Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 8.1.2020

Szene 34 – Klaus Wölfling - 1967



Es war zu jener Zeit, als ich die Klasse 10 wiederholen musste. Natürlich war es alles andere als angenehm, in einer Schule, die sich als elitär versteht, als Wiederholer zu gelten. Meine ehemaligen Klassenkameraden besuchten die gymnasiale Oberstufe und ich kam nach meinem Scheitern in der Latein-Nachprüfung (vgl. Szene 009) in die Klasse meines ehemalgen Latein-Nachhilfelehrers, Dr. Havekoss:

Herr Gunkel, setzen Sie sich dorthin, da ist Platz, der Karl-Heinz, dieser Troglodyt, der vorher dort saß, ist auch abgestiegen, hehe, geht noch mal in die Obertertia – ähh – Klasse 9 heißt das ja jetzt wohl.“ Ich setzte mich auf den freien Platz. Mein Tischnachbar grinste mich an.

Havekoss: „Und ihr beide werdet bestimmt viel Spaß miteinander haben, der Herr Gunkel, den sie im Lehrerzimmer nur `Väterchen Stalin´ nennen, und der Klaus Wölfling, der allgemein als der letzte Nazi bekannt ist.“

Klaus blickte mich weiter schelmisch an, seine Augen funkelten, aber nicht etwa aus Hass, sondern aus einem obskuren Vergnügen heraus. „Tach, du Kommunist“, grinste er mich breit an. „Tach, du Faschist!“ antwortete ich. Klaus´ Grinsen war ansteckend. Wir waren beide 15, 16 Jahre, in einem Alter, in dem man noch gerne provoziert und sich abgrenzt. Der Zeitgeist wehte seit Neuestem von links. Als ich mit der Kommunistennummer begonnen hatte, war das noch nicht so, da konnte ich damit noch provozieren. Ich interpretierte das schelmische Grinsen des Wölflings unbewusst gefühlsmäßig so, dass da auch in ihm ein kleiner Provokateur am Werke war. Wir sahen uns weiter beide in die Augen. Thich Nhat Hanh würde sagen: „Die beiden blickten sich tief an, ganz tief“. Jetzt hielt mir Klaus die Hand hin: „Auf gute Feindschaft!“ sagte er. Ich schlug ein: „Das ist vielleicht der Anfang einer fabelhaft Gegnerschaft.“

In der Pause standen wir zusammen, klopften uns gegenseitig ab, zeigten beide, wo unsere jeweiligen Vorurteile lagen. Nachdem wir damit fertig waren, sagte er: „Okay, Horst, auf unser gemeinsames Jahr!“ Klaus hielt mir wieder die Hand hin. „Gut, Klaus, leben wir noch ein Jahr zusammen!“ Wir schüttelten uns nochmals die Hand. Klaus begann beim ersten Handshake zu zählen „Eins“ (die Hand ging dabei von oben nach unten). „Zwei!“ bei der zweiten Handbewegung kam unser Zählen schon wie aus einer Kehle. „Drei!“ mit einem strahlenden Grinsen besiegelten wir unsere Brüderschaft. Normalerweise wäre jetzt Schluss geworden. Aber wir beide machten weiter, ohne zu Zögern, als müsste das so sein: „Vier!“ und …

...wir hatten beide gleichzeitig im gleichen Bruchteil einer Sekunde mit dem Zählen gestoppt und sahen uns verwundert an. „Warum hast du bei Vier aufgehört“, fragte mich Klaus. „Weil die Vier meine Lieblingszahl ist!“ entgegnete ich selbstbewusst. „Komisch, meine auch! - Aber warum ist die Vier deine Lieblingszahl, alter Kommunist?“ „Naja, weißt du, die Drei wird immer genannt: aller guten Dinge sind drei usw. Die arme Vier ist der verkannte Prolet unter den Zahlen, wertvoller, doch kaum beachtet, `denn man sieht nur die im Licht, die im Schatten sieht man nicht´“ zitierte ich Bert Brecht.

