Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 2.1.2020

Szene 6 – Ein Paar wird sozialdemokratisch – 1948



Heinz und Ruth, meine späteren Eltern, waren ein Paar geworden, nachdem Ruth ihrem später Ehemann im Lazarett in Prag gesagt hatte, sie sei jetzt ganz für ihn da. Doch zunächst war Heinz zur Rehabilitation und zum Nachholen des Abitur in der Blindenschule in Marburg.

Anschließend zog er wieder zu seiner Mutter in die Großauheimer Rauschsiedlung. Ruth wohnte wieder in ihrem Elternhaus im Großauheimer Auwanneweg, nachdem es von den Amerikanern freigegeben worden war. Diese hatten die moderner eingerichteten Häuser Großauheims als Offizierswohnungen requiriert. Da das Haus, das Ruths Eltern, Franz und Frieda, im Jahr 1930 gebaut hatten, sowohl über eine Etagenheizung als auch über WCs, damals in Deutschland noch keineswegs Standard, und über Bäder verfügten, musste das Haus im Jahr 1945 vorübergehend an die amerikanischen Besatzungstruppen abgegeben werden. In dieser Zeit wurde die Familie auf Anordnung der amerikanischen Verwaltung im Haus gegenüber einquartiert. Da überall Wohnraum fehlte, das nahe Hanau war zu mehr als 90 % zerstört und Deutschland wurde von einer Flüchtlingswelle aus den ehemaligen Ostgebieten, also aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern, den ehemaligen Reichsgebieten, die an Polen bzw. die Sowjetunion abgetreten wurden, überschwemmt.

Die Wohnraumbewirtschaftung hielt auch noch an, nachdem die amerikanischen Besatzer das Haus im Auwanneweg wieder freigegeben hatten. In dem Haus gab es drei Wohnungen. Im Erdgeschoss war von der Wohnraumsbewirtschaftung, die inzwischen wieder in deutscher Hand lag, eine Familie einquartiert worden, im 1. Obergeschoss drängte sich Ruths Familie, damals bestehend aus ihrem Vater Franz, ihrer Mutter Frieda, ihrem Bruder Ben und eben Ruth. Das wäre für eine vierköpfige Familie, bei der alle Familienmitglieder erwachsen waren, damals durchaus üppig gewesen, immerhin 84 m². Allerdings waren Franz und sein Sohn Ben Dentisten und in dieser Wohnung gab es also auch das Sprechzimmer. Der Flur diente als Wartezimmer, und ein Bad gab es auch nicht, denn zuvor, bis zum Kriegsende, bewohnte die Familie auch noch die Mansardenwohnung, wo es ein Bad gab. Der Raum, der in der Wohnung sehr viel später einmal ein Bad werden sollte, war vielmehr jetzt die „Technik“, also der Raum, indem die Dentisten ihre handwerkliche Arbeit verrichteten, zum Beispiel Gebisse, Zahnspangen oder Brücken erstellten, denn die Berufe des Zahnarztes und des Zahntechnikers waren damals noch nicht getrennt. Mithin blieben also nur drei kleine Zimmer mit insgesamt 45 m² für die vier erwachsenen Personen.

Ruth wurde bei der Gemeindeverwaltung vorstellig und wollte dort beantragen, dass die 42 m² große Mansardenwohnung, bestehend aus einem Bad, einer kleinen Küche und zwei Zimmern, alle mit schrägen Wänden, denn das Haus hatte ein Walmdach, auch zur Nutzung für die Familie freigegeben würde, immerhin musste sich die 26jährige Ruth damals ihr Zimmer mit ihrem 30jährigen Bruder teilen.

Gar nicht daran zu denken,“ teilte man ihr bei der Gemeindeverwaltung mit, „da sind unsere Bestimmungen leider ganz eindeutig. Klar wenn Sie oder ihr Bruder verheiratet wären, das wäre etwas ganz anderes, dann könnte Ihnen diese Wohnung zugeteilt werden.“

Gut,“ sagte Ruth, die eine Frau rascher Entschlüsse war, „wo kann ich ein Aufgebot bestellen?“

Das können sie gleich hier bei mir erledigen,“ sagte der Verwaltungsbeamte mit einem leichten Stirnrunzeln und reichte ihr das entsprechende Formular. Ruth füllte das Aufgebotsformular, mit dem eine bevorstehende Eheschließung eine Woche lang durch öffentlichen Aushang angekündigt werden musste, sofort aus und unterschrieb es.

Moment einmal, so geht das nicht, ihr künftiger Ehemann, also ihr Verlobter, muss natürlich auch unterschreiben.“ Der Einwand des Verwaltungsbeamter war logisch, denn schließlich war sie allein zugegen, ohne Heinz, aber der Amtmann hatte nicht mit der resoluten Entscheidungsfreude meiner Mutter gerechnet.

