Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 15.1.2020

Szene 36 – Jayacitta und die FWBO – 1996



Ich suchte nichts Exotisches, ich suchte den Dharma, die Lehre, suchte Übungsschritte um mich spirituell entwickeln zu können. Es müsste doch auch etwas ohne diese ganze asiatische Kultur geben. Ich stolperte bei dieser Suche über einen Namen, der vielversprechend klang: Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens.“

So endete der Abschnit „Vom Wat und vom Otto“, die Szene 33. Ich war damals auf der Suche nach einer Sangha, einer buddhistischen Gemeinschaft, in deren Rahmen ich praktizieren konnte. Und in den ersten Tagen des neuen Jahres 1996 wollte ich dies endlich in Angriff nehmen. Da ich in meiner unmittelbaren Nähe nicht wirklich zufriedenstellend fündig geworden war, machte ich mich bundesweit auf die Suche. Ich dachte mir, ein Retreat, ein Meditationsseminar, müsste wohl das Richtige für mich sein, und hatte mir vorgenommen, in diesem Jahr zu finden, was ich suchte.


Von den bestimmenden Lehrern her schien mit die Richtung von Ayya Khema im Allgäu das Richtige zu sein, oder die Gruppen, die sich an dem vietnamesischen Lehrer Thich Nhat Hanh orientierten. Auch das „Internationale Netzwerk engagierter Buddhisten“ klang toll, jedoch stellte sich heraus, dass dieses eine Vernetzung von Personen aus verschiedenen Sanghas war, keine eigene Sangha. Oder eben die FWBO, die „Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens“. An dieser Gruppierung zog mich nach meinen bisherigen Erfahrungen besonders das „westlich“ an. Ich schrieb also einen Brief an die Adresse, die in den „Lotusblättern“, der Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union, angegeben war: FWBO, 45127 Essen, Herkulesstraße 13 a. Man schrieb damals noch Briefe. Internet und E-Mail begannen gerade erst ihren Siegeszug und waren noch keineswegs Standard.

Ich bekam auch umgehend Antwort: Das Beste sei, ich käme einfach einmal vorbei, in zwei Wochen, am Samstag, dem 27. Januar, sei ein Tag der Offenen Tür. Ich solle um 10 Uhr da sein, dann könne ich gleich eine Einführung in die dort geübte Meditationstechnik bekommen. Ich sah in meinen Kalender. Samstag 10 Uhr in Essen ist ja reichlich früh. Und am Tag davor hatte ich eine Abendveranstaltung, die Jahreshauptversammlung unserer regionalen Gliederung des VCD, des alternativen Verkehrsclubs Deutschland. Ich war dort bislang Vorsitzender und schickte mich gerade an, dieses Amt – wie so viele andere auch – abzugeben, um mich mehr um meine religiöse Praxis kümmern zu können. Das könnte ein langer Abend werden. Gerade deshalb hatten wir ja auf Freitagabend terminiert, da könnten alle am nächsten Morgen ausschlafen.

Wie auch immer: die FWBO kennen zu lernen, war mir wichtig, also ging ich zum Bahnhof, um eine Fahrkarte zu kaufen. In Großauheim gab es damals bereits keinen Fahrkartenschalter mehr, also kaufte ich die Fahrkarte in Gelnhausen – denn „online“ war damals noch nicht. Und was ich dort erfuhr war besonders herb: Abfahrt 4.49 h morgens. Egal, jetzt galt´s!

Leider zog sich die Veranstaltung des VCD bis spät in die Nacht, es wurde 1.30 h morgens, bis ich endlich ins Bett kam – und mir brummte der Schädel. Nur gut zwei Stunden später, um 4 h in der Frühe klingelte unbarmherzig der Wecker. Rasch zog ich mich an und ging zum Großauheimer Bahnhof, doch schon auf dem Weg dorthin bereute ich, dass ich – wie üblich – meine Birkenstocks angezogen hatte. Die offenen Schuhe erwiesen sich nur als mäßig geeignet, denn es herrschte Schneeregen.

Ich stand auf dem eiskalten Bahnhof in Wind und Wetter und fragte mich, ob das nun wirklich klug gewesen sei. In mir stieg Ärger auf. Die nassen Füße, die Müdigkeit, mein brummender Schädel, unausgeschlafen, Ärger. Das alles ließ Kopfschmerzen aufkommen. Zwar versuchte ich unterwegs etwas zu schlafen, doch es stellte sich kein erholsamer Schlaf ein. Rückenschmerzen vielmehr, die über die Wirbelsäule mit meinen Kopfschmerzen korrespondierten.

