Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 2.1.2020

Szene 11 – Franz – 1877 - 1953


 

Es ist die wohl älteste Szene dieser Erzählungen, dennoch gehört sie eindeutig hierher, denn Franz Gutmann war einer der prägendsten Persönlichkeiten meines Lebens, was mir allerdings erst im fortgeschrittenen Alter bewusst wurde. Ich selbst habe jedoch keine persönliche Erinnerung mehr an ihn. Und im Familienalbum gibt es nur ein einziges Foto (aufgenommen Ostern 1952) von ihm und mir gemeinsam. Wir sehen darauf einander äußerst kritisch, aber auch sehr rezeptiv an – und genau das ist der Blick auf ihn, den ich mir bis auf den heutigen Tag beibehalten habe. Man hat mir später gesagt, Franz hätte mir einen merkwürdigen Rat gegeben: „Bubche, manchmal is es Lewe wi e Hihnerleidder: beschisse von owwe bis unne. Manchmal willste afach nur noch weg. Awwer wann de der emal´s Leewe nemme willst, gell, dann heersde uff mich: die besd Medhode isses Verhungern und die sichersde. Weil wannste ders nochema annerst üwwerlesche willst...“ Wie gesagt, ich kann mich daran nicht erinnern. Aber man hat es mir erzählt. Damals fand ich´s lustig. Es hat 20 Jahre gedauert, bis ich die Weisheit von Franz´ Worten erkannte. Aber das ist eine andere Szene (vgl. Szene 47: War das ein Suizidversuch?).

Franz´ Leben beginnt in einer Zeit, die aus heutiger Sicht sehr, sehr weit entfernt ist, in einer Zeit ohne Autos, ohne Telefone, ohne Strom. Und sie spielt in einer ländlich-kleinstädtischen Gegend, in Groß-Umstadt, einem Ort am Rand des Odenwaldes in Südhessen. Das kleine Städtchen ist vom Weinbau geprägt – im Gegensatz zu allen anderen Orten im Umfeld. Als 100 Jahre nach Beginn dieser Szene das deutsche Weingesetz reformiert wurde und die Bundesreprublik Deutschland in elf Weinbaugebiete eingeteilt wurde, war zunächst völlig unklar, wohin man diesen abgelegenen Weinbauflecken stecken sollte. Man entschied sich für das kleine Weinbaugebiet Hessische Bergstraße, obwohl dieses rund 50 km von Groß-Umstadt entfernt liegt. Aber irgendwo anders hin passte der eigenwillige Ort auch nicht. Von der Weinvermarktung her war das auch egal, denn der sehr schmackhafte, untypische Wein wird nirgend wohin ausgeführt. Die Groß-Umstädter trinken ihn selbst. Und wenn ein Auswärtiger ihn kaufen möchte, so muss er gefälligst hierher kommen und sich ein paar Flaschen beim Winzer kaufen oder in einem der ortsansässigen Läden.

Auch Franz´ Eltern sind – im Nebenerwerb – Weinbauern. Diese haben sich in einer Winzergenossenschaft zusammen geschlossen, denn für die kleinen Nebenerwerbs-Weinbauern wäre der Aufwand für den ganzen Produktions- und Vermarktungsprozess viel zu umständlich - bei vielleicht 200 oder 300 Flaschen Ertrag im Jahr.

In diesem Umfeld verbrachte Franz seine Kindheit. Er ging zur Volksschule, wie fast alle Kinder damals, half im elterlichen Geschäft aus und bei der Weinlese. Doch im Alter von 13 Jahren geschah etwas, das sein ganzes Leben ebenso prägte, wie das von vielen anderen Menschen, die es ohne dieses Ereignis gar nicht gäbe - mich zum Beispiel. Franz´ Eltern schickten ihn eine Besorgung zu erledigen – mit der damals beachtlichen Summe von 5 Mark. Doch – wie kann ich euch nicht sagen – Franz´ verlor unterwegs das große Geldstück. Verzweifelt suchte er danach – doch vergebens. Nach Hause traute er sich nicht, und so lief er in seiner Panik weg. Er lief den ganzen Tag, so weit ihn die Füße trugen. Wohin er lief, wusste er wohl selbst nicht, aber eines ist sicher: er lief nach Norden. Am Abend kam er an einen großen Fluss, über den es keine Brücke gab. „Du bist jetzt so weit gelaufen,“ sagte er sich, „wenn du da noch drüber schwimmst, findet dich kein Mensch jemals mehr!“

Uns scheint das vielleicht als von kindlicher Einfalt geprägt. Weit gefehlt! Die gesellschaftliche Situation im Deutschen Reich des 19. Jahrhunderts war eine völlig andere als heute. Einwohnermeldeämter, Personalausweise, Polizeifahndungen nach Vermissten, all dies war damals noch längst nicht Standard. Und in der Tat dauerte es fast 40 Jahre, bevor er erstmals wieder nach Groß-Umstadt kam. Er schwamm also an diesem Abend im Jahr 1890 über den Fluss, es war der Main. Er übernachtete in einer Scheune nahe einem ehemaligen Fischerdorf, in dem sich gerade erste Ansätze der Industrialisierung breit machten. Das Dorf hieß Großauheim, 60 Jahre später wurde ich, einer seiner Enkel, dort geboren.