Und die Fünf ist dann wieder prominenter, hat im lateinischen Rechensystem ein eigenes Symbol, wird bevorzugt, weil wir fünf Finger an einer Hand haben“, bestätigte Klaus meine Vorliebe mit Worten, wie ich sie nicht treffender hätte ausdrücken können. „Wir sollten definitiv noch ein Jahr zusammenleben.“ „Klar, zum Wohl aller Unterdrückten, einschließlich aller unterdrückter Zahlen.“

Das war der Beginn einer Freundschaft, die bis zum Abi hielt. Von diesem Tag an waren wir beide unzertrennlich. Kam ich ausnahmsweise einmal irgendwo allein hin, so wurde ich gefragt: „Horst, wo hast du denn heute deinen Schatten gelassen?“ Und erschien Klaus merkwürdigerweise irgendwo ohne mich, so hieß es: „Ist dein Zwillingsbruder krank?“

Allerdings beschränkte sich die Freundschaft irgendwie nur auf alles das, was eindeutig mit der Schule zu tun hatte. In der Freizeit waren unsere Interessen zu unterschiedlich. Ich war wissbegierig, nahm meine Freizeit als Gelegenheit zum Lesen und um Kurse an der Volkshochschule und anderen Bldungseinrichtungen zu besuchen. Mein Ziel war Weisheit. Klaus nutzte seine Zeit um Plastikmodelle von Panzern und Kampfflugzeugen zu bauen. Meine Mutter unterstützte meine Wissbegierde, sein Vater unterstützte seine Kampfeslust. Klaus´ Vater war, so hörte ich von meinem Freund selbst, ein ehemaliger Kampfbomber, ein in der Sowjetunion gesuchter Kriegsverbrecher. Jetzt arbeitete er für einen Rüstungskonzern im Verkauf - „Panzerfähren für die Arabern, damit der Judenstaat vernichtet werden kann!“, wie Klaus provokativ ausführte, nicht ohne ein Grinsen, das alles andere als ernsthaft aussah, mehr wie in einem Spiel, wenn man den richtigen Begriff genannte hatte. Was man so sagt, wenn man sich rechts gibt und provozieren will, aber in Wirklichkeit ein Typ ist, der Ungerechtigkeiten so hasst, dass er sich sogar für die vernachlässigte Zahl Vier einsetzt.

Irgendwann beschlossen wir gemeinsam die Philosophie-AG der Hohen Landesschule zu besuchen, die begann donnerstags um 15 h. Schulaus hatten wir um 11 h, also blieben uns dazwischen volle vier Freistunden. Da wir beide nicht in der Schulstadt Hanau wohnten, lohnte sich der Heimweg praktisch nicht. Also nahmen wir unser Mittagsmal – Pommes mit Ketchup für 60 Pfennig – gemeinsam in einer nahe gelegenen Imbissstube ein, dem Löwenquick. „Löwen“ weil sie Münchner Löwenbräu hatten, „Quick“ weil es ein Imbiss war. Ich taufte das Löwenquick - blöder Name - um in „Himbi-Quiek“, nach der Sprache meines Meerschweinchens Himbi Moloch (vgl. Szene 005). Klaus schaute skeptisch. „Himbi for President“, skandierte ich. „Himbi for Bratenspieß“ provozierte Klaus.

Es gab im Himbi-Quiek allerdings auch einen Flipper, also einen dieser in den 60er und 70er Jahren besonders beliebten Spielautomaten ohne finanzielle Gewinnchance. Man konnte allerdings Freispiele gewinnen. Wir entwickelten uns zu wahren Meistern. Selbstverständlich tranken wir dazu Bier, Löwenbräu, 0,5 l zu 60 Pfennig. Und weil uns das häufige Bestellen allmählich lästig wurde, gingen wir zum Wirt: „Sagen Sie, kann man bei Ihnen die Biere eigentlich auch abonnieren?“ Erst war er skeptisch. Aber bald hatte es sich recht gut eingespielt und er brachte uns alle 20 Minuten zwei Halbe. Es wird nicht verwundern zu hören, dass wir ausgezeichnet wortreiche und spitzfindige Diskussionsbeiträge in den anschließenden Philosophieunterricht einbrachten. Der arme Philosophielehrer Herr Müller, der uns zu ertragen hatte. Wir aber waren immer heiter – und immer sichtlich angeheitert.