Ich holte das Faltblatt, das mir die Leute von den FWBO geschickt hatten, heraus, sah mir die nächsten Veranstaltungen an: „Milarepa – Tibets großer Heiliger, Dichter und Sänger der 1000 Lieder“, und „Padmasambhava, genannt Guru Rimpoche, der den Buddhismus Tibet brachte“. Mir grauste: wieder dieser asiatische Kulturkram. Von Padmasambhava wusste ich, dass er den Dämonenkult in den Buddhismus einbrachte. Auch das noch!

In Essen angekommen machte ich mich auf den Weg zum Buddhistischen Zentrum, das nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt ist, im Prinzip nur der Hollestraße nach. Die Hollestraße ist offensichtlich nicht nur bezeichnenderweise nach Frau Holle benannt, sondern auch die stürmischste Straße der Republik: Schneeregen im Sturm. Schon nach 100 m war mein Schirm zerfetzt. Ich versuchte auf der schneematschigen Straße nicht auszurutschen, der Sturm war mein Gegenspieler. Und all das nur um wieder Padmasambhava-Verehrern zu begegnen! Übermüdet, durchgefroren, mit nassen Strümpfen und durchgeweicht vom Scheeregen kam ich im BZE (Buddhistisches Zentrum Essen) an. Man hat mich selten schlechterer Laune gesehen.

Eine junge Frau öffnete mir die Tür, und aus mir ergoss sich die ganze aufgestaute Negativität dieses Morgens: „Da quält man sich bei diesem Scheißwetter, die halbe Nacht hierher, um nur wieder Padmasambhava und ähnliche Tibeter vorgesetzt zu bekommen. Hätte ich mir nur nicht gleich die Fahrkarte gekauft. Und dann auch noch diese stürmische Straße. Ich würde am liebsten gleich wieder gehen und ins Bett!“

Mit einem solchen - oder ähnlichen - Wortschwall konfrontierte ich die junge Frau. Doch erstaunlicher Weise reagierte sie nicht so, wie Menschen gewöhnlich reagieren, wenn man sie anschnautzt. Sie sagte: „Komm erst mal rein, du bist ja ganz durchgefroren. Du brauchst keine Angst zu haben, hier sind keine Tibeter. Wir geben uns nur so seltsame Namen, mich nennt man hier beispielsweise Jayacitta, bin aber aus dem Ruhrpott, wie man hört. Am besten du ziehst dir erst mal die Birkenstocks aus und die Strümpfe auch. Schau, hier haben wir ganz warme, trockene Socken. Nimm dir ein Paar und dann holst du dir erst mal einen heißen Tee, du bist ja ganz durchgefroren.“

Wow! So liebevolle, einfühlende Worte hatte ich in den letzten Jahren selten gehört. Und das, obwohl ich sie so angeblufft hatte. Es scheint hier schon ein besonderer Geist zu wehen... Mein Ärger löste sich recht schnell auf.

Dann bekam ich eine Einführung in die Meditation. Anschließend gab es einen Vortrag zum Thema „Erleuchtung“. Der Referent hieß Shantipada, und er erinnerte mich von seinem Habitus und seinen Gesichtszügen an Erich, einen der Leute aus dem ÖkoBüro. Erich arbeitete in einer Gruppe namens „Radikale Linke“, und wenn er redete, klang er auch genau so radikal. Aber dieser Shantipada schien so etwas wie die weichgespülte Variante von Erich zu sein, wie ich im Laufe des Tages feststellte. Schon erstaunlich, was diese FWBO aus Menschen macht.

Noch erstaunlicher war die Tatsache, dass Shantipada zugab, dass er Schwierigkeiten hatte, etwas gutes Neues zu dem Thema „Erleuchtung“ beizutragen. Er verwies darauf, dass es dazu einen Aufsatz von Sangharakshita gäbe, der so viel besser sei, als alles, was ihm selbst dazu einfiel. Daher habe er sich entschlossen, statt eines eigenen Vortrages einfach den Aufsatz von Sangharakshita vorzulesen. Das fand ich erstaunlich. Ich hatte in den letzten zehn Jahren zahllose Vorträge und politische Reden gehalten, hatte dabei immer mein Ego aufgeblasen, und dieser Mann schien ganz egolos an die Sache heranzugehen, lobte statt dessen einen anderen, der das viel besser könne als er, eben diesen Sangharakshita.

Hinterher gab es auch hier ein Buffett, aber das war ganz anders als bei den Thai-Buddhisten in Langenselbold (vgl. Szene 033) Es war ein rein vegetarisches Buffett! Hier gehöre ich her, stellte ich fest; das ist das, was ich gesucht hatte.

