Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad... – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 17. Dezember 2019

Szene 3 – Pilze - 1957



Es muss im Jahre 1957 gewesen sein, ich ging noch nicht zur Schule. Inzwischen hatte mein Vater – dank der schrittweisen Herabsetzung von der 44-Stunden-Woche auf die 40-Stunden-Woche – samstags weniger zu arbeiten. Im letzten Jahr kamen neben den fünf Arbeitstagen montags bis freitags zu je acht Arbeitsstunden noch samstags vier Arbeitsstunden dazu, also ein halber Arbeitstag, das gab 44 Arbeitstsunden. In zwei Jahren sollte es eine 40-Stunden-Woche an nur noch fünf Arbeitstagen geben. In diesem Jahr wurde als Übergangslösung 42 Stunden pro Woche gearbeitet. Jeder zweite Samstag war für meinen Vater, einen Beamten bei der Oberpostdirektion Frankfurt, frei. An den anderen Samstagen wurde noch vier Stunden gearbeitet.

Heute war ein freier Samstag, daher hatte mein Papa ganz viel Zeit für mich! „Samstag gehört Vati mir!“ war die Forderung des DGB am 1. Mai 1954, dem Kampftag der Arbeiterbewegung, und dieser Samstag war ein solcher von den Gewerkschaften erkämpfter Tag für Vati und mich! So gingen wir in den Wald. Der Wald begann ungefähr anderthalb Kilometer von unserem Haus in Großauheim entfernt. Wir gingen zunächst den Auwanneweg entlang, die Staße in der wir lebten. Mein Vater wie üblich auf der linken Seite, dicht bei den Häusern, die er mit seinem Bambusstöckchen ertastete. Mein Vater war blind. Aber wir waren ein eingespieltes Team. Ich sagte meinem Vater, was ich sah und frug alles Mögliche, zum Beispiel, was denn das für ein Autotyp sei. Mein Vater ließ mich das Auto genau beschreiben, frug an zwei, drei Stellen nach, zum Beispiel: „Wo sitzen die vorderen Blinklichter für´s Abbiegen?“ Ich antwortete: „Auf den Kotflügeln und da ist so ein komisches silbernes Metallding drüber.“

Na, dann kann es nur ein Borgward sein, ist es so einer mit zwei verschieden farbigen Lackierungen?“ - „Ja, Papa, und die Reifen sind auch verschiedenfarbig, schwarz und weiß!“ - „Du meinst eine weiße Verzierung an der Seite der Reifen um die Radkappen, gell Horst? - Das nennt man Weißwandreifen.“ So unterhielt ich mich mit meinem Vater, und er gewöhnte mich auf diese Weise an möglichst exaktes Formulieren – und daran, die Dinge ztu sehen, wie sie sind, und benennen zu können, wie sie eben sind. Im Beruf meines Vaters musste man exakt formulieren, er war Jurist. Und ich war sein gelehriger Schüler. So lehrte mich mein Vater Achtsamkeitsübungen: „Du kannst sehen, Horst, du hast Augen. Das ist ein großer Vorteil, den ich zum Beispiel nicht mehr habe, aber du musst genau hinsehen, um die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.“

Nach dem Ende des Auwanneweges, einer Wohnstraße mit holprigem Kopfsteinpflaster, kamen wir in den Spitzenweg, der aus Großauheim herausführte Richtung Wald. Jetzt waren keine Häuser mehr da, an denen mein Vater sich den Weg ertasten konnte. Aber wir gingen Hand in Hand und ich warnte ihn vor herumliegenden Gegenständen: „Achtung Papa, in drei Schritten liegt links ein Ast.“ Und wieder bekam ich ein Lob für meine exakte Beschreibung.

Im Wald sagte ich meinem Vater, wo immer ein Weg, eine Kreuzung, ein Abzweig auftauchte, und mein Vater, der eine genaue Landkarte im Kopf zu haben schien, entschied, wo wir weiter gehen sollten. Ich lernte auch die Himmelsrichtungen erkennen – dank des Sonnenstandes und der Taschenuhr. Mein Vater, der die Sonne auf der Haut spürte, fühlte zum Beispiel auf seiner Spezialtaschenuhr für Blinde, dass es kurz vor zwei Uhr nachmittags war. Dann sagte er mir, ich solle von ihm aus genau im Schatten stehen und etwas sagen, so konnte er hören, in welcher Richtung ich stand. Da die Sonne um zwei Uhr nachmittags im Süd-Süd-Westen stand, stand ich also jetzt nord-nord-östlich von ihm. Da wir nach Südosten wollten, konnte er genau bestimmen, in welche Richtung es weitergehen musste.

An diesem Tag lenkte mich aber etwas ganz anderes ab: „Du, Papa, da sind ganz, ganz viele Pilze!“ „Wie sehen sie denn aus Horst?“ und nun beschrieb ich meinem Vater jeden einzelnen Pilz ganz genau, die Farbe, die Größe, ob der Pilz unten Lamellen hat oder nicht usw. Mein Vater entschied dann, was das für einer war. „Das ist ein Fliegenpilz, den lassen wir stehen, der sieht hübsch aus, ist aber giftig.“ - „Vorsicht Horst, den fasst du besser gar nicht an, das ist der weiße Knollenblätterpilz, der ist tödlich giftig.“ - „Das muss entweder ein Butter- oder ein Steinpilz sein, den kannst du pflücken.“ Mein Vater nahm sein Taschenmesser heraus, schnitt ein kleines Stück ab und kostete davon. „Ja, Horst, ein Steinpilz, den nehmen wir mit.“ Ich hatte ein kleines Körbchen dabei, da kam er herein. Und weiter ging es. „Nein, Horst, das ist eine Teufelszigarre, und nach der Färbung, die du genannt hast, schon eine ziemlich alte. Tritt doch einmal drauf.“ -"Hej, Papa, da kommt ja so was Schwarzes wie Rauch raus!“ „Na klar, Horst, deshalb heißt er ja Teufelszigarre.“

Korb

Bald war mein Körbchen voll mit lauter leckeren Pilzen: Pfifferlingen, Steinpilzen, Butterpilzen, Gutem Reizker und, und, und. (Das Bild zeigt meinen Vater und ich mit einem Körbchen voller Leckereien!) Stolz brachte ich das Körbchen nach Hause: „Mama, heute kannst du uns ein leckeres Pilzgericht machen!“

Aber Mama machte uns kein Pilzgericht. „Soweit kommt´s noch: ein fünfjähriger Knirps und ein blinder Mann sammeln zusammen Pilze!“ ereiferte sie sich und warf die Arbeit des Vormittags weg.

Ich war furchtbar sauer, die Mama war heute so was von gemein...


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