Mitunter philosophierten wir auch im Himbi-Quiek, vor allem dann, wenn der Flipper besetzt war. Wir beschäftigten uns unter anderem mit Karma, aber auch mit dem Leben nach dem Tod. Wir fanden das ein ziemlich spannendes Thema, allerdings für uns als angehende Wissenschaftler auch reichlich spekulativ. Ich wies darauf hin, dass der spätere Papst Johannes XXIII. – alle guten Kommunisten pflegten Kirchenfürsten zu zitieren – sich mit seinem Jugendfreund genau darüber auch gestritten hatte, und sie vereinbarten, dass der erste von beiden, der stirbt, dem anderen ein Zeichen geben sollte, wenn es ein Leben nach dem Tode gäbe. Johannes war inzwischen Papst geworden und hatte die Verabredung längst vergessen, als sein Freund starb. Er hatte zu diesem Zeitpunkt auch schon lange nichts mehr von ihm gehört. Eines Nachts konnte der Papst in seinem Gemach im Vatikan nicht einschlafen, weil es dauernd klopfte. Er erkundigte sich am nächsten Morgen, was denn die Ursache dieses Lärms gewesen sei und stellte verwundert fest, dass niemand das wusste, ja, dass außer ihm niemand dergleichen gehört hatte. Im Laufe des Tages erfuhr er dann vom Tod seines Freundes.

Klaus und ich waren uns einig, dass das längst keine Beweis sei, sondern genau so gut Propaganda sein konnte, schließlich lebt die Kirche davon, dass die Leute an ein Leben nach dem Tod glauben. „Aber der Versuchsaufbau war gut,“ erklärte Klaus. „Meinst du, wir sollten...?“ „Klar!“ Wir bekräftigten die Abmachung mit vierfachem Händedruck und einem Bier auf Ex.

Überhaupt Religion! Wir waren beide katholisch getauft und besuchten gemeinsam den Religionsunterricht. Und natürlich waren wir beide in Opposition zur katholischen Kirche und zum Reli-Lehrer sowieso. Unser damaliger Religionslehrer war Pfarrer Trost. Toller Name für einen Pfarrer - auch wenn wir beide der Meinung waren, der Pfarrer sei nicht mehr ganz bei solchem. Natürlich gaben wir überall Contra. Was wollte dieser Himmelskomiker uns auch mit solchen Dingen wie der jungfräulichen Empfängnis Mariens vermitteln?! Selbstverständlich entwickelten Klaus und ich unsere eigenen Theorien in dieser Sache, spielten uns in der Diskusssion gewissermaßen die Bälle zu, verstiegen uns in teilweise absurde, pseudologische Argumentationen, die Begründungszusammenhänge des trostlosen Pfarrers imitierend. Schließlich bat uns der Gottesmann nach dem Unterricht zum Gespräch: „Euch beide will ich hier nicht mehr sehen, meldet euch einfach vom Religionsunterricht ab! - „Nee, Herr Pfarrer, sonst kommen wir womöglich nicht in den Himmel“, entgegnete ich. - „Kein Fach ist so lustig wir Ihres, und da kann man so trefflich argumentieren“ strahlte Klaus den Schwarzbeanzugten an. „Ich sage euch eines“, begann der Gottesmann zu drohen: „wenn ihr euch nicht vom Religionsunterricht abmeldet, gebe ich euch eine Fünf in Reli. Wenn ihr euch aber abmeldet, gebe ich euch eine Zwei. Und wenn ihr beide noch aus der Kirche austretet eine Eins! Überlegt es euch. Mir ist es ernst.“

Klaus und ich überlegten im Himbi-Quiek, was wir tun sollten. „Austreten ist mir zu umständlich, da muss man zum Gericht“, sagte ich. „Und Abmelden finde ich blöd, ich kneif doch nicht vor dem Himmelskomiker“, meinte Klaus.