Anschließend saß ich mit einigen anderen Leuten in einer Art Lounge zusammen, Jayacitta und Shantipada waren auch da. Ich lobte das vegetarische Mahl und erzählte, dass ich auch Vegetarier sei und mir auch extra Hühner angeschafft hätte, da ich keine Eier aus der tierquälerischen Massentierhaltung essen wollte. (Damals gab es noch keine Kennzeichnungspflicht für Eier, und auf die mündlichen Angaben der Händler konnte man sich leider nicht verlassen.)

Jayacitta stimmte mir zu: ja, es sei gut auf solche Eier zu verzichten – und auf Schokolade. (Vielleicht war das eine leichte Anspielung auf meinen Bauch?) „Warum denn auf Schokolade?“ fragte ich erstaunt.

Nun, in Schokolade ist Milch und die Milch kommt in der Regel auch aus der tierquälerischen Massentierhaltung, darauf vezichte ich, und auch ganz auf Milch und Milchprodukte, ich bin Veganerin“, sagte Jayacitta. Das war damals nicht nur noch nicht Mode. Ich hörte das Wort „vegan“ an diesem Tag in der Tat zum ersten Mal. Die schienen hier tatsächlich weiter zu sein, als die fortgeschrittensten Leute, die ich bei den Grünen kannte.

Bis dahin hatte ich gedacht, man könne gar nicht auf Milchprodukte verzichten, gewisse tierische Eiweiße brauche man. Mir wurde schlagartig klar, dass ich damit offensichtlich der Propaganda der Bauern- und Milchlobby auf den Leim gegangen war. Diese Jayacitta war nicht nur ausgesprochen schön, sie strotzte auch geradezu vor Gesundheit und strahlte eine derartige Wärme aus, wie ich es von einer „verbissenen Asketin“ absolut nicht erwartet hatte. Hier war ich richtig. Hier waren Leute, die ethisch fortgeschrittener sind als ich, deren Praxis weiter entwickelt ist. Herrlich!

Man redete den Leuten aber keineswegs nach dem Mund. Ich erinnere mich, dass Shantipada jemandem, der Abtreibung befürwortete, zwar verbindlich in der Sprache und mit freundlichen Worten, aber sehr engagiert und deutlich in der Sache, vorhielt, dass dies eine Haltung sei, die Respekt vor dem Leben vermissen lässt, und dass dies ethisch falsch und karmisch unheilsam sei.

Ich schaute anschließend noch in das Retreatprogramm der FWBO, denn inzwischen war ich mir sicher, dass ich mit genau solche Leuten meinen ersten Retreat machen wollte. Und da ich doch noch recht vorsichtig war, suchte ich nach einem kurzen Retreat, einem Schnupperretreat. Und ich fand etwas: einen Retreat über Ostern, beginnend am Donnerstagabend und endend am Ostermontag. Ich las auch, welche Ordensmitglieder diesen Retreat leiten würden: Shantipada und Jayacitta. Super! Ich meldete mich stante pede an und beglich auch gleich die Anzahlung.

Meine Suche schien zu Ende zu sein. Ich war angekommen. Hier wollte ich bleiben, wenn denn alles so lief, wie es in diesem Moment den Anschein hatte.

Ich habe diesen Retreat besucht und mich sofort für einen weiteren Retreat angemeldet, diesmal für 14 Tage. So war das am und nach meinem erster Besuch in Buddhistischen Zentzrum Essen. Es sollten viele weitere folgen. Zwei Jahre später erklärte ich, dass ich mir überlegt habe, ganz nach Essen zu ziehen. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass mein Berufsschullehrerdasein im beschaulichen Gelnhausen etwas anderes war, als im Ruhrgebiert arbeits- und perspektivlose junge Männer mit Migrationshintergrund zu domptieren. Nein, das wäre alles andere als positiv für meine Geisteszustände. Statt dessen erklärte ich meinen Freunden in Essen, dass ich unmittelbar nach meiner Pensionierung nach Essen ziehen würde.

Und wann ist das?“, wurde ich gefragt. Als ich antwortete, dass dies 2017, also rund 20 Jahre später sei, winkte man ab. Bis dahin könne alles Mögliche passieren.

SPBild oben : Shantipada im Meditationsraum in Frankfurt

JC v

links: Jayacitta

rechts: diesen Vortrag von Jayacitta könnt ihr euch im Internet anhören

Danke Shantipada!

Danke Jayacitta!


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