Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 5.1.2020

Szene 16 – ...oder vielleicht grün? - 1982



Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre hatte ich eine sehr schlechte Zeit: meine noch junge Ehe war schon rasch irgendwie gescheitert, obwohl wir wegen der Kinder zusammen blieben. Mein Beruf konnte mir keine Erfüllung geben, das Lieblingsprojekt meiner 70er Jahre, die Stiefografie, war inzwischen krachend gescheitert, und die beiden Menschen, die mir noch Halt geben konnten, meine Mutter und meine liebe Großmutter, waren 1978 bzw. 1980 gestorben.

Irgendwann war ich auch bei einem Arzt und der hat mir bei meinem Lebenswandel noch anderthalb bis zwei Jahre Lebenserwartung gegeben. Ich war ziemlich am Ende. Ich saß noch immer im Alt-Auheim (vgl. Szene 15), wohin hätte ich auch sonst gehen können? Gescheitert!

Ich war im Vorjahr 30 geworden, vor zehn Jahren sah es aus, als hätte ich herrliche Perspektiven, das Leben war grandios, ich fühlte mich als Sunnyboy – und jetzt das. Dazu noch eine miserable Weltlage. Ronald Reagan war Präsident der USA geworden, bezeichnete die Sowjet-Union als „Reich des Bösen“ und wollte in Deutschland Atomraketen stationieren, die ihre Ziele in Russland in sieben Minuten erreichen würden. Das machte einen computergestützten Gegenschlag notwendig, denn in dieser Zeit können nicht die nötigen sowjetischen Gremien über die Lage beraten. Und Computer neigen zu Fehlalarmen. Der Weltuntergang – oder zumindestens die Zerstörung Europas – schien vorprogrammiert. Und die Bundesregierung unterstützte die Pläne der USA.

Ich saß im Alt-Auheim, starrte in mein Bier. Ich hatte zwei kleine Kinder. Die Welt war dabei, sich kaputt zu machen, und ich war dabei, mich kaputt zu saufen. Warum soff ich überhaupt? Nun, ich versuchte mir die Welt – und meine persönliche Lage – schön zu saufen.

In Diskussionen mit anderen Leuten im Alt-Auheim und auch andernorts hatte ich bei mir ein gewisses Muster festgestellt. Wenn ich kam, also mit null Bier, war ich wie üblich klein, traurig, schüchtern, so wie damals als Schüler in den 60er Jahren, der sich niemals im Unterricht freiwillig zu Wort meldete. Nach zwei Bier, begann ich jedoch eloquent zu werden, suchte Kontakt, begann mit Leuten zu diskutieren. Nach drei bis vier Bier wurden meine Diskussionsbeiträge heftig, logisch, pointiert. Ungefähr bei sechs Bier war der Grenznutzen des jeweilig nächsten Bieres für meine Eloquenz bei Null, ab dem siebten Bier wurde er negativ. Bei noch größeren Biermengen – und da fing ja mein Normalzustand in dieser Zeit erst an, wurden meine Argumente schlechter. Ab 15 Bier schließlich machte es mich wütend, dass ich nicht mehr richtig vernünftig argumentieren konnte.

Bevor im Jahre 1975 in meinem Leben alles schlechter wurde, wollte ich Großes aufbauen, Einfluss nehmen. Zuletzt mit der Stiefografie, davor auf politischer Ebene. Zumindest auf politischer Ebene wäre es jetzt nötiger als je zuvor in meinem Leben, mich zu engagieren, für den Frieden, für die Rettung der Welt!

Im letzten Jahr waren Eli und ich in die Schweiz gefahren, das hatte irgend etwas mit Stiefo zu tun und mit unserem Schulleitungsprojekt. Damals hatten wir im Radio von einem Fest der noch jungen Partei „Die Grünen“ gehört und sind dort spontan hingefahren. Wir hatten dort auch ein Eintrittsformular ausgefüllt, dann aber nie wieder etwas davon gehört, es schien noch etwas chaotisch zu laufen bei der jungen Partei. Und jetzt hatte ich in der „Frankfurter Rundschau“ gelesen, dass am nächsten Tag ein Treffen einer „Grünen Friedensinitaitive“ im Thomas-Münzer-Keller stattfand, da könnte ich doch eigentlich hingehen. Also: statt mich im Alt-Auheim zu Tode zu saufen, könnte ich doch vielleicht grün...