„Wieso, der gibt uns echt ´ne Fünf. Und statt dessen könnten wir in der Zeit uns mal den Laden der Evangelen ansehen oder wir gehen in den zusätzlichen Freistunden ins Himbi-Quiek.“ Wir waren uns diesmal leider nicht einig. Ich meldete mich ab – und bekam tatsächlich eine Zwei. Klaus, der alte Trotzkopf, blieb im Reliunterricht. Und dieser unselige Pfarrer gab ihm doch wirklich eine Fünf – bei der gleichen Leistung wie ich sie hatte.

Schon bald hatten wir übrigens ein eigenes Begrüßungsritual. Wenn wir uns morgens auf dem Schulhof erstmals an diesem Tag über den Weg liefen, so stürmte der später Eintreffende freudestrahlend auf den anderen zu und zeigte den Römischen Gruß – die rechte Hand erhoben wie ein römischer Legionär. Das war eine Handhaltung auf die wir uns einigen konnte. Die offene Hand war ein Friedenszeichen, allerdings erinnerte die geöffnete Hand auch an den Deutschen Gruß... andererseits war die Haltung des Armes, also der abgewinkelte Ellbogen, die gleiche Handhaltung wie beim Rot-Front-Gruß. Also irgendwie ein guter Kompromiss.

So gingen wir also immer morgens im Schulhof vor all unseren Mitschülern strahlend aufeinander zu: „Pax tecum!“ sagte der erste und „Der Friede sei mir dir!“ der andere, dann gab es den vierfachen Handshake – mit lauten Zählen: Eins, zwei, drei, vier! So ging das drei Jahre lang jeden morgen, bis...

ja, bis das letzte Schuljahr angebrochen war. Die Hohe Landesschule war nunmehr keine reine Jungenschule mehr – Koedukation hieß das Schlagwort der Zeit. Ich war an diesem Morgen im Gespräch mit Britta, einem der beiden Mädels, mit denen ich am liebsten die Schule schwänzte, als Klaus strahlend ankam: „Pax tecum!“ Ich unterhielt mich weiter, reagierte gar nicht auf meinen Freund. Klaus nahm wohl an, ich hätte ihn nicht bemerkt. Er baute sich vor mir auf: „PAX TECUM!“ - „Mann, ich bin gerade im Gespräch, siehst du das nicht!“ ließ ich ihn abblitzen. Unser früheres Ritual kam mir doch jetzt allmählich wie pubertärer Jungskram vor.

Klaus war verletzt. Ich bemerkte dies und es tat mir Leid. Am nächsten Morgen ging ich versöhnlich auf ihn zu: „Pax tecum!“ Klaus sah mich an, kein Grinsen, kein schelmisches Lächeln. Da war nur Enttäuschung und ein Anflug von Verbitterung in seinem Blick. „Du hast es kaputt gemacht“, sagte er, drehte sich um und ging. Nein, wir waren jetzt nicht etwa verfeindet, aber unsere Blutsbrüderschaft bestand nicht mehr. Und damit hatte ich auch wirklich diese tiefe Freundschaft beendet, was ich damals allerdings gar nicht so sehr bedauerte, Mädchen waren inzwischen viiiiiiel interessanter. Klaus fühlte sich irgendwie abserviert, was mir allerdings damals gar nicht auffiel. Meine Achtsamkeit war jetzt auf andere Objekte gerichtet, was wohl hormonelle Ursachen hatte.

Die Schulzeit ging zu Ende, das Abi nahte. Es war das Jahr 1971, viele alte Konventionen waren gefallen, doch beim Abi hatten alle Mitschüler Muffensausen. Zunächst waren wir uns einig: wir laufen doch nicht ´rum wie die Faschingskasper und ziehen uns anders an, nur weil Abi ist. „Kein schwarzer Anzug, keine Krawatte“, dieses Ziel wurde ausgegeben. Was heute als völlig normal galt, war damals noch immer ein ungeheurer Affront. Also verabredeten sich alle Jungs, die „links“ waren, ohne Anzug und Krawatte zum Abitur anzutreten. Alle außer mir.

