Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 8.1.2020

Szene 29 – Ein wahnwitziger Eid - 2011



Vom 17. Dezember 2010 bis zum 9. Januar 2011 machte ich eine Einzelklausur im Meditationsraum. Ich wohnte seit Mai 2009 in Gelnhausen, Obermarkt 2. Der Obermarkt ist das Zentrum der mittelalterlich geprägten Kleinstadt Gelnhausen, 20.000 Einwohner, Kreisstadt des Main-Kinzig-Kreises. Dieser Kreis erstreckt sich von den Toren Frankfurts 100 km nach Nordosten bis in die Rhön. Und hier in Gelnhausen, rund 50 km von Frankfurt, bot ich seit Sommer 2009 Meditation an. „Meditation am Obermarkt“ nannte sich das Ganze und war buddhistisch ausgerichtet. Heute wird es von einem Team geleitet und heißt „Buddhistische Gemeinschaft Gelnhausen“. Ich gehöre der buddhistischen Gemeinschaft Triratna an, die 1967 von Sangharakshita in London unter dem Namen „Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens (FWBO)“ gegründet wurde.

Oftmals habe ich die Weihnachtsferien genutzt, um auf Meditationsretreats meine buddhistische Praxis zu vertiefen. Allerdings habe ich im Laufe der Zeit festgestellt, dass mir Einzelklausuren besser helfen als Retreats mit anderen Leuten. Daher also meine Einzelklausur im Meditationsraum am Obermarkt.

Zufluchtnahme, das heißt Bekenntnis zum Buddha (unserem Ideal), zum Dharma (der Lehre, die der Buddha verkündet hat) und zur Sangha (der Gemeinschaft der erfahrenen Schüler des Buddha), steht im Mittelpunkt unserer Praxis bei Triratna. Und diese Zufluchtnahme erfolgt mit Körper, Rede und Geist. Geistige Zufluchtnahme ist eindeutig die Ausrichtung des Denkens an der Wahrheit, die der Buddha verkündet hat. Diese Wahrheit, der Dharma, ist keine abstrakte Lehre, keine Theorie, keine Ideologie, keine Philosophie und kein blinder Glaube, sondern die Erkenntnis der Wirklichkeit der Dinge, so wie sie eben sind. „Komm und sieh selbst!“, war die Einladung des Buddha. Es geht nicht darum, einen Glauben zu übernehmen, sondern die Dinge im Lichte des eigenen Verstandes und im Einklang mit dem, was die Weisen empfehlen, zu prüfen. Weise sind diejenigen, die nicht von Gier, Hass und Verblendung getrieben sind, sondern die im Gegenteil Großzügigkeit, Liebe und Erkennen der Dinge, wie sie wirklich sind, nicht nur verkünden, sondern dies auch wirklich leben, dies verwirklicht, realisiert haben.

Wir Buddhisten richten daher unseren Geist gemäß dem Dreiklang „Hören (resp. Lesen) – Reflektieren – Meditieren“ aus. Am Anfang steht natürlich das Hören, wir hören eine Lehre an, dann folgt die (kritische) Reflexion, durch die wir das Gehörte, wenn wir es nicht verwerfen, kognitiv annehmen. Damit wir es uns aber wirklich aneignen, damit es nicht nur im Hirn gespeichert ist, sondern damit es uns wirklich in Fleisch und Blut übergeht, damit sich unser Handeln, unser Verhalten entsprechend unseren Erkenntnissen wandelt, ist Meditation nötig. Dem diente also meine Einzelklausur.

Soweit also die Zufluchtnahme mit dem Geist. Zufluchtnahme soll jedoch nicht nur mit dem Geist, sondern mit Körper, Rede und eben mit dem Geist erfolgen. Natürlich rede ich auch so, wie ich denke. Ich bemühte mich daher bei Meditation am Obermarkt, die Lehre des Buddha zu verbreiten, weil ich davon überzeugt bin, dass sie den Menschen nützt. Und zu dieser Zufluchtnahme mit der Rede gehören auch diese Zeilen, ich erkläre gerade, was Buddhismus ist.