Am nächsten Abend war ich in diesem Keller. Hier trafen sich an unterschiedlichen Wochentagen verschiedene Gruppen der links-grün-alternativen Szene, u. a. das „Autonome Plenum“ und die GAL, die Grün-Alternative Liste Hanau. Die „Grüne Friendensinitiative“ entpuppte sich jedoch als das Hirngespinst eines einzelnen jüngeren Mitgliedes der Grünen. Außer mir und ihm gab es keine Teilnehmer.

Aber ich nutzte die Gelegenheit, um mich mit ihm zu unterhalten, die Lage bei der grünen Szene in Hanau zu sondieren. Im Thomas-Münzer-Keller gab es, so stellte ich erfreut fest, auch einen Kühlschrank mit Getränken. Es gab in erster Linie Bier aus Flaschen. Also trank ich mit dem jungen Grünen zwei, drei Bier und wir unterhielten uns. Ich erzählte ihm von meinem erfolglosen Beitrittsversuch im Vorjahr, er holte Beitrittsformulare und ich trat der Partei erneut bei. Diemals mit Erfolg, zwei Tage später bekam ich einen netten Begrüßungsbrief vom damaligen Kreisvorstand Rolf-Dewet.

Eine Woche später war ich beim Treffen der GAL, denn einen Ortsverband der Grünen gab es nicht. Die GAL hatte bei den letzten Kommunalwahlen in Hanau (1981) grottenschlecht abgeschnitten und war an der 5-Prozent-Klausel gescheitert, da sie vom Hanauer Anzeiger als kommunistische Tarnorganisation dargestellt wurde. Der Lieblingsfeind des Hanauer Anzeigers war damals Hartmut, einer der Wortführer der GAL und früheres Mitglied im KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland). Mein Eindruck war: in der GAL sind zwar einige fähige Leute, insgesamt ist es aber etwas sehr chaotisch und erinnert fatal an die K-Gruppen meiner Studentenzeit. Im Gegensatz zu den Grünen sah ich für diese GAL keinerlei Zukunft.

Und jetzt saß ich also wieder im Alt-Auheim und reflektierte, leicht bierbenebelt. Ich sortierte meine Gedanken:


  1. Wenn ich so weitersaufe, bin ich in zwei, drei Jahren kaputt.
  2. Ich habe Verantwortung für meine Töchter. 
  3. Darüber hinaus möchte ich eigentlich zum Wohl aller Menschen arbeiten.
  4. Wenn es mir gelingt, nur wenig Alkohol zu trinken, habe ich die Chance mittels meiner Eloquenz und Intelligenz Einfluss auf Organisationen zu nehmen.
  5. Da es im Thomas-Münzer-Keller Bier gibt, habe ich die Chance, dort – in Maßen – meinem Suchtverhalten nachzugehen.
  6. Die GAL ist ein hoffnungsloser Haufen. Die Grünen haben Potential. Beides hat auch mit der veröffentlichten Meinung zu tun. Eine gute Pressearbeit ist nötig.

Aufgrund dieser Überlegungen fasste ich nunmehr meinen Beschluss: Ich werde mich aktiv bei den Hanauer GAL-Grünen einklinken, möglichst viele Termine dort wahrnehmen. Auf diese Weise kann ich nützlich sein - und zum nur noch kontrollierten Trinken kommen. Die Existenz der GAL ist zwar misslich, bietet allerdings auch eine Chance. Ich muss derjenige sein, der diese GAL hinterfragt. Was wir stattdessen brauchen, ist ein Ortsverband der Grünen. Ziel muss also die Neugründung oder Umfirmierung sein. Dies könnte mein Projekt werden.

Helmut, zahlen!“, rief ich in diesem Moment, kaum dass es 22 h war im Alt-Auheim, sehr zur Verwunderung des Wirtes. Ein Entschluss war gefasst. Es war einer der Momente, an denen sich das Leben neu ausrichtet.

Das Leben ist kein Schicksal, nichts, was dir geschickt wird. Das Leben ist ein Schaffsal, etwas das du selbst erschaffen kannst. Es geschieht nichts Gutes, außer: man tut es!


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