„Ich werde es machen wie ihr – ich ziehe mich auch nicht besonders an, sondern wie immer“, erklärte ich. Dazu muss man wissen: ich trug damals in der Schule immer Anzug, Krawatte, Hut, Regenschirm, eine Taschenuhr mit goldenem Kettchen und eine Krawattennadel mit einem Brillanten. Das war meine Art Nonkonformismus, weil alle anderen Jeans anhatten. Und in meinem reichlich overdressten Outfit ging ich auch auf Demos und zu sit-ins. Klar, ich war immer Nonkonformist, hob mich von dieser informellen Uniformierung des Zeitgeistes ab. Ich hatte auch nicht diese Beatles-Frisur, wie alle anderen, sondern einen Kurzhaarschnitt: 1 cm kurz! Meine Entscheidung, konsequenterweise auch wie sonst mit Anzug und Krawatte zu erscheinen, fand allgemein Respekt. Aber alle anderen Linken wollten ohne Krawatte und Anzug zum Abi kommen. Sagten sie.

Der Abitag kam. Ich kam natürlich mit Anzug und Krawatte. Jackie, ein Wortführer der Linken, zeigte sich als politisch besonders geschickt. Er trug eine schwarze Hose und ein schwarzes Jackett in etwas unterschiedlichem Schnitt, also keinen Anzug...naja. Außerdem trug er zwar keine Krawatte, aber einen adretten weißen Rollkragenpullover. Das war geschickt, denn Dr. Havekoss, unser Klassenlehrer, und Dr. Haseloff, unser Schulleiter, waren damals beide in der SPD. Und just in der vergangenen Woche war Helmut Schmidt in genau dem gleichen weißen Rollkragenpullover und dunklen Sakko an der Rednerpult des Bundestages getreten. Damit hatte sich Jackie zwar formal an die linke Übereinkunft gehalten, aber was Helmut Schmidt im Bundestags trug, musste man natürlich auch einem Abiturienten durchgehen lassen, zumindest wenn man ein SPD-Parteibuch in der Tasche hat. Und alle unsere anderen Linken? - Sie haben alle, alle gekniffen: kamen alle in Anzug und Krawatte. Die Lehrer grinsten – und alle diese Schüler bestanden das Abi.

Ein einziger Schüler war wie immer gekommen, nicht verkleidet und auch nicht im Anzug. Kein Linker. Der einzige, der dem linken Aufruf gegen das Establishment gefolgt war, war Klaus Wölfling. Und was machte daraufhin diese Mischpoke von einem Lehrerkollegium? Sie ließen Klaus durchfallen. Als einzigen! Obwohl er immer ein durchschnittlicher Schüler war.

Klaus kam auch zur Abifeier. Wir wussten beide, dass dies unsere letzte gemeinsame Veranstaltung war. So sehr wir uns auch im letzten Schuljahr auseinander gelebt hatten, an diesem Tage zelebrierten wir noch einmal unsere alte Blutsbrüderschaft – wenn auch ohne Begrüßungsritual. Wir feierten in einer Scheune in Kahl. Irgendwann nach Mitternacht waren dann alle nach Hause gegangen. Ich war als der bekannt, „der auf Veranstaltungen und in Kneipen immer den Vorletzten gehen sieht“.