Der dreizehnjährige – ohne Schulabschluss, er hatte ja nicht nur keine Ausweispapiere, sondern auch keine Zeignisse bei sich – bemühte sich um eine Arbeit als Gehilfe und um eine Schlafstelle. In der Tat fand er auch eine Anstellung, wo er für Kost und Schlafplatz arbeitete. Er war fleißig, was in dem kleinen Dorf auffiel, und so war es kein Wunder, dass er einige Zeit später sogar eine Lehrstelle bekam, bei einem Barbier. Ein Barbier war damals so etwas ähnlcihes wie ein Friseur. Der schnitt allerdings nicht nur die Haare, sondern vor allem rasierte er die Bärte der Männer. Das war jedenfalls das Kerngeschäft. Daneben beschäftigte er sich auch mit Maniküre und Pediküre, wenn die Kundschaft das wünschte – und er zog auch Zähne. Franz schloss diese Lehre erfolgreich ab.

Deutschland war Ende des 19. Jahrhunderts ein Wirtschaftswunder-Land, auch wenn es diesen Ausdruck damals noch gar nicht gab. Aber seit der Einheit des Deutschen Reiches im Anschluss an den Krieg gegen Frankreich (1870/71) ging es mit dem Land in der Mitte Europas rasch aufwärts. Und diese schnelle Industrialisierung sowie auch die bevorstehende Jahrhundertwende ließ ein starkes Wachstumsbewusstsein bei den Deutschen entstehen. Auch der junge Franz nahm sich vor, das neue Jahrhundert mit zu gestalten. Er wusste: die Zukunft gehört der Spezialisierung. Barbier, das war doch 19. Jahrhundert! Das neue Jahrhundert brauchte ganz andere Herausforderungen, also keine Bärte mehr, keine Dauerwellen und keine Fußnägel schneiden – er spezialisierte sich auf Zähne! Aber nicht nur auf das Ziehen von Zähnen, auch auf die Reparatur. Immer mehr zuckerhaltige Lebensmittel gab es, also auch mehr Karies! Und er war ein geschickter Handwerker, er bildete sich fort als Zahntechniker, als ein Mann der Brücken, Zahn-Spangen und Gebisse anfertigte.

Er machte sich selbstständig! Das sah so aus, dass in seiner Küche nun eine elektrische Bohrmaschine stand, mit der er kariöse Zähne behandeln konnte, und einige technische Geräte sowie ein Bunsenbrenner, wo er an Gebissen werkelte, für die er vorher Gipsabdrücke nahm. Das neue Jahrhundert war ja so fortschrittlich! Er hatte auch geheiratet, und sein Traum war: ein eigenes Haus. Und zwar ein Haus, in dem er ein extra „Sprechzimmer“ für seine Patienten habe, vielleicht sogar ein Wartezimmer, ganz sicher aber eine „Technik“, also einen Raum, wo er an Zahnersatz basteln konnte. Er sparte, wo er nur konnte, um sich eines Tages ein solches Haus leisten zu können. Nach einigen Jahren hatte er, da er ein erfolgreicher Dentist war, schon die riesige Summe von 10.000 Mark zusammen. Alle Träume würden sich verwirklichen – und dann könnte er zu seinen Eltern nach Groß-Umstadt fahren und ihnen die 5 Mark aus dem Jahre 1890 mit reichlich Zins- und Zinseszins zurück zahlen!

All diese tolle Entwicklung wurde jedoch 1914 jäh unterbrochen: der Krieg brach aus. Alle Männer im wehrfähigen Alter wurden zu den Waffen gerufen. Franz war in seinen späten 30ern, also im wehrfähigen Alter. Aber Franz war auch ein kluger und kritischer Mann, er war kein jugendlicher Heißsporn mehr. Er hatte sich immer für Geschichte und für Geographie interessiert. Er wusste was Leiden ist. Er wusste auch was der Grund von Leiden ist. Der Grund von Leiden ist Verlangen, Gier. Die Gier mehr haben zu wollen: mehr Geld, mehr Macht, mehr Land.

