Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad... – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 17. Dezember 2019

Szene 1 – Diogenes und der Mensch - 1956



Es muss im Jahre 1956 gewesen sein, vielleicht aber auch schon 1957, ich war damals ungefähr fünf Jahre alt, und ich war krank. Wie immer, wenn das der Fall war, war mir im Wohnzimmer auf dem Sofa, das war so eine Klappcouch, wie sie in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Mode war, von meiner Mutter ein Krankenlager gebaut worden. Damit es mir nicht zu langweilig wurde, hatte ich einige Bilderbücher mit in mein Krankenbettchen bekommen, und außerdem war der Radioapparat angeschaltet. Aber die Tanzlieder der fünfziger Jahre waren nicht das, was das Herz eines fünfjährigen Knaben höher schlagen ließ, und auch die Bilderbücher kannte ich nun wirklich zur Genüge.

Hin und wieder sah meine Mutter nach mir, ansonsten arbeitete sie, wie sich das damals für Mütter und Hausfrauen gehörte, in der Küche. Weiß der Himmel, was Mütter da nur immer machen müssen, aber es musste wohl eine ganze Menge sein, denn Mama hatte viiiiiiiiiiel zu wenig Zeit für mich, fand ich. Als meine Mama jedoch wieder mein Krankenzimmer betrat, bat ich, wie so oft: „Du, Mama, erzähl´ mir doch eine Geschichte.“ Für´s Märchenerzählen war eigentlich mein Papa zuständig, aber da weder Sonntag noch Abend war, war der natürlich nicht zuhause, sondern auf der Oberpostdirektion, wo er als Justitiar arbeitete. Diesmal jedoch hatte ich Glück, Mutter war willens, mir eine Geschichte zu erzählen. Sie setzte sich auf mein Bettchen und ich mummelte mich behaglich in meine Federdecke. Es ist ja sooooo schön, wenn man von seiner Mama eine Geschichte erzählt bekommt!

Es war diesmal eine Geschichte aus der griechischen Antike von einem Weisen namens Diogenes, den kannte ich schon aus anderen Geschichten, die mir meine Mama bei früheren Anlässen erzählt hatte. Meine Mama kannte viele interessante historische Geschichten. Diogenes war völlig besitzlos – und glücklich. Er hatte nichts, als das, was er auf dem Leib trug, und er ernährte sich von dem, was er geschenkt bekam oder fand. Insofern lebte er so ähnlich wie der Buddha, aber das wusste ich damals natürlich noch nicht. Diogenes hatte auch (wie der Buddha) keine Wohnung und kein Haus. Diogenes schlief in einem alten Weinfass, das niemand mehr brauchte und das daher am Straßenrand lag.

Und eines Tages ging Diogenes mitten in die Stadt Sinope und dort auf den Marktplatz, so erzählte mir meine Mama. Jemand hatte ihm eine Laterne geschenkt, damit er auch bei Dunkelheit noch spazieren gehen und hinterher wieder sein Weinfass finden konnte. Nun hätte man denken können, dass Diogenes sparsam mit der Kerze, die in der Laterne drin war, umging, denn woher hätte er eine neue nehmen sollen, wenn die alte abgebrannt war? Er hatte schließlich keine Geld, um sich eine zu kaufen. Aber das focht den Diogenes nicht an. Er ging vielmehr mitten am helllichten Tage auf den Marktplatz – mit seiner Laterne, die Kerze darin angezündet.

Aber Diogenes, was machst du denn am helllichten Tage hier mit der Laterne?“, so frug man ihn dort.

Ich suche etwas“, sagte der alte Weise, „und das ist sehr schwer zu finden.“

Da erboten sich ihm hilfsbereite Leute an: „Können wir dir helfen, Diogenes, was suchst du denn?“

Nein, liebe Leute, dabei könnt ihr mir leider nicht helfen. Wisst ihr, ich suche einen Menschen – und die sind sehr rar.“

Da wunderten sich die Leute sehr: „Wie, Diogenes, einen Menschen? Keinen bestimmten, irgendeinen? Aber schau doch nur: der ganze Marktplatz ist voll davon!“

Nein, nein“, antwortete da Diogenes, „ihr versteht mich nicht, das hier sind doch alles nur Leute. Was ich wirklich suche, ist ein Mensch, ein WAHRER Mensch!“

Weißt du, Horst,“ sagte meine Mutter, „es langt nicht, dass man aussieht, wie ein Mensch, dass man zwei Arme und zwei Beine hat, das haben alle Leute. Ein wahrer Mensch muss sich auch verhalten wie ein Mensch. Und Mensch, das heißt in der alten Sprache Latein nämlich: homo sapiens, das bedeutet auf deutsch „der weise Mensch“. Und der Diogenes war so ein weiser Mensch. Wenn aber doch die anderen so ziemliche Dummerchen waren, eben nur „Leute“, mit wem solte sich dann der weise Diogenes vernünftig unterhalten können? Und eben deshalb suchte er einen Menschen, einen wahren Menschen.“

Ich blieb mit fragendem Staunen in meinem Bettchen liegen, während meine Mutter wieder in die Küche ging. Ich lag wieder allein in meinem kleinen Bett, aber mir war keineswegs mehr langweilig. Ich brauchte auch keine Bilderbücher mehr und schon gar nicht mehr den blöden Radioapparat. Ich war gefesselt von Diogenes´ Weisheit! Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dalag oder vielleicht auch saß. In mir arbeitete es. Ich weiß auch nicht mehr, wie es in mir arbeitete. Möglicherweise habe ich an diesem Tag zum ersten Mal in meinem noch frischen Leben meditiert.