Diesmal sah es so aus, als würde ich nicht den Vorletzten gehen sehen, sondern wir beide, Klaus und ich, würden das gemeinsam aussitzen. Wir saßen da und tranken die Reste aus. Irgendwann wurde es hell. Uns war jetzt verdammt kalt. Wir mussten noch nach Hause, ich mit dem Himbomobil, meinem Käfer, Klaus mit dem Motorrad. Gut dass wir Fahrzeuge dabei hatten, denn laufen konnten wir kaum noch bei dem wenigen Blut im Alkohol. Das Motorad wollte nicht anspringen. Was jetzt? „Anschieben?“ fragte Klaus. „Nö, Anziehen! Ich zieh dich mit dem Himbomobil, und du versuchst den Gang kommen zu lassen.“

Das war eine echte Schappsidee! Zumal mir einfiel, dass man beim abschleppenden Fahrzeug das Seil auf der linken und beim abgeschleppten auf der rechten Seite befestigen muss, oder umgekehrt. Dass das eine blöde Idee war, wenn der Abgeschleppte ein Motorrad hat, war uns beiden nicht aufgefallen. Also ein Abschleppseil an die linke hintere Stoßstange des Himbomobils und ganz rechts an den Lenker des Motorrades. Wir schienen beide weder im Physikunterricht aufgepasst zu haben noch besonders gesunden Menschenverstand zu haben, jedenfalls nicht mit drei Promille.

Ich zog mit dem Himbomobil und Klaus schrie auf dem Motorrad auf. - „Du, ich versteh´ dich nicht“, schrie ich zurück und drehte meinen Kopf um. Klaus bemühte sich mit allen Körperkräften einen Sturz zu vermeiden: er versuchte mit beiden Händen rechts an der Lenkstange nach hinten zu ziehen und drückte mit dem Fuß krampfhaft gegen das linke Ende der Lenkstange. Jetzt verstand ich und hielt. Das war gerade nochmal gut gegangen.

Wir ließen das Motorrad zurück und ich brachte ihn mit dem Auto nach Hause, nach Wachenbuchen. Es war inzwischen etwa sechs Uhr am Sonntagmorgen. Wir wussten beide, dass das unsere letzte gemeinsame Veranstaltung war. Vielleicht würden wir uns nie wieder sehen.

Was machst du, Klaus, wiederholst du die 13. Klasse?“ - „Nein, den Zirkus mach ich nicht nochmal mit, ich geh´ zur Bundeswehr.“

Schrecklich, Kriegsdienst war das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte. Wann würde die Bundeswehr an der Seite der Amis in den Krieg ziehen? Vermutlich jetzt im Vietnamkrieg nicht mehr – aber vermutlich im nächsten Krieg. Und mein Freund und Blutsbruder, würde er zum Mörder werden? Wir schwiegen. Dann fragte ich: „Nur die Wehrpflicht, oder...?“ - „Nein, ich habe mich als Zeitsoldat verpflichtet.“ Wir kannten uns sehr gut. Jeder wusste, was im anderen vorging. Wir wussten auch, dass damit jetzt der Abschied für uns besiegelt wäre. Wir würden einander nie wieder sehen. - Schweigen. Wir kamen inzwischen in Wachenbuchen an.

Klaus, ich wünsche dir, dass du getötet wirst, bevor du einen anderen tötest.“

Das klingt merkwürdig hart. Aber Klaus Wölfling verstand, was ich damit sagen wollte. Wir hatten uns oft genug über Handeln und die karmsichen Folgen von Handeln unterhalten. Wir hatten tatsächlich den Begriff Karma untereinander verwendet, auch wenn wir beide vom Buddhismus keinen Schimmer hatten.

Klaus nickte. Er drehte sich um und sah nicht mehr zurück. Ich wusste warum: weil er verweinte Augen hatte. Genau wie ich. Nicht weil ich das gesagt hatte, sondern weil uns der Abschied schwer fiel, der endgültige Abschied. Wem fällt es schon leicht, seinen Zwillingsbruder zu verlieren.