Und dann soll auch noch mit dem Körper Zuflucht genommen werden, d. h. man vollzieht körperliche Praktiken, die die Zufluchtnahme mit Rede und Geist unterstützen. Dazu gehört unter anderem etwas, das Prostrationspraxis heißt. Im Rahmen einer meditativen Übung wird eine bestimmte körperliche Übung eingeflochten. Diese Praxis hatte ich in den vergangenen zehn Jahren immer wieder gemacht, zuletzt jedoch aufgegeben, da sie meine Knie belastete. Ich bemerkte, dass das für meine Knie nicht gut war, dass sie zu schmerzen begannen. Nun kann man diese Praxis zwar auch auf eine Art machen, die die Knie nicht belastet, aber diese war mir zu wenig körperlich. Ich wollte jedoch auch deutlich mit dem Körper Zuflucht nehmen! Also hatte ich mir eine spezielle Polsterung ausgedacht, die meine Knie weniger belasten sollten. Doch bereits nach gut einer Woche stellte ich fest, dass dem nicht so war. Mein Alter, ich war damals sechzig, machte sich mehr und mehr bemerkbar. Also sann ich darüber nach, wie ich denn die Zufluchtnahme auch mit dem Körper besser in meine Praxis integrieren könnte.

Ein Jahr zuvor war die Wanderwegemarkierung am Obermarkt in Gelnhausen um ein weiteres Symbol ergänzt worden, eine symbolisierte Jakobsmuschel in gelber Farbe auf blauem Grund, die Markierung für den Jakobsweg. Und als letztes Buch vor meiner Einzelklausur hatte ich den Wanderbericht „Heiter weiter“ eines Gelnhäuser Bürgers namens Michael Heininger gelesen, der zu Fuß von Gelnhausen nach Santiago de Compostella gepilgert war. Das klang interessant.

Einer meiner Freunde bei Triratna, Dayajina, war vor Jahren – damals war er noch nicht ordiniert – auch nach Santiago de Compostella gepilgert. Er war damals zwar schon Buddhist, aber er sagte, diese Herausforderung habe es ihm angetan. Also überlegte ich, ob das nicht eine Alternative sei: ich wandere von Gelnhausen nach Santiago de Compostella, dort ist zwar nicht der Buddha begraben, sondern der Apostel Paulus, aber entscheidend sei ja schließlich, was ich in meinem Geiste daraus mache.

Aber mein Geist wollte nicht wirklich nach Santiago. Zwar scheint es dorthin eine sehr gute, auf Pilger ausgelegte Infrastruktur zu geben, jedoch schienen nach allem, was ich gehört und gelesen hatte, nicht unbedingt meine spirituellen Ideale dadurch bedient zu werden. Auch scheint es sich um so etwas wie eine wandernde Kontaktbörse für einsame Seelen zu handeln.

Dann kam mir auch noch eine andere Planung aus früheren Jahren in den Sinn. Ich hatte mir, das ist schon etwa dreißig Jahre her, vorgenommen, meine alten Tage für die spirituelle Suche zu verwenden. So hatte ich mir damals gesagt, wenn ich zum Zeitpunkt meiner Pensionierung noch rüstig genug sei, wollte ich dorthin gehen, wo die Spiritualität zu Hause ist, nach Indien, und mir einen Meister suchen. Wohlgemerkt: gehen, ich hatte mir nicht vorgenommen zu fliegen, sondern, um die Ernsthaftigkeit meines Bemühens zu unterstreichen, wollte ich gehen, zu Fuß gehen.

Wobei ich damals sagte, dass ich das machen würde, wenn es möglich wäre. Und das bedeutet einmal aufgrund meiner Physis möglich und zum anderen aufgrund der weltpolitischen Lage. Damals, als ich diese Idee erstmals hatte, herrschte Krieg zwischen Irak und Iran.