Da schauen, sie doch, Heinz hat auch unterschrieben. Wenn sie das Formular meinem blinden Freund zeigen, wird er ihnen gern bestätigen, dass er die Unterschrift eigenhändig geleistet hat.“

Gut, dass sie nicht Offizier der Wehrmacht waren,“ sagte der Beamte, „mit Leuten wie Ihnen hätten wir womöglich den Krieg gewonnen!“ Ruth nahm das als Anerkennung an.

Am Abend saßen Ruth und Heinz in seinem Elternhaus beieinander und sprachen über die Organisation von Heinz´ Jurastudium. Ruth wollte sich gerade verabschieden, da fiel ihr noch etwas ein: „Ach so, Heinz, beinah´ hätte ich es vergessen, am nächsten Freitag heiraten wir.“ Heinz verschlug es die Sprache. Ruth nahm das Schweigen zum Anlass, den Hintergrund zu erläutern.

Ich glaube“, sagte Heinz, „ich werde der einzige verheiratete Mann in Deutschland sein, der weder jemals einen Heiratsantrag gemacht hat, noch überhaupt gefragt wurde, ob und wen er heiraten möchte.“ „Unter Kaufleuten“, sagte die kaufmännische Angestellte Ruth, „gilt Schweigen als Zustimmung.“ Unter Buddhisten übrigens auch. Mit etwas Phantasie könnte man dies also als erste Eheschließung nach buddhistischen Ritual in der Geschichte Großauheims ansehen.

Wie studiert man als Blinder in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Frankfurt Jura, also in einer Zeit in der es keine auditiven Medien gab, wo die Vorlesung des Professors und die Mitschrift der Studenten das wichtigste Medium waren, abgesehen natürlich vom Studium der Gesetzestexte und -kommentare, die selbstverständlich alle nicht in Blindenschrift vorlagen? Eigentlich ist das gar nicht möglich.

Als Wirtschaftwissenschaftler würde ich hingegen antworten: durch outsourcing! Und genau das tat das junge Paar. Beide besuchten gemeinsam die Uni. Heinz hatte inzwischen das Abitur der Blindenschule in Marburg, die bisherige kfm. Angestellte Ruth war gut im Stenographieren und Maschinenschreiben. Also sourcte Heinz diese Tätigkeiten out: Ruth notierte die wichtigsten Inhalte der Vorlesungen, übertrug zuhause alles in Maschinenschrift und sorgte für eine übersichtlich Ablage.

Die Übungen der einzelnen Rechtsfälle erfolgte so: Ruth las den Fall vor, Heinz sagte, wo in den Unterlagen, den Gesetzestexten und -kommentaren Ruth nachschlagen sollte. Diese las ihm das Gewünschte vor. Dann diktierte ihr Heinz die juristischen Überlegungen und die daraus zu ziehenden Schlüsse.

Ähnlich wurde auch bei den Klausuren vorgegangen, wobei die beiden zur Klausur in einen Extraraum unter Aufsicht des Assistenten des Professors gesetzt wurden. Zuvor wurden sie noch nach möglicherweise illegalen Unterlagen wie Spickzetteln durchsucht. „Sogar das Frühstücksbrot mussten wir aufklappen, damit kontrolliert werden konnte, ob unter der Wurst möglicherweise etwas versteckt worden war“, berichtete mir meine Mutter später.

Frankfurt liegt 25 km von Großauheim entfernt. Anfangs war der Zugverkehr noch unregelmäßig, zu viele Waggons waren zerstört, zu wenige Lokomotiven hatten den Krieg überstanden. Daher nahmen Heinz und Ruth, jetzt da sie verheiratet waren, ein kleines Zimmer im Dachgeschoss eines Hauses in der Frankfurter Jordanstraße, direkt bei der Uni. Das Zimmer war so klein, dass man sich zum Schreiben auf´s Bett setzen musste, die Betten standen hintereinander. (Dennoch muss es irgendwie gelungen sein, mich in der Weihnachtsnacht 1950 zu zeugen.) Vermutlich waren die beiden da jedoch gar nicht in der Jordanstraße, sondern in Großauheim. Regelmäßig am Ende der Woche fuhren sie übers Wochenende nämlich mit dem Fahrrad zurück nach Großauheim.

Das Radfahren war toll“, berichtete mir meine Mutter. „Meist ging es am Main entlang und es war wunderschön. Wir hatten ein Tandem mit eindeutiger Arbeitsteilung. Ich durfte lenken und bremsen, Heinz musste strampeln!“ Wie eben die Arbeitsteilung in einer Ehe so ist...

Was hat das alles mit der Überschrift dieser Szene zu tun?“ könnte eine aufmerksame Leserin jetzt eine naheliegende Frage formulieren. Da war doch bislang überhaupt nicht von Politik, geschweige denn von Parteipolitik die Rede! Richtig! Aber jetzt:

Beide hatten in der Tat bis dahin nichts mit Parteipolitik zu tun. Ruth war zehn, Heinz dreizehn Jahre alt, als die Nazidiktatur errichtet wurde. Klar, Heinz war als Junge pflichtgemäß in die HJ gegangen, Ruth zum BDM, das war damals so. Unmittelbar nach dem Krieg gab es für die beiden völlig andere Probleme als sich politisch zu engagieren, obwohl beiden klar war, dass man sich für eine sichere Zukunft würde einsetzen müssen, also: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg! Und beide hatten bei den ersten freien Wahlen mehr aus dem Bauch heraus entschieden, wo sie Kreuz machen sollten, und kamen zu dem Ergebnis, dass „Christlich Demokratische Union“ am solidesten klang.