Zwei Jahre später hörte ich, dass Klaus im Krankenhaus läge. Er hatte sich einen Milzriss in einer Nahkampfübung zugezogen. Ich wollte ihn besuchen, doch das war aussichtlos, er hatte das Bewusstsein noch nicht wieder erlangt. Außerdem würde Klaus´ Vater dem niemals zustimmen, denn dieser Mann hasste mich. Ich hatte Herrn Wölfling nur ein einziges Mal gesehen, als ich bei Klaus zu Besuch war. Ich hörte damals, dass sein Vater auch anwesend sei, dass er am Arbeitstisch säße. „Ich sag ihm mal `Guten Tag`“, informierte ich meinen Freund. Klaus war anderer Meinung: „Horst, mach das besser nicht...!“ Aber ich wusste, was sich gehört, dachte ich. „Guten Tag, Herr Wölfling!“ grüßte ich und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Er sah nicht auf. „RAUS!!!“ war das einzige, was er brüllte.

Armer Klaus. Aber alles das war jetzt lange her, jetzt, wo Klaus im Koma lag. Ich lag in diesen ersten Novembertagen in meinem Zimmer in der Mansarde unseres Hauses in Großauheim, als ich aufschrak. Was war das? - Ein heftiges Poltern, als würde jemand mit einem großen Knüppel auf das Dach schlagen. Es klang aber nicht wie Holz auf Ziegel, sondern viel dumpfer. Da, erneut! Was zum Teufel ist das? Plötzlich von allen Seiten und dann ein eisiger Lufthauch … hörte ich da meinen Namen? POLTERN!!!

Mir standen die Haare zu Berge, eiskalt lief es mir den Rücken herunter. Ich hatte plötzlich Angst wie noch nie. Ich rannte die Treppe herunter, in die Wohnung meiner Mutter. Die sah meinen entsetzten Blick. „Mutter, ich glaube der Klaus ist gerade gestorben.“ Die nächsten Nächte schlief ich in der Wohnung meiner Mutter, war überzeugt, dass dort kein Poltergeist umgehen würde. Eigentlich wollte ich immer wissen, ob es ein Leben nach dem Tode gäbe, aber jetzt spürte ich nur noch Grauen, Angst.

Dann die Beerdigung. Eine Beisetzung mit militärischen Ehren, Klaus war schließlich im Kampf gefallen – im Nahkampf, getötet von einem deutschen Soldaten. Bundeswehrsoldaten in Uniform trugen den Sarg. Sechs Schuss Salut. Die Fahne mit dem Bundesadler über dem Sarg. Sie wird eingerollt. Großer Zapfenstreich für Klaus. Das wird seinem Vater gefallen, dachte ich mir, ausgerechnet an diesem Tag! Es war der 9. November 1973, der 50. Jahrestag des Hitlerputsches.

Ich gehe vor, kondoliere. Frau Wölfling schaut erst fragend in mein Gesicht, ich trage inzwischen einen Vollbart. Dann plötzlich ein dankbares Aufleuchten in ihren Augen – sie hat mich erkannt. Ich kondoliere auch Klaus´ Vater. Er sieht jetzt nicht aus wie dieser aggressive Typ von vor drei Jahren. Auch nicht wie ein Kriegsverbrecher. Er ist ein gescheiterter, zerstörter Mann, dessen Leben seinen Sinn veloren hat, einer der gerade sein einziges Kind zu Grabe getragen hat, einen Sohn, den er – Vater Wölfling - mit seinem Hass und seiner Verblendung zu einem zwar noch immer irgendwie liebenswerten, aber auch total kaputten Wesen gemacht hat. Er ist in meinen Augen der Mann, der meinen Freund wirklich getötet hat, ihn in den Tod getrieben hat. Klaus hat in dieser Nahkampfübung so hart gekämpft, so berichten seine Kameraden, dass er seinen eigenen Tod provoziert hat.

Klar, Herrn Wölfling trifft daran ein gerüttelt Maß an Schuld, er hat Bedingungen geschaffen, die Klaus´ Tod bewirkt haben.

Aber was ist Schuld? Und wie viel Schuld habe ich?

(Wollte Klaus vielleicht getötet werden, bevor er jemanden tötet? Mir meinen so drastisch formulierten Wunsch erfüllen?)


Pax tecum, Klaus! Der Friede sei mit dir! - - - - Eins. Zwei. Drei. Vier!


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