Also begann ich nunmehr wieder, mit dem Gedanken zu spielen, nach Indien zu gehen. Zwar musste ich mir inzwischen keinen Meister mehr suchen, ich wusste ja jetzt, dass ich Buddhist bin und zur Buddhistische Gemeinschaft Triratna gehöre, aber was könnte ein deutlicherer Akt der körperlichen Zufluchtnahme sein, als nach Indien zu gehen? Und mein Ziel in Indien war auch klar: Bodh Gaya, dort wo der Buddha erleuchtet wurde. Wie könnte ich besser körperlich an meiner Zufluchtnahme arbeiten, mich besser auf Erleuchtung ausrichten, als indem ich zu dem Ort ging, der, wie kein anderer auf diesem Planeten, das buddhistische Ideal, Erleuchtung, symbolisiert. Ich sann noch darüber nach, ob das wirklich eine gute Idee sei, da zeigten sich jedoch leider weitere Verschleißerscheinungen an meinem Körper.

Nur wenige Tage nach der Feststellung mit den Knieproblemen geschah etwas, das mich zusätzlich verunsicherte: Schmerzen nicht nur in den Knien, sondern erhebliche Probleme in den Achillessehnen – und das konnte nicht von den Prostrationen herrühren. Jeden Morgen, wenn ich die armseligen zwei Stufen aus meinem Zimmer herunterging, musste ich den linken Fuß schräg stellen, um die erste Stufe zu gehen, dann, während ich mich am Türrahmen festhielt, den rechten Fuß nachziehen und auf die gleiche Stufe aufsetzen, auf der mein linker Fuß stand, anschließend musste ich das gleiche Prozedere mit der zweiten Stufe machen.

Wie ein 90-jähriger“, dachte ich voller Entsetzen. Und dann fiel mir ein: Horst, in der Tat, du wirst dieses Jahr 60, der Buddha hat recht: Alter, Krankheit, Tod – das taugt alles nix! Das klingt zwar, wenn man das so liest, ganz nett, aber das Anwachsen von Gebrechen im eigenen Körper zu verspüren, fühlt sich verdammt viel elementarer an als dieser theoretische Spruch bezüglich Alter, Krankheit und Tod. Sollte ich mich jetzt im Internet kundig machen über mein Leiden? Eine Odyssee von Arzt zu Arzt beginnen und mir dort einreden lassen, was noch alles mit mir los ist, und dann womöglich den Medicus mit dem Rezeptblock auf mich loslassen, auf dass mir die chemische Industrie genügend weitere Risiken und Nebenwirkungen aufbürdet, gegen die sie dann weitere Medikamente bereithält, die dann weitere Risiken und Nebenwirkungen…

Geknickt setzte ich mich auf meinen Meditationsplatz und schaute das Mandala der fünf Jinas, der fünf Sieger, der fünf zentralen Aspekte von Buddhaschaft, an. Und ich sprach zu diesen Figuren:

Ratnasambhava, gelber Buddha des Südens, Du hältst das wunscherfüllende Juwel Cintamani in Deinen Händen, ich habe doch noch einen so weiten Weg zu gehen bis zur Erleuchtung, hilf mir, dass ich noch einige Zeit praktizieren kann.“

Amitabha, roter Buddha des Westens, der Du unter anderem Liebe und Gnade verströmst, hilf mir, einem Unwürdigen, der gleichwohl die Stirn hat, Dich um Gnade anzuflehen.“

Vairocana, weißer Buddha im Zentrum, gib mir das Quäntchen Weisheit, um angesichts dieser neuen Herausforderung weise zu handeln.“

Aksobhya, blauer Buddha des Ostens, Du stehst für Unerschütterlichkeit und hast mir in einem schweren Augenblick meines Lebens geholfen, gib mir die unerschütterliche Kraft, das Richtige zu tun.“

Und Du, Amoghasiddhi, grüner Buddha des Nordens, der Du die Tatkraft, den unbändigen Willen zur Erleuchtung und die Kraft über sich selbst hinaus zu gehen symbolisierst, hilf mir, das Richtige zu tun und mich nicht von meinen Zipperlein ins Bockshorn jagen zu lassen.“

Und selbstverständlich hatte ich mich bei diesen – sagen wir Gebeten – nur an die fünf Jinas gewendet, jene fünf Aspekte personifizierten Aspekte von Buddhaschaft, mit denen ich durch Reflexion und Meditation inzwischen recht gut vertraut war. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen mich an Vajrapani zu wenden, eine mir äußerst fremde und in ihrer zornigen Ausführung auch höchst befremdliche Gestalt.