Ein weiterer Grund von Leiden ist Hass – und Krieg ist nichts anderes als der Ausdruck von Hass auf das Andere oder die Anderen, geführt mit den jeweilig zur Verfügung stehenden technische Hilfsmitteln – und die waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts mächtiger, also verheerender, als je zuvor. Und Leiden, insbeondere Krieg, hat seine Ursache auch in Verblendung, oft genug in der Verblendung „wir“ seien die Guten, „die Anderen“ seien die Bösen. Franz hatte viel darüber reflektiert – und so war er Pazifist geworden.

Was es aber im Deutschen Reich damals nicht gab, war Kriegsdienstverweigerung. So hatte er zwar die militätische Grundausbildung mitgemacht – sechs Monate – sich dann aber zu den Sanitätern gemeldet. Diese waren unbewaffnet, sie halfen den Verwundeten. Und mit Wunden kannte er sich aus: er war Dentist, er zog Zähne – im Frieden. Also konnte er jetzt im Krieg Verwundeten helfen. Bald musste er nicht mehr nur Verwundete verbinden, sondern wurde als Assistent bei Amputationen hinzugezogen. Amputationen hatten im Feldlazarett Konjunktur: Hände, Arme, Beine, alles, was nicht lebensnotwendig war und was durch Waffeneinsatz zerschmettert, zerstückelt, zermalmt war, wurde amputiert. Im Lazarett wurde rund um die Uhr amputiert. Und wäre er nicht schon Pazifist gewesen, hier wäre er es ganz sicher geworden.

Der Krieg hatte allerdings nicht nur diese blutige Seite. Er hatte auch eine wirtschaftliche Seite. Praktisch alle wehrfähigen Männer waren im Krieg, an ihrer Stelle wurden verstärkt Frauen in der Industrie eingesetzt. Und was in erster Linie produziert wurde, waren Rüstungsgüter. Dafür gab es nur einen Nachfrager, den Staat, ein Nachfragemonopol. Während also einerseits die Ausgaben des Staates für Rüstungsgüter und für die Versorgung der gigantischen Armee immer stärker anstieg, sanken die Einnahmen: Menschen die nicht in Lohnarbeit sind, sondern im Krieg, zahlen keine Steuern. Durch die starke Steigerung des Rüstungssektors wurden auch weniger Konsumartikel produziert, also stiegen deren Preise.

Die wirtschaftliche Lage war also so, dass Preise und Staatsverschuldung stiegen. Der Staat versuchte dies durch Staatsanleihen zu finanzieren: der Staat lieh sich bei seinen Bürgern Geld, das er nach dem Krieg zurück zahlen wollte, weil man dann Geld aus den eroberten Gebieten Frankreichs und Russlands herauspressen wollte. Diese Logik konnte jedoch nur im Falle des Sieges aufgehen. Bekanntlich hat Deutschland aber den Weltkrieg verloren.

1918 kehrte Franz aus dem Krieg zurück – gesund, das war das Wichtigste. Unmittelbar vor dem Krieg hatte Franz die Ersparnisse von 20 Jahren - 10.000 Mark - gehabt, dafür hätte man sich schon ein kleines Haus kaufen können, was Franz jedoch nicht gemacht hatte. Er wollte schließlich nicht nur eine kleine Kate, sondern ein Haus mit genug Platz für seine inzwischen fünfköpfige Familie – seine Frau hatte ihm drei Söhne geboren – und für ein Sprechzimmer, eine Technik und vielleicht sogar ein Wartezimmer.

Inzwischen bekam man inflationsbedingt jedoch kein kleines Haus mehr für 10.000 Mark, sondern nur noch ein kleines Auto. Franz wollte aber kein Auto – noch nicht – er wollte ein Haus! Also war weiteres Sparen angesagt – jetzt, wo der Krieg vorbei war, mussten doch wieder gesunde Verhältnisse einkehren, musste die Inflation zurückgehen, so sagte er sich. Dummerweise wurden jedoch inzwischen ein Teil der Kriegsanleihen fällig: der Staat musste geliehenes Geld zurückzahlen, hatte es jedoch nicht. Also wurde neues Geld gedruckt. Die Geldmenge stieg, das Warenangebot nicht – also stieg die Inflation. Im Jahr 1919 hätte sich Franz von seinen 10.000 Mark auch kein Auto mehr kaufen können, sondern allenfalls noch ein Motorrad.

Man hätte nun annehmen müssen, dass Franz seine Sparstrategie überdenkt – doch da geschah etwas, das erst einmal alle Planungen über den Haufen warf und neue Probleme verursachte: seine Frau starb. Eine Ehe war damals etwas Symbiotisches. Der Ehemann verdiente das Geld, während sich die Frau um die Kinder und den Haushalt kümmerte, schließlich gabe es keine Fertiggerichte, nicht all die modernen Haushaltsgeräte, auch keine Waschmaschine. Und im Haushalt fiel jede Menge Arbeit an, schließlich gab es inzwischen drei Söhne im Alter von sechs bis zwölf Jahren im Hause. In der damaligen Zeit bedeutete das: es muss eine neue Frau her – nicht aufgrund von Liebe, sondern allein wegen der wirtschaftlichen und organisatorischen Notwendigkeit. Franz musste also erneut auf Freiersfüßen wandeln – und er war nicht mehr der Jüngste, war inzwischen 43 Jahre alt.

Beim Tanz in den Mai lernte er eine interessante Frau kennen: Frieda, die Tochter des Oberförsters Fuhrmann aus den Staatsforst Wolfgang, Hessens damals größten Forstbezirks. Frieda war zwar sieben Jahre jünger als er, aber sie war unverheiratet, ein unbescholdenes, spätes Mädchen. Ihr Vater war ein strenger Ex-Offizier, der sehr auf die Ehrbarkeit seiner Töchter achtete. Und so durfte Frieda, die inzwischen bereits stark auf die 40 zuging, auch nur einmal im Jahr zum Tanz gehen – in Begleitung ihrer Eltern, versteht sich.

Franz wurde also bei Friedas Vater vorstellig und hielt um die Hand von dessen Tochter an. Für Franz war das eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Aber auch für Frieda war es wohl die letzte Möglichkeit, noch zu einer Familie und - vielleicht sogar eigenen - Kindern zu kommen. So ehelichte sie also im Alter von 37 Jahren einen Witwer mit drei kleinen Söhnen – eine typische Vernunftehe, keine Liebesheirat.

Aus der Ehe ging eine Tochter hervor, Ruth, meine Mutter. - Doch zurück zu Franz´ Wunsch nach einem eigenen Haus. Zur Zeit als seine Tochter geboren wurde, im Sommer 1922, bekam man für 10.000 Mark gerade noch ein Fahrrad, Anfang 1923 ein Kilo Rindfleisch, Mitte des Jahres einen Laib Brot, bald darauf gerade noch ein Päckchen Streichhölzer und im November bohrte Franz – er war da Zyniker – ein Loch in die zehn alten 1000-Mark-Scheine und hängte sie aufs Klo: schließlich war ein Stück Toilettenpapier inzwischen teurer als 1000 Mark. An einen Hauskauf war nicht mehr zu denken. Im Dezember 1923 betrug die monatliche Miete für die Wohnung (incl. Sprechzimmer in der Küche) 7.455.000.000.000 Mark, in Worten: sieben Billionen und 455 Millarden, der Originalbeleg ist am Ende dieser Szene abgebildet.

Man war unzufrieden in Deutschland. Zunächst die Inflation, später kam noch die Arbeitslosigkeit dazu. Radikale Parteien gewannen immer mehr Anhänger. Im Dorf Großauheim gab es inzwischen Betriebe mit über 1000 Arbeitern, die BBC, die Marienhütte, die Rüttgerswerke, als stärkste Partei wurden die KPD bestimmend in Großauheim.

Aber nicht nur die politische Linke erstarkte, auch rechte Parteien gewannen an Zulauf, unter ihnen die radikalste, lautstärkste: Hitlers NSDAP. Franz´ Söhne wurden regelrechte Fans von Hitler und auch Franz begann sich mit dem Phänomen des lauten Mannes mit dem albernen Bärtchen auseinander zu setzen. Franz schimpfte – als Pazifist - damals vor allem auf den Weltkrieg und diejenigen, die ihn geführt hätten: die Generäle, allen voran Ludendorff und Hindenburg. Die hätten doch keine Ahnung, was Krieg für den einfachen Landser an der Front bedeute. Und Franz schloss daraus messerscharf: wenn ein kleiner Mann, der selbst im Krieg war, nicht als Offizier, sondern als ganz kleiner Gefreiter, an die Macht käme, dann könne man sicher sein, dass es keinen Krieg gäbe. Hitler war ein kleiner Gefreiter. Hitler war machtbewusst, er würde mit dem ganzen Unheil in Deutschland aufräumen, mit den Kriegsgewinnlern, schließlich war der Mann Sozialist, Nationalsozialist – so kalkulierte Franz.

Das war Franz´ mit Abstand größter Fehler. So wurde er, der Pazifist, zum Nationalsozialisten. Im Jahre 1927 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der NSDAP in Großauheim, zu den Männern der ersten Stunde der Nazi-Bewegung in dem Industrie-Dorf am Main. Er wurde sogar bereits damals, 1927, Ortsgruppenleiter, was er bis 1937 blieb. Erst drei Jahre später trat Fritz Löser bei, der spätere Nazi-Landrat des Kreises Hanau, der erst 1973 in Großauheim starb. Ich kenne diesen alten Mann noch, der bei uns um die Ecke wohnte. Er war immer etwas zu vornehm angezogen, trug Dreireiher und Fliege, ging am Stock und war freundlich zu mir, als ich Kind war. Der Ex-Nazi-Landrat hatte immer ein Bonbon für mich. In den 50er Jahren wurde der alte Nazi immer noch mit „Herr Landrat“ angeredet.

Doch zurück zu Franz. Nachdem die Inflation vorbei war, ging es für ihn bergauf. Er war ein guter Dentist, seine Geschäfte liefen ordentlich, er war frisch verheiratet mit einer wirklich schönen Frau, hatte jetzt vier Kinder und er war inzwischen wer! Seit 1927 sogar Ortsgruppenleiter einer aufsteigenden Partei, außerdem im Großauheimer Vereinsleben aktiv, als Karnevalist. Auf der IAA in Frankfurt, die er mit seinen Söhnen besucht hatte, war er sogar so fasziniert von der neuen automobilen Zukunft, dass er sich einen amerikanischen Wagen kaufte, einen Chrysler – einen solchen hatte im Ort nur die Direktion der mit über 3000 Beschäftigten größten Fabrik, der BBC.

Seine Frau, Frieda, litt darunter, denn der Wagen war auf Wechsel gekauft, und wann immer ein Wechsel fällig war (alle drei Monate), musste ein neuer riskanter Wechselkredit her - binnen zwei Tagen. Zunächst weigerte sie sich sogar in das Fahrzeug einzusteigen. Jedoch warnten ihre Freundinnen sie: wer so einen eleganten amerikanischen Wagen hat – unter anderem mit Holzspeichenrädern! – der hat auch schnell eine Frau, die bereit ist, sich daneben zu setzen. Also machte Frieda gute Miene zum riskanten Spiel.

Und Franz nutzte die Gunst der Stunde: er fuhr mit seinem neuen Chrysler nach Groß-Umstadt, dem Ort seiner Kindheit. Leider waren seine Eltern inzwischen verstorben, hatten jedoch immer fest daran geglaubt, dass der Franz eines Tages zurück kommen würde. Sie hatten ihn sogar in seinem Testament bedacht: Franz erbte einen Weinberg. Oder besser: Franz sollte einen Weinberg erben. Er nahm das Erbe jedoch nicht an, sondern verzichtete zugunsten seiner Schwester darauf. Diese Schwester hatte die Eltern im Alter gepflegt.

Da das mit den Wechseln beim Autokauf in Franz´ Augen gut lief, entschloss er sich im Jahr 1930, ein Haus zu bauen: arbeitslose Handwerker und Arbeiter gab es damals genug, die bereit waren, für wenig Geld zu arbeiten. Im Neubaugebiet nördlich der Bahn, im Auwanneweg, wurde ein Grundstück gekauft, 665 qm groß, darauf wurde ein voll unterkellertes Haus mit Walmdach errichtet, im Erdgeschoss und im 1. Obergeschoss jeweils 84 qm, vier Zimmer, Küche, Bad (bzw. im 1. OG die „Technik“ statt eines Bades), in der Mansardenwohnung 42 qm Wohnfläche, 2 Zimmer, Küche, Bad. In einem dieser Zimmer wurde ich später geboren, noch später war in diesem Zimmer der erste Meditationsraum von „FWBO Rhein-Main“. Im Garten gab es ein Nebengebäude, zweistöckig, im unteren Geschoss als Garage angelegt – einschließlich Grube für Reparaturen unter dem Fahrzeug und Werkbank, im oberen Geschoss – 50 qm – stand Gerümpel und es lagerte Brennholz. Sehr viel später wohnte hier eine Zeit lang Himbi Moloch (vgl. Szene 5), noch später baute ich hier den „Großauheimer Tempel“ (vgl. Szene 18). Das ganze Anwesen kostete damals 20.000 Rentenmark.

So ließ sich alles recht gut für den Dentisten Franz Gutmann an, er hatte sein Traumhaus, einen Traumwagen, eine große Familie und war Ortsgruppenleiter einer wichtigen Partei, ab 1933 der Regierungspartei.

Doch Franz war ein Mann mit vielen Facetten. Er las Sven Hedin (wenn auch langsam und mühsam), er interessierte sich für Tibet, wollte sich als nächstes einen Wohnwagen (damals: „Anhängewagen“) kaufen – das erste Fahrzeug dieser Art war gerade auf der IAA ausgestellt worden – und in diesem nach Lhasa fahren, zum Dalai Lama, den er verehrte. Franz war überzeugt davon, wiedergeboren zu werden und bereits unzählige Leben gehabt zu haben.

Und dann gab es da noch eine weitere Facette in seinem Leben, das als Ausreißerleben begonnen hatte. Etwa einmal in Jahr verschwand Franz, dann war seine Dentistenpraxis geschlossen, er kam auch nachts nicht heim. Das war immer dann, wenn ein Zirkus nach Hanau, in die benachbarte Kreisstadt, kam. Sowie der Zirkus anrollte, war er dort, half beim Aufbau des Zirkuszeltes, versorgte die Tiere, half während der Vorstellungen als Stallbursche und verließ den Zirkus erst, wenn alles wieder abgebaut war und die Wagen des fahrenden Volkes Hanau verließen, dann stand Franz´ mit weinenden Augen da, von Fernweh geplagt, bevor er wieder in sein bürgerliches Leben zurück kroch. „Aber im Alter, dann fahre ich wirklich weg, nach Tibet, zum Dalai Lama, nur noch Meditieren und Yaks versorgen.“ - Wir alle haben unsere Träume. Das war der Traum von Franz Gutmann, dessen Blut in meinen Adern fließt.

Im Laufe der Nazizeit wurde jedem kritischen Beobachter immer klarer, dass es materiell zwar für einen großen Teil des deutschen Volkes aufwärts ging, dass aber die Politik der Partei immer barbarischer wurde. Franz wählte jedoch – unbewusst, wie das so unsere Art ist – eine besondere Strategie, seine Verblendung aufrecht zu erhalten. Er versuchte sein Idol – Hitler – von den sichtbaren Ergebnissen vor Ort abzutrennen. „Wenn das der Führer wüsste, wie sich hier einige der Bonzen vor Ort verhalten...“, war in dieser Zeit sein Standardspruch. Franz aber war braver Parteisoldat und übernahm die Kleinarbeit, Mitgliederverwaltung, Beiträge einkassieren, Kampagnen organisieren (wie das Winterhilfswerk zugunsten der Armen) oder Rundschreiben verfassen.

Im Jahre 1937 kam einer der jüngeren PGs (Parteigenossen), der gute Kontakte zur Kreisleitung hatte, auf ihn zu, lobte ihn für sein unermüdliches Bemühen und fragte nach, ob ihm das nicht mit seinen 60 Jahren allmählich zu viel würde, ob er ihn nicht entlasten könnte. Der junge PG bot sogar an, die Ortsgruppenleitung mit all diesen beschwerlichen Aufgaben zu übernehmen. Franz war darüber froh und so geschah es. Kurz darauf kam ein Rundschreiben, in dem es hieß, dass die Aufgaben der Ortsgruppenleitung professionalisiert werden sollten, sprich: künftig gab es eine Vergütung für die Ortgruppenleiter. Das also war der Hintergrund des „selbstlosen“ Einsatzes des jungen PG. Franz hatte zehn Jahre ehrenamtlich gearbeitet, sobald es aber Geld dafür gab, wurde er abserviert. Einmal mehr dachte er sich „Wenn das der Führer wüsste...“

Doch auch das Misstrauen vor dem Parteiapparat wuchs. Ein Beispiel dafür: Karl, einer der Söhne von Franz, war zur Wehrmacht eingezogen worden. Am übernächsten Tag klopfte es abends um elf an den Rollladen (das Tor war abgeschlossen und außen gab es keine Klingel). Frieda öffnete den Laden und sagte: „Das ist ja der Karl!“ Darauf Franz: „Schnell holt ihn rein, seid leise, Licht aus, das darf keiner merken.“

Er nahm an, dass sein Sohn bereits am zweiten Tag desertiert war und wollte ihn verstecken, damit er nicht vor´s Kriegsgericht kam. Meine Mutter berichtete, allein schon das Klopfen hätte alle alarmiert, es hätte ja auch die Gestapo sein können. Dies zeigt, welche Angst selbst überzeugte PGs inzwischen vor dem Nazisystem hatten. Es stellte sich jedoch heraus, dass Karl keineswegs desertiert war. Vielmehr hatte der Offziersstab davon gehört, dass Karl kein anderer als der Zauberer „Gutelli“ war, und man hatte ihn heimgeschickt, seine Zauberutensilien zu holen, damit er in der Offiziersmesse eine Vorstellung geben konnte.

Im Laufe des Krieges wurde Franz immer verbitterter. Er, der Pazifist, hatte sich für Hitlers Partei eingesetzt, weil er der Meinung war, dass ein kleiner Gefreiter niemals einen Krieg führen würde. Zunächst hatte er sich noch in die verblendete Sichtweise geflüchtet, „der Krieg sei Deutschland aufgezwungen worden“. Jedoch wurde im Verlauf des Krieges immer klarer, wie menschenverachtend das Naziregime nicht nur mit seinen Gegnern, sondern auch mit dem deutschen Volk umging. Um sich nicht eingestehen zu müssen, dass er des Teufels williger Lakai war, versuchte Franz, dies zu verdrängen, nicht zuletzt durch übermäßigen Alkoholgenuss. Schließlich war seine Leber so angegriffen, dass er ein striktes Alkoholverbot einhalten musste. Er wurde immer verbitterter.

Bei Kriegsende wurde Großauheim von der US-Army besetzt. Ben, Franz´ jüngster Sohn, entfernte alles Verdächtige, zum Beispiel das 40 qm große Hitlerbild, das bei besonderen Veranstaltungen am Hause hing. Meine Mutter hatte schon aus der Hakenkreuzflagge den weißen Aufnäher mit dem Parteiemblem entfernt und sich aus dem roten Stoff ein Kleid genäht. Jetzt wurden auch von Ben zwei der vier Bilder über dem Klavier entfernt, von Franz´ Lieblingen. Goethe und Beethoven durfte bleiben. Hitler musste weg. Und auch der Dalai Lama – der sah asiatisch aus und konnte von einem ungebildeten GI für den japanischen Kaiser gehalten werden, so Bens Befürchtung.

Und dann war da die Sache mit der Spruchkammer. Die Spruchkammer war eine Einrichtung zur Entnazifizierung. Laut Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus, das in der US-Zone galt, stellte die Spruchkammer fest, inwieweit Personen, die als möglicherweise belastet galten, eine Mitschuld an den Naziverbrechen hatten. Die Spruchkammer teilte diese Personen in fünf Stufen ein: (1) Hauptschuldige, (2) Belastete, (3) Minderbelastete, (4) Mitläufer und (5) Entlastete. Natürlich wollte jeder möglichst in Stufe 5 eingeordnet werden. Heinz, der gerade begonnen hatte Jura zu studieren, versuchte Franz klar zu machen, was er zu sagen hätte. Franz willigte ein, wohl aber in erster Linie, um von Heinz nicht weiter bearbeitet zu werden. Franz konnte nämlich manchmal ganz schön bockig sein, oder wie das heute heißt: beratungsresistent. Eben mein Großvater.

Heinz schildert den Verlaufs des Spruchkammerverfahrens so:

Vorsitzender: „Herr Gutmann, sie waren Nationalsozialist, sie waren Mitglied der NSDAP und sie waren Ortsgruppenleiter der Ortsgruppe Großauheim der NSDAP, ist das richtig?“ Franz nickt.

Vorsitzender: „Seit wann waren sie Mitglied der NSDAP?“

F: „Seit 1927.“ Geraune im Zuschauerraum. Damals war die NSDAP noch eine Splitterpartei, nur wenige besonders überzeugte Nazis gehörten der Partei damals schon an. Die Partei hatte Anfang 1927 ganze 50.000 Mitglieder (zum Vergleich: im Mai 1933: 3.900.000).

V: „Seit 1927. Aha. Und bis wann waren sie Nazi?“ - Franz schweigt.

V: „Herr Gutmann, sie sind hier auskunftspflichtig. Noch einmal: bis wann waren sie Nationalsozialist?“

F. schweigt zunächst, dann: „Bis zum heutigen Tag, Herr Vorsitzender!“ Unruhe im Publikum.

V: „Erstaunlich. Das hatten wir hier auch noch nicht. Sie bekennen sich weiter zum Nationalsozialismus?“

F: „Selbstverständlich.“ (mein Vater schlägt entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen)

V: „Herr Gutmann, sind sie oder waren sie denn dann auch Antisemit?“

F: „Anti...was?“

V: „Herr Gutmann, hatten sie auch etwas gegen die Juden?“

F: „Ja, Herr Vorsitzender.“ Ungläubiges Kopfschütteln in Publikum: zu so etwas bekannte man sich doch heute nicht mehr!

V: „Wie äußerte sich das?“

F: „Ich konnt die Judde halt aach net leide.“

V: „Hatten sie denn überhaupt etwas mit Juden zu tun?“

F: „Klaa, Herr Vorsitzendä, die sinn ja all zu mir zur Zaa-Behandlung komme.“

V: „Herr Gutmann, wie kann denn das sein? Es gab in Großauheim drei Dentisten. Sie waren Ortsgruppenleiter der Nazis – und da sollen die Juden ausgerechnet alle zu ihnen gekommen sein?“

F: „Ei ja, freilich, die Judde sinn all zu mir komme, die Annern hawwe se ja net behandelt.“

V: „Und sie als Nazi haben die Juden behandelt?“

F: „Awwer sicher, Herr Vorsitzendä, wann aans kimmt unn hat Zaaschmerze, kann ich doch den ame Kerl net fortschicke, dem muss doch aaner helfe.“

Auf diese Art ging es einige Zeit weiter, das Gericht schien sich eine Meinung gebildet zu haben und wollte gerade die Beweisaufnahme schließen, da melde sich aus den Zuschauereihen ein Mann zu Wort: „Herr Vorsitzender, ich kann ihnen einiges über den Dentisten, Herrn Gutmann, erzählen!“

V: „Treten sie vor. - Zunächst einige Angaben zur Personen: Wer sind sie und waren sie auch politisch tätig?“

Der Zeuge: „Herr Vorsitzender, mein Name ist Rübsam, Lehrer Rübsam. Ich war bis 1933 Leiter der Freien Schule in Großauheim und Vorsitzender der Kommunistischen Partei im Ort. 1933 wurde ich aus politischen Gründen aus dem Schuldienst entfernt. Einige Zeit später kam ich ins KZ. 1945 wurde ich dann von den alliierten Streitkräften befreit.“

V: „Und sie kennen Franz Gutmann gut genug, um über ihn aussagen zu können?“

Zeuge: „Ja, Herr Vorsitzender, ich wohnte nur 50 m von Herrn Gutmann entfernt, außerdem war ich regelmäßig bei ihm in Zahnbehandlung. Und wir haben auch oft genug politisch diskutiert.“

V: „Das ist interessant, der Kommunist und der Nazi beim Meinungsaustausch. Was können sie uns denn über die politischen Positionen des Franz Gutmann sagen?“

R: „Franz Gutmann war Pazifist. Er war nur in der falschen Partei. Herr Gutmann hat hier ausgesagt, dass er seine politische Meinung nicht geändert habe. Das ist sicher richtig. Das ist auch gar nicht nötig. Herr Gutmann war niemals Nazi. Er war im Grunde seines Herzens immer Sozialdemokrat. Er hat es nur leider nicht gewusst.“

Die Spruchkammer stufte Franz als Mitläufer ein. Er wurde nicht inhaftert, erhielt aber Berufsverbot. Franz war verbittert. Immer mehr Details aus der Nazizeit drangen an sein Ohr. Er musste sich eingestehen, dass er sich zum nützlichen Idioten für das hatte machen lassen, was er nie wollte: Unterdrückung und Krieg. Er resignierte. Er wollte nicht mehr. Selbst die Flucht in den Alkohol war ihm wegen seines Leberleidens verwehrt. Er saß jetzt viel im Sessel und reflektierte sein Leben. Am Faschingssamstag des Jahres 1953 stand er auf, zog seinen Mantel über und setzte seinen Hut auf.

Franz, wo gehst du denn hin?“ frug seine Frau ihn.

Ich geh jetzt zum Fasching, Frieda. Aschermittwoch iss alles vorbei. Du werst´s ja sehn.“ Sprach´s und ging zur Tür hinaus. Am Abend kam er nicht nach Haus. Am Sonntag hörte Frieda, Franz sei wieder fröhlich und – naja – angetrunken gewesen, alles wie früher, wie vor dem Krieg. Doch auch am Sonntag kam er nicht nach Haus. Am Rosenmontag hörte Frieda von anderen: „Ja, de Franz, der is endlich widder ganz de Alde, wie vorm Kriech. Wurd awwer aach Zeit!“

Am Faschingsdienstag abends brachten ihn Freunde in einer Waschbütte total betrunken nach Hause.

Am Aschermittwoch war alles vorbei.

Franz Gutmann, das war für mich immer das Grab auf dem alten Friedhof, zu dem mich meine Großmutter mitnahm, um frische Blumen hinzustellen. Und es dauerte fast ein halbes Jahrhundert, bis ich Franz erstmals bewusst von Angesicht zu Angesicht sah. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, eine ganz andere Szene meines Lebens (vgl. Szene 50).

Es folgt noch die Mietabrechnung vom 12. Dezember 1923


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