Doch an ihrem ersten Tag in der Frankfurter Uni hatten die beiden ein einscheidendes Erlebnis, das ihre politische Orientierung prägte. Stolz war das junge Paar in der Uni erschienen, immatrikulierte Heinz, assistiert von Ruth, im Sekretariat. Da kam aus dem Nebenzimmer der damalige Rektor der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt, musterte den blinden Heinz kurz und fuhr ihn an: „Was wollen Sie denn hier? Die Universität ist doch keine Krüppelanstalt!“ Heinz und Ruth gefror das Blut in den Adern. Da war er wieder, dieser kalte, barbarische Kommandoton aus der Nazizeit. Man konnte förmlich riechen, dass hier ein Herrenmensch lebensunwertes Leben witterte, ein Problem, das man unter den Nazis rasch und effizient auslöschte.

Heinz zitterte am ganzen Körper. Er wusste nicht, wem diese Stimme gehörte. Aber es war die Stimme der Vergangenheit, die Stimme des mörderischen Tausendjährigen Reiches, die bereits wieder im Nachkriegsdeutschland erklang. („Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, schrieb Bert Brecht im „Aufhaltsamen Aufstieg des Artturo Ui“, meinem Lieblingsstück zu Schülerzeiten.)

Als der Rektor das Sekretariat verlassen hatte, sagten ihm die Sekretärinnen, wer dieser Mann war. Es war Prof. Dr. Walter Hallstein, ein Freund Konrad Adenauers. Adenauer sandte ihn wenig später zur neugegründeten europäischen Montanunion. Nach Gründung der EWG, dem Vorläufer der Europäischen Union, wurde Hallstein – Erfinder der berüchtigten Hallstein-Doktrin – erster Präsident der Europäischen Kommission. Als er dort nicht mehr zu halten war, wurde der CDU-Politiker Minister im Kabinett Adenauer.

Wenn das, was sie da gehört hatten, die Stimme der CDU war, so waren sich Heinz und Ruth einig, dann sei es Zeit, in die SPD einzutreten, um ein solidarisches Deutschland zu schaffen, frei vom Ungeist der Nazizeit. Zurück nach Großauheim gekommen, traten beide unverzüglich der SPD bei. Heinz wurde alsbald SPD-Gemeindevertreter in der damaligen Gemeinde Großauheim. Nachdem Großauheim 1956 zur Stadt geworden war, wurde er als Stadtrat im Magistrat der Stadt Großauheim für Bauwesen zuständig, Ruth wurde Stadtverordnete. Beide engagierten sich im Kampf gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands und in der Kampagne gegen den Atomtod.

Ruth hatte auch schon einen Plan, wie es weitergehen soll: Heinz sollte für den Bundestag kandidieren und in der ersten sozialdemokratischen Regierung Deutschlands als Justizminister die Säuberung der Justiz von braunem Gedankengut durchführen. Ob dieser Plan der resoluten Ruth jemals hätte durchgesetzt werden können, ist wohl doch sicher sehr fraglich. Heinz starb 1958. Er hat bei der Bundestagswahl 1957, als Adenauer die absolute Mehrheit gewann, für die SPD auf der hessischen Landesliste kandidiert. Wegen des guten Ergebnisses der CDU verfehlte er knapp den unmittelbaren Einzug in den Bundestag. Anfang 1959 wäre er als Nachrücker für einen verstorbenen Abgeordneten in den Bundestag eingezogen.

Heinz hat das Godesberger Programm der SPD, mit dem diese Partei nach rechts rückte, nicht mehr miterlebt. Ruth hat es zähneknirschend zur Kenntnis genommen. Sie trat dann aber 1967 aus Protest gegen die Notstandgesetze aus der SPD aus. Ruth damals: „Eben ist das Maß voll! Und der Helmuts Schmidt hat sich in der Bundestagsdebatte auch noch über uns besorgten Bürger lustig gemacht. Entsetzlich!“

Heinz und Ruth engagierten sich politisch gegen Krieg und Ungerechtigkeit, gegen die Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung und für die Völkerverständigung. Ihr Engagement zum Wohl aller Menschen ist eine der Ideen, die ich mit der Muttermilch aufgesogen habe und die mein Denken, Leben und Handeln bestimmen. Dafür (und für unendlich vieles mehr) bin ich meinen Eltern äußerst dankbar.

Arsch

Das Bild zeigt Walter Hallstein (links) bei der Verleihung des Kubanischen Ehrenordens
(1957 zur Zeit der Batista-Diktatur in Kuba)


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