Vajrapani erscheint auf einer Abbildung, die im Meditationsraum am Obermarkt steht, dem Inspirationsbaum der buddhistischen Bewegung Triratna, als wunderschöner 16-jähriger Jüngling mit blauer Haut. Alle diese Bodhisattvas werden 16-jährig dargestellt, da die Menschen nach indischer Auffassung in diesem Alter am schönsten sind: in der Blüte ihrer Jugend. Die körperliche Schönheit symbolisiert hierbei ihre spirituelle Voll-kommenheit.

Wesentlich bekannter als diese Darstellung des friedvollen Jünglings ist aber das Bild des zornvollen Vajrapani. Ich werde diese Figur jetzt nicht im Einzelnen beschreiben. Warum sie so aussieht und was dies symbolisiert, wird vielmehr aus der Erläuterung hervorgehen, die ich später gebe, aus einer Begegnung, die ich mit Vajrapani hatte. Jetzt können wir erst einmal nur feststellen: diese Figur wirkt kraftvoll, hässlich, aggressiv, zornig, und sie passt irgendwie gar nicht zum schönen Wohlfühl- Buddhismus.

Ich möchte auch nicht auf seine blaue Farbe eingehen, die ein ziemlich abstruser Mythos erläutert, den ich heute nicht erzählen werde, nur so viel: Vajrapani gehört einer Gruppe von mythologischen Figuren an, die man die Vajra-Familie nennt und deren Farbe Blau ist. Zu dieser Familie gehört auch Aksobhya im Mandala der fünf Buddhas, und der ist folglich auch blau, und er hält auch einen Vajra in der Hand.

Auf dieses Symbol, den Vajra, aber muss ich hier eingehen. Vajra heißt sowohl Diamant als auch Donnerkeil. Und der Vajra hat einer großen buddhistischen Richtung den Namen gegeben, eben dem Vajrayana, das ist die buddhistische Richtung, die meist mit Tibet verbunden wird und der folgerichtig auch der Dalai Lama angehört.

Was ist ein Diamant? Nun ein Diamant ist im Prinzip nur Kohlenstoff. Er besteht aus Kohlenstoff, so wie alles, was lebt, so wie du. Aber ein Diamant ist Kohlenstoff in seiner verdichtetsten Form, in seiner wertvollsten Form. Damit symbolisiert er das, was du – der du auch aus auch Kohlenstoff bist – sein könntest. Der Diamant verhält sich zu Kohle so wie der Buddha zu dir: das Edelste, was du sein kannst. Etwas, was im Kern schon in dir vorhanden ist: Kohlenstoff. Was der Buddha erreicht hat, das kannst auch du erreichen! Ein Diamant ist auch das Härteste, was es gibt. In der Industrie werden Diamanten verwendet, wenn ultraharte Schneideinstrumente benötigt werden.

Aber Vajra heißt auch Donnerkeil, wobei das deutsche Wort „Donner“ den Aspekt des Donners im Begriff „Donnerkeil“ nur unzureichend wiedergibt, denn es ist hierbei nicht nur das akustische Phänomen des Donners gemeint, sondern ebenso die Kraft des Blitzes. Diese höchste auf der Erde vorkommende natürliche Kraft, nämlich Elektrizität in ihrer gewaltigsten und ursprünglichsten Form, auch das symbolisiert der Vajra. Vajrapani heißt übersetzt der „Vajra-Träger“. Vajrapani ist also der Herr dieser Kraft, die in der Mythologie aller Völker eine entscheidende Rolle spielt. So ist die Figur des Vajrapani viel älter als der Buddhismus. Sie erscheint bereits – ikonografisch etwas anders – im Hinduismus, dort ist ihr Name Indra. Oder wenn wir näher an unseren Kulturkreis heranrücken, wenn wir in das antike Europa sehen, auch dort treffen wir den Herrn der Blitze wieder, es ist niemand anders als der blitzeschleudernde griechische Göttervater Zeus.