Ich weiß nur noch, dass am Ende dieser Reflexion, dieser Kontemplation, dieser Meditation, was es auch immer gewesen sein mag, ein Entschluss stand. Und dieser Entschluss war so stark, war ein so Vollkommener Entschluss, dass ich das Bedürfnis hatte, ihn der Welt mitzuteilen, und dass ich daher sogar ein strenges Verbot übertrat, das Verbot aus meinem Bettchen aufzustehen und barfuß durch die Wohnung zu laufen. Ich stieg also vom Sofa herunter, trippelte mit meinen kleinen nackten Füßchen durch die Wohnung in die Küche und verkündete dort stolz und voller Inbrunst: „Du, Mama, wenn ich groß bin, und wenn der Diogenes dann wieder mit seiner Laterne kommt, dann will ich, dass er mich sieht und erkennt: „Das ist ein Mensch!“

So tief sich der Entschluss damals auch in mein Herz eingebrannt hatte, ich muss dennoch zugeben, dass ich nicht von meinem fünften Lebensjahr bis heute, da ich 70 bin, pausenlos daran gearbeitet habe, mich auf die Begegnung mit Diogenes vorzubereiten. Tatsache ist vielmehr, dass ich diese Episode für lange Zeit meines Lebens nicht nur aus den Augen verloren, sondern schilcht vergessen hatte, oder besser: dass sie ins Unbewusste abgesackt war und dort wartete, bis die Zeit reif dafür war. Das war dann Anfang der neunziger Jahre der Fall. Inzwischen schien mich für lange Zeit weniger der Diogenes zu faszinieren, sondern eher das Weinfass. Doch zu der Sache mit dem Wein zu späterer Zeit mehr, wir werden ihm leider in allzu vielen Szenen wieder treffen.

Ich weiß nicht mehr, was der Anlass war, aber ich erinnerte mich zu Beginn der neunziger Jahre plötzlich wieder dieser Geschichte. Vermutlich war es einfach so, dass ich die Spielchen der Leute, also derer, die keine wahren Menschen in der Diogenes´schen Definition sind, lang genug mitgemacht hatte, und dass ich sie inzwischen satt hatte. Auf jeden Fall wollte ich jetzt wieder ein Mensch im Sinne von Diogenes sein. Und obwohl ich sicher noch weit davon entfernt war, von Diogenes als ein solcher erkannt zu werden, nahm ich diese Selbstverpflichtung an. Ich bezeichnete mich von Stund´ an als: „der Mensch“. Wenn ich also beispielsweise etwas zu meinen Kindern sagte, so hieß das jetzt nicht mehr: „Ich geh´ einkaufen“, sondern: „Der Mensch geht jetzt einkaufen!“

Und auch am Telefon, so stellte ich zu meiner Verwunderung fest, meldete ich mich nicht mehr mit meinem Namen, sondern mit: „Der Mensch!“ Das kann man nun für eine ziemliche Spinnerei, vielleicht auch für eine blöde Marotte halten, aber auf diese Weise verdeutlichte ich mir immer wieder mit meinem Denken und mit meinem Reden, wie ich handeln wollte. Und es zeigte Wirkung.

Es zeigte sogar Wirkung in einer Weise, die ich absolut nicht für möglich gehalten hatte. Ich, der seitdem ich erwachsen war, nichts mehr mit der Religion „am Hut hatte“, wie ich zu sagen pflegte, ertappte mich dabei, wie ich, wo immer ein einschlägiges Buch herumlag, darin zu blättern begann. Vielleicht suchte ich unbewusst darin einen Menschen. Ich hatte sogar in meinem Bücherschrank ein Buch über den Propheten Mohammed gefunden, das dort wohl seit zwanzig Jahren ungelesen herumstand und verstaubte. Nun las ich es und wusste dann: Nö, an dem wäre der Diogenes achtlos vorbei gegangen.

Doch dann geschah es. Ich fand ein herrenlos herumstehendes Buch mit dem Titel: „Die großen nichtchristlichen Religionen“. Also schaute ich hinein, las hier einen Abschnitt über das Judentum, dort einen über den Hinduismus und stieß schließlich auch auf einen Artikel über die Lehre des Buddha. Kaum hatte ich die „Vier Edlen Wahrheiten“ und den „Edlen Achtfältigen Pfad“ gelesen, zwei kurze Aufzählungen, die die allerwenigsten Leute irgendwie ansprechend finden würden, wenn sie diese zum ersten Mal lesen, da wusste ich: Das ist es! Der Buddha war ein wahrer Mensch. Da ist einer, den Diogenes gefunden hätte. Und das besonders Schöne: Buddha hat eine ganze Menge gelehrt. Ich fasste sofort unerschütterliches Vertauen in den Buddha und wusste – ich bin ein Buddhist! Und der Diogenes war sicher auch auf dem Weg zur Buddhaschaft. Mein erste Schritt auf dem Pfad zur Erleuchtung war gegangen, der Schritt von dukkha (dem Wissen um die Unvollkommenheit alles abhängig Entstandenen) zu sraddha (tiefem, unerschütterlichen Vertauen in die Lehre).

Ich möchte diesen einführenden Abschnitt nicht schließen, ohne einen Dank auszusprechen. Einen Dank an diejenigen, die mir geholfen haben, den Pfad, den ich seitdem gehe, zu finden: dem Diogenes nämlich, Sangharakshita und – meiner Mutter!


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