Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 14.1.2020

Szene 32 - RotZWirt (Rote Zelle Wirtschaft)



Im Juni 1971 hatte ich mein Abi gemacht und im Oktober begann mein Studium. Eigentlich wollte ich Sinologie, also Sprache, Kultur und Geschichte Chinas, studieren und nebenbei Wirtschaft. Mir war damals klar, dass das 20. Jahrhundert das Jahrhundert Amerikas war und dass aller Wahrscheinlichkeit nach das 21. Jahrhundert das Chinas sein würde. Dabei sah es damals alles andere als nach einem wirtschaftlichen Erfolg Chinas aus. Das Land hatte gerade den Sprung vom Elend in die Armut geschafft. Ich war jedoch noch immer von der maoistischen Ideologie verblendet und hoffte, dass es in der Volksrepublik gelänge, sowohl die Wirtschaft zu entwickeln als auch einen neuen, einen nicht-egoistischen Menschen zu schaffen.

Ich wollte dazu beitragen, diese Ideale auch im Westen publik zu machen. Mein Antrieb war der, ein auf altruistischem Denken und Handeln bestehendes Wirtschaftssystem aufzubauen, das jedem Menschen nach seinen Bedürfnissen bedient und wo jeder nach seinen Fähigkeiten beiträgt, so hatte es Lenin einst formuliert – und fast wortgleich übrigens auch Sangharakshita. Die Sowjetunion hatte dieses Ziel offensichtlich aus den Augen verloren, denn dort hatte sich mit der sog. Nomenklatura eine neue Oberschicht herausgebildet. In China, so hoffte ich, sei das durch die Kulturrevolution unterbunden worden.

Positiv ausgedrückt kann man sagen, ich hatte das Bild des Neuen Menschen, wie es auch Sangharakshita vorschwebt, vor Augen. Es ging um die Überwindung des Ego, also den weltlichen Aspekt der anatta-Lehre des Buddha. Negativ ausgedrückt kann man feststellen, dass ich glaubte, das Samsara, das Weltliche, optimieren zu können, was ein Zeichen von Verblendung ist. Auf jeden Fall aber lag mir dabei das Wohl aller Menschen am Herzen.

Vielleicht gelänge es einen wirklichen Sozialismus in China aufzubauen, möglicherweise gäbe es auch Fehler, aus denen man dann allerdings lernen könne. Ich wollte dies verstehen und den Menschen im Westen erklären können. Daher meine Fächerkombination aus Sinologie und Wirtschaft. Ich hoffte, den Aufbau des Neuen Menschen mitzuerleben, und wollte helfen, diese Ideale eines neuen Wirtschaftens zum Wohle aller auch im Westen zu publizieren. Das war zugegebenermaßen blauäugig, aber eben ein idealistisches Ziel. Als dann aufgrund einer Änderung der Prüfungsordnung ein paralleles Studium der beiden Fächer nicht mehr möglich war, entschied ich mich pragmatisch für das Wirtschaftsstudium. Sinologie allein erschien mir eine brotlose Kunst zu sein...

Aber diese Orientierung, die Hinwendung zu (marxistischer) Wirtschaft und zu China, passte irgendwie zum Zeitgeist. So gab es im Jahr 1971 ein Abkommen zwischen dem Fachbereich Wirtschaftswissenschaften und linken Gruppierungen, dass in der ersten Woche des Studiums für alle Studenten verbindlich eine Einführungswoche durchgeführt werden sollte. Diese wurde nicht etwa von Professoren und Universitätangestellten geleitet, sondern von Studenten zweier politischer Gruppierungen, nämlich der SOHOG (Sozialistische Hochschulgemeinschaft) und der RotZWirt (Rote Zelle Wirtschaftswissenschaft), beide waren sehr weit links ausgerichtet, viel weiter links als zum Beispiel die Deutsche Kommunistische Partei oder heute die „Linke“.

Ich war einer Einführungsgruppe unter Führung eines Studenten der RotZWirt zugeteilt worden. Er setzte uns linke Papiere als Diskussionsgrundlage vor, machte daneben auch Werbung in eigener Sache, also um Mitglieder für die RotZWirt zu rekrutieren, und überzeugte uns von der Wichtigkeit, Lernkollektive zu bilden. Im letzten Punkt war er in der Tat sehr erfolgreich. Wir bildeten tatsächlich solche kleinen Kollektive – oder Teams - die gemeinsam lernten und sich unterstützten.