Weg von Griechenland, wenden wir uns statt dessen Germanien zu. Und hier ist die entsprechende Gottheit, der Herr des Donners, also Donar, jener germanische Gott, der den Donnerkeil schleudert und donnerstags seinen Namenstag hat.

Im Englischen, wie in allen nordgermanischen Sprachen heißt dieser Tag nicht Donnerstag, sondern Thursday, im Schwedischen wird es noch deutlicher, dort heißt er Thorsdag, und Thor ist nichts anderes als der nördliche Name für Donar, und der Donnerkeil wird dort zu Thors alleszerschnetterndem Hammer. Und da wir schon bei den Angelsachsen sind: diese haben auch germanische Bildnisse des Thor übernommen und versucht in neue Mythen zu übersetzen: die amerikanische Figur des Santa Claus ist der klassischen Darstellung des Thor nachempfunden, auch wenn der gewaltige Donner – um die Kinder nicht allzu sehr zu erschrecken – nur noch zu einem mickrigen „Ho-ho-ho“ wird. Der Name des Santa Claus hat natürlich mit der Chrsitianisierung zu tun, denn die heidnischen Wurzeln sollten verdrängt werde. Daher hat der sog. „Apostel der Deutschen“, Bonifatius, seine Macht auch dadurch unter Beweis gestellt, dass er die dem Gott geweihte „Donar-Eiche“ fällte und an ihrer Stelle den Fritzlaer Dom errichten ließ.

Okay, das war jetzt vielleicht etwas weit hergeholt, um die Figur des Vajrapani vorzustellen, aber ich wollte damit einfach deutlich machen: diese Mythen sind nichts abartig Asiatisches, sie sind Erbe der ganzen Menschheit, sie sind Archetypen. Und einer dieser Archetypen ist Vajrapani, der Beherrscher der größten Kräfte des Universums.

Und die allergrößte Kraft des Universums ist natürlich – unser Geist. Um die Herrschaft über unseren Geist geht es im Dharma, in der Lehre des Buddha. Und genau damit sollten wir uns befassen, um zu sehen, wie Vajrapani unser Leben positiv beeinflussen kann – und zwar selbst wenn er in dieser zornvollen Form auftritt.

Doch zurück zu diesem Tag im Januar 2011, als ich im Meditationsraum am Obermarkt saß, mich an die fünf Buddhas gewendet hatte, nicht aber an Vajrapani. Aber Vajrapani ist ja der, der mit seinem Donnerkeil unerwartet blitzschnell zuschlägt. Und so geschah etwas ganz Merkwürdiges: Ich sah, wie sich beim letzten Abschnitt meines – ja, sagen wir: meines Gebetes – an die fünf Buddhas, bei der Anrufung Amoghasiddhis, meine rechte Hand vom Sitzplatz erhob und in der gleichen Haltung erhoben war, wie die Hand Amoghasiddhis: „die Abhaya-Mudra“, durchfuhr es mich: "die Geste der Furchtlosigkeit. Amoghasiddhi will mir wohl sagen, dass ich mich nicht fürchten soll, und dass ich das bestätige"

Und tatsächlich öffnete sich mein Mund und Worte flossen aus ihm heraus – allerdings nicht die, die ich jetzt erwartet hatte – vielmehr stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass meine Handhaltung wohl so etwas wie die Schwurgeste war, und dass ich dabei war, ein Gelöbnis auszusprechen, und ich hörte mich sagen:

