, aber ein lebensbestimmendes Trauma war zurück geblieben. Das kindliche Urvertrauen war zerstört worden. Grasmücke bekam jetzt zwar Sprachunterricht bei einer Logopädin, aber für die Psyche des armen Mädchens wurde nichts getan.

Ich selbst war in den folgenden Jahren der mütterlichen Projektion ausgesetzt: ich sollte die Erfolge haben, die sie ursprünglich mit meinen Vater erreichen wollte. Nach dessen Tod war ich Gegenstand dieser Wunschvorstellungen. Ich habe an anderer Stelle darüber berichtet (Szene 017). Ich war selbst hohem Druck ausgesetzt. Und meine kleine Schwester war natürlich diejenige, die in der Hackordnung noch unter mir stand. Ich gab Druck weiter. So wie von mir Perfektion erwartet wurde, so übernahm ich das Verhaltensmuster und gängelte dementsprechend die arme kleine Grasmücke. Das geschah natürlich nicht bewusst, oder um dem Kind zu schaden. Genau so wenig, wie meine Mutter ihr oder mir schaden wollte.

Es wundert nicht, dass Grasmücke baldmöglichst von zu Hause wegwollte. Mit 15 Jahren zog sie nach Wiesbaden, zu einer schulischen Ausbildung, wenig später ging sie nach Berlin. Sie hatte da bereits eine andere seelische Heimat gefunden. Sie vertraute auf Gott, hatte sich den Zeugen Jehovas angeschlossen.

Und Grasmücke machte auch aus ihrer Ablehnung gegenüber ihrer Herkunftsfamilie keinen Hehl. Ruth, unsere Mutter, fühlte sich besonders getroffen, als Grasmücke dann erklärte, Lieselotte, eine Vereinskameradin aus unserem Stiefo-Verein, sei jetzt ihre „Bezugsperson“. Ruth fühlte sich als Mutter abgelehnt, zurückgewiesen, obwohl sie doch alles tat, um Grasmücke zu helfen, hatte ihr die teure Ausbildung in Wiesbaden finanziert. Hatte ihr ein Auto gekauft, den „Grünett“, einen grünen Kadett. Genauer gesagt: das Auto lief zwar auf Ruths Namen, aus steuerlichen Gründen, es gehörte aber Grasmücke.

Einige Zeit nachdem Grasmücke dann nach Berlin gezogen war, bekam Ruth einen Brief des Berliner Ordnungsamtes: das Auto würde seit geraumer Zeit ohne Nummernschilder an der Straße stehen, sei nun abgeschleppt und verschrottet worden und Ruth hätte die Kosten zu tragen. Sie rief Grasmücke an und bekam zu hören: „Wieso, was hab´denn ich damit zu tun, ist doch dein Auto, Mutter.“ Das war das, was meine Mutter am schwersten traf. Sie versuchte alles für ihre Tochter zu tun und kam sich ausgenutzt vor, abgeschoben, „nur als Melkkuh“ wie sie es formulierte. Es war sehr tragisch, wie eine Mutter-Tochter-Beziehung meines Erachtens aufgrund einer frühkindlichen traumatischen Erfahrung zerrüttet war, und wie darunter beide litten. Doch das Tischtuch war zerschnitten.


1978 starb unsere Mutter, Grasmücke war damals gerade zwanzig. Und wann immer ich später meine Schwester traf, erschrak ich. Zwar lehnte Grasmücke ihre Mutter weiter ab, doch wann immer ich sie sah – und das war leider nur im Abstand von Jahren – fand ich, dass sie ihrer Mutter ähnlicher und ähnlicher wurde. Ihre Art zu sprechen und zu scherzen, ihre Bewegungen, selbst einige rein physische Dinge: wenn ich Grasmückes Hände sah, sah ich die Hände meiner Mutter. Da war einerseits diese Ablehnung der Mutter in ihr, andererseits diese Ähnlichkeit – fast schien es mir: Parodierung – ihrer Mutter. Ich fragte mich, ob es das ist, was man meinte, wenn man früher von „Besessenheit“ sprach. Auf jeden Fall schien eine Art Fixierung auf Ruth Grasmücke zu beherrschen.

Wir können uns zwar von unseren Eltern lossagen, aber diese sind immer Teil von uns. Wir sind zusammengesetzt aus (1) genetischen Einflüssen, gewissermaßen genetischer Disposition, (2) aus dem, was die Sozialisation mit uns gemacht hat, und da ist bei Grasmücke der doppelte Krankenhausaufenthalt (direkt nach der Geburt und als Kleinkind) besonders prägend, und natürlich (3) aus unserem karmischen Gepäck.

Nach dem Tod meiner Mutter erbte Grasmücke das Haus, das Ruth Anfang der 60er Jahre gebaut hatte. Grasmücke verkaufte das Haus, kaufte sich ein anderes in Berlin, das Geld zerronn ihr unter den Fingern – vielleicht war es auch so, dass sie die ererbten Werte einfach innerlich ablehnte, stammten sie doch aus der von ihr als feindlich angesehenen Familie.

Grasmückes Ehe war nur von kurzer Dauer. Bei den wenigen Malen, wo ich ihren Ehemann traf, hatte ich immer den Eindruck, dass sie mit ihm haargenau so umging, wie meine Mutter mit mir und wie ich mit Grasmücke, damals Anfang der 60er Jahre. Als würde sie hier ein erfahrenes Fehlverhalten reproduzieren – und natürlich hat sie damit das gleiche erreicht: dass er ihr so weglief, wie sie unserer Familie weggelaufen war.

Alle späteren Versuche von mir, Brücken zu bauen, eine geschwisterliche Beziehung wieder aufzubauen, sind leider gescheitert. Ich besuche sie alle paar Jahre, wenn ich gerade einmal in Berlin bin, aber sie hat meine Einladungen nach Frankfurt und Gelnhausen, wo ich wohnte, stets ausgeschlagen. Wobei dies auch gesundheitliche Gründe hat. Sie ist seit Jahren von vielerlei Krankheiten heimgesucht, bereits lange arbeitsunfähig. Ich würde ihr gerne irgendwie helfen. Ich weiß, dass ich irgendwann Teil ihres Problems war, aber es gelingt mir leider nun nicht, auch Teil der Lösung zu werden.

Erstaunlicher Weise ist das einzige, worüber wir uns recht gut austauschen können, alles, was mit Religiosität zu tun hat. Auch wenn wir da extrem unterschiedlich orientiert sind, sie bei den Zeugen Jehovas, ich bei der Buddhistischen Gemeinschaft Triratna, gibt es dort doch Anknüfungspunkte. Vielleicht erkennen wir nur auf diesem Gebiet den Wunsch des jeweils anderen, sich zu entwickeln und eine ethische Grundlage für die eigenen Handlungen zu haben.

Es ist schön zu wissen, dass sie für mein Seelenheil betet. Und ich für meine Teil hoffe darauf, dass es ihr irgendwie noch in diesem Leben gelingt, ihre (Zwangs-)Konditionierung teilweise zu überwinden. Auf jeden Fall aber, dass davon so wenig wie möglich über dieses Leben hinaus erhalten bleibt.



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