Ich werde an anderer Stelle möglicherweise noch mehr über diese Lerngruppe sagen, zu der ich gehörte – und natürlich zu ihren Mitgliedern. In der Tat konnten wir uns während dieser Einführungswoche beschnuppern und schauen, mit wem wir am besten zurecht kämen. Und so bildete sich allmählich eine Gemeinschaft heraus, die über zwei, drei Jahre recht stabil war. In meiner Arbeitsgruppe waren außer mir Gerd, Uschi und Homer. Gerd (der wie sich bald herausstellte einen gemeinsamen Urahn mit mir hatte, Iwan Pjotrowitsch, vgl. Szene 059) war mir gleich anhand der Adressenliste aufgefallen, denn er wohnte nur wenige Kilometer von mir entfernt in Hainstadt. Homer war der Klügste, allerdings schien er kein großer Anhänger einer sozialistischen Perspektive zu sein, und Uschi war eine sehr sympathische und offene junge Frau.

In dem Punkt Vermittlung linker Gedanken, war unser Gruppenführer weniger erfolgreich – ich muss zugeben, dass mir nicht wirklich erinnerlich ist, was er uns eigentlich vermitteln wollte. Vielmehr schien mir, dass er an einigen Stellen selbst nicht weiter wusste. Das waren die Stellen, in denen ich – sonst immer der große Schweiger – so freundlich war, Lösungen zu präsentieren. Damit scheine ich die drei anderen meiner späteren Lerngruppe, Gerd, Homer und Uschi, einigermaßen beeindruckt zu haben, so jedenfalls äußerten sie sich später.

Und tatsächlich wollten auch einige aus dieser Gruppe der Studieneinführung demnächst am Schulungsprogramm der RotZWirt teilnehmen, und zwar aus unserer Lerngruppe Gerd und ich. Eigentlich muss man sagen, es war mehr meine Initiative und Gerd kam mit. Sein Klassenstandpunkt – so hieß das damals – prädestinierte ihn nicht gerade für die Speerspitze der proletarischen Revolution. Sein Vater war Inhaber eines mittelständischen Betriebes im Bereich der chemischen Industrie und Gerd war damals Prokurist dieser Firma, was wir aber nicht unbedingt den RotZWirts auf die Nase banden.

Ich ging zur RotZWirt, weil sich leider kurz zuvor die Organisation, der ich gerne beigetreten wäre, aufgelöst hatte, der SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund), also die Hochschulgruppierung, für die Rudi Dutschke stand.

Die RotZwirt traf sich entweder im Studentenhaus, das vom AstA (Allgemeiner Studenten-Ausschuss), der damals in linker Hand war, verwaltet wurde, oder im RotZWirt-Haus. Direkt angrenzend an die Uni gab es einige Häuser, die von dem Eigentümern aus Spekulationsgründen nicht vermietet wurden: sie sollten baufällig werden, um dann abgerissen werden zu können, damit dort Nobelschuppen für di Oberschicht entstehen und Profit abwerfen konnten. Wir linken Studenten hatten diese Häuser besetzt und instandgesetzt. Im ersten Haus von der Uni aus saßen wir, die RotZWirt, im nächsten die RotZSoz (Rote Zelle Sozialwissenschaft) usw.

Wenn ich zur RotZWirt eben „wir“ gesagt habe, so ist das nicht ganz richtig. Die RotZWirt war nämlich eine Kaderorganisation, das heißt, man konnte nicht einfach dort eintreten. Man musste zunächst einige Zeit „Kandidat“ sein, in eine Art Kaderschmiede gehen, wo einem die politisch korrekte Einschätzung vermittelt wurde. Erst wenn die Vollmitglieder einstimmig der Meinung waren, dass ein Kandidat ebenfalls Vollmitglied werden konnte, wurde das Aufnahmeritual vollzogen. Es war also so etwas wie eine Ordination.

Selbstverständlich sollte kritischer Geist geschult werden. Aber ebenso selbstverständlich durfte dieser kritische Geist – um Marx´ Willen! - nicht die Positionen der eigenen Gruppe hinterfragen. Das war etwas, das meinem Naturell widersprach. Kritik ist nur dann wirklich kritisch, wenn sie auch die Positionen der eigenen Organisation hinterfragt und gegebenenfalls kritisiert, das ist jedenfalls mein Standpunkt. Selbstverständlich konnte ich auf diese Art nicht „ordiniert“ werden, mir fehlte es augenscheinlich am nötigen Maß von Stromlinienförmigkeit.

Nicht zum letzten Mal in meinem Leben... ;-)

Am lebhaftesten ist mir eine Diskussion im Kopf, die zu meinem endgültigen Bruch mit der RotZWirt führte. Es ging um die Frage, wer das revolutionäre Subjekt sei und wer der Klassenfeind. Ich war der Meinung, dass eine Putzfrau, die bei einer Gebäuderreinigung sozialversicherungspflichtig beschäftigt sei gegenüber einer nicht versicherten, da nicht arbeitsvertraglich abgesicherten, im Vorteil sei, da sie im Krankheitsfall Lohnfortzahlung erhält und außerdem Kündigungsschutz habe. Das, so wurde ich belehrt, verkenne jedoch den Grundwiderspruch von Arbeit und Kapital. Es sei vielmehr so, dass die angestellte Putzfrau zum revolutionären Subjekt gehöre, da sie ausgebeutet werde, da ihr der Mehrwert ihrer Arbeit geraubt werde. Die schlechter bezahlte, nicht angestellte Arbeitskraft jedoch arbeite auf eigene Rechnung, eigne sich also selbst der Mehrwert ihrer Arbeit an, sei somit Unternehmerin und folglich der Klassenfeind. Wenn ich das nicht begriffe, fehle mir eben der richtige Klassenstandpunkt. Punkt.

Da ich jedoch nicht vorhatte, verelendete nicht abgesicherte Putzfrauen als Klassenfeind zu bekämpfen, löste ich nach einem knappen halben Jahr meine Kandidatenschaft bei der RotZWirt – und Gerd folgte mir im Schlepptau. Wir waren hinterher noch einige Zeit bei einer nicht ganz so linken Gruppierung, dem Marxistischen Studentenbund Spartakus.

Es war aber vielleicht ganz gut, dass wir rechtzeitig den Absprung bei der RotZWirt fanden. Unmittelbar nachdem wir beide ausgeschieden waren, kam es nämlich zum Showdown. Was ich jetzt berichte, kenne ich daher nicht aus eigenem Erleben, sondern gebe hier nur die Beschreibung eines Genossen wieder.

Die Häuser der Roten Zellen wurden am späten Abend von einer größeren Rockergruppe angegriffen. Unter anderem sei ein in Papier gewickelter Gegenstand durch eine zerberstende Scheibe geworfen wurden. Dieser Gegenstand entpuppte sich als ein Katzenkopf. Auf den Zettel stand: „So geht es euch allen auch, wenn wir herein kommen.“ Später habe sich heraus gestellt, dass diese Rockergruppe im Auftrag des Hauseigentümers angegriffen habe. Einer der Genossen habe dabei solche Angst bekommen, dass er die Polizei alarmiert habe. Diese sei dann gekommen und habe auf Befehl des Polizeipräsidenten die Häuser - „ein steter Unruheherd und Schandfleck“ - unbewohnbar gemacht.

Die Polizisten - so berichtete mein Gewährsmann - schlugen mit Äxten die Fenster, Türen und Heizungsrohre ein und zerstörten das Dach, die Genossen wurden verprügelt und – soweit sie nicht fliehen konnten – vorübergehend festgenommen. Dies sei – so mein Informant – offensichtlich ein abgekartetes Spiel zwischen dem Hausbesitzer, der SPD-Stadtverwaltung und der Polizei gewesen.

Wie auch immer: die RotZWirt hatte aufgehört zu existieren. Einige Genossen kamen bei verschiedenen K-Gruppen unter (KBW, KPD/ML...), einige fanden wohl auch ihren Weg in die RAF. Ich bin froh, dass Gerd und ich zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr dabei waren.

Und so hatte die Putzfrauenfrage letztendlich doch ihr Gutes!

Die Zeit“ titelte am 17. März 1972: „VERTRIEBEN AUS HASCHHÖHLEN – Nach Kämpfen zwischen Rockern und Studenten: Die Frankfurter Polizei räumt Drogenzentrale“

http://www.zeit.de/1972/11/vetrieben-aus-hasch-hoehlen


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Im Vordergrund das Studentenhaus (AstA), mit dem KOZ (Kommunikationszentrum), das folgende Haus dahinter war der Sitz der RotZWirt im Jahre 1971, das Foto entstand jedoch bereits vor der Besetzung, nämlich 1967

Der ganze Straßenzug der Jügelstraße (außer dem Studentenhaus) wurde 1972 von der Polizei unbewohnbar gemacht und danach von den Spekulanten zerstört.


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