„GATE GATE PARAGATE PARASAMGATE BODHI SVAHA! Gehen, weitergehen, immer weitergehen, bis zum Ort der Erleuchtung, des Heils. Ich gelobe, mich unverzüglich auf den Pfad zu begeben, den Pfad der Tugend, den Pfad der Sammlung, den Pfad der Weisheit“ – und dann kam das, was mich wirklich erschaudern ließ, ich sagte weiter „unverzüglich werde ich mich daher auch physisch, nämlich zu Fuß, auf den Weg begeben, den Weg Richtung Bodh Gaya, dem Ort, an dem der Buddha seine Erleuchtung hatte. Svaha!“

Und genau in dem Augenblick sah ich ihn aufblitzen – Vajrapani – auf dem Bild des Inspirationsbaumes, er strahlte ein glänzendes Blau aus und zwinkerte mir zuversichtlich zu – die friedvolle Form Vajrapanis. Doch in meinem Inneren trat Entsetzen auf: ich kann kaum die zwei Stufen aus meinem Schlafzimmer Richtung Toilette gehen und dann gelobe ich etwas derart Wahnwitziges! Der Gedanke „das schaffst du nie!“ bemächtigte sich meiner, eine Blindheit für das Mögliche und ein heftiger Zweifel, ob ich, ein alter, fetter, kranker Mann auch nur die allerersten Etappen dieses Gewaltmarsches durchhalten würde, schüttelte mich.

zornUnd in diesem Augenblick geschah es: Vajrapani sprang aus dem Bild des Inspirationsbaumes heraus, manifestierte sich in Lebensgröße im Raum, im Meditationsraum am Obermarkt – aber nicht in seiner friedvollen Form, sondern in seiner zornvollen, so wie auf diesem Bild hier links! Er hielt zwei Figuren – sie wirkten wie Puppen – in seinen Händen und sah gerade so aus, als würde er sie gleich auffressen.

Eine der beiden Puppen war ziemlich fett und runzelig. „Alter, fetter, kranker Mann bist du?“ schrie er mich fragend an, antwortete aber gleich selbst: „Schtonk!“ entfuhr es ihm, und er knallte die Puppe auf den Boden und zertrat sie mit dem linken Fuß, sodass das Fett durch den Raum spritzte, dann knöpfte er sich die Gestalt in seiner anderen Hand vor, sie hatte eine gelbe Armbinde mit drei dicken schwarzen Punkten und außerdem einen weißen Stock in der Hand und Vajrapani fauchte: „Verblendet bist du, du weißt erst, was du kannst, wenn du es durchführst!“ und mit diesen Worten knallte er die Figur auf den Boden und stampfte darauf, dass sie zerbarst. „Mach dich auf den Weg, ganz gleich, ob es ein Ziel gibt oder nicht, geh´ los, Richtung Bodh Gaya – UNVERZÜGLICH!“

Obwohl ich saß, nahm ich unwillkürlich eine militärisch-stramme Haltung an und rief „Aye, aye, Sir, Vajrapani, Sir!“ Er drehte sich um und wollte gerade wieder zurück in das Bild springen, da zeigte er nochmals mit der linken Hand auf mich und sagte: „Und vergiss es nicht wieder!“, wobei er mit der Rechten drohend den Vajra erhob. Sprach´s und hüpfte zurück ins Bild, wobei er sofort wieder die friedvolle Form annahm.

Das hat sich während meines winterlichen Meditations- und Schweigeretreats in den ersten Tagen des Jahres 2011 zugetragen. Meine Einzelklausur ging bis Sonntag, dem 9. Januar. Am Montag begann die Schule wieder und am folgenden Samstag, dem 15. Januar 2011, ging ich meine erste Wanderetappe Richtung Bodh Gaya, nämlich von Gelnhausen nach Schöllkrippen. Unverzüglich. Ohne schuldhaftes Verzögern. Unnötig zu sagen, dass einer meiner ständigen Begleiter blaue Hautfarbe hat, einen Vajra in der Hand hält und die Tendenz hat, aus der Haut zu fahren, sprich eine zornvolle Form anzunehmen, wenn ich wieder zu Hasenfüßigkeit neige. Über die zahlreichen anderen Unvollkommenheiten meinerseits sieht er allerdings großmütig